Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 114

Anders als sonst in den Psalmen üblich, findet sich in Psalm 114 keine direkte Anrede Gottes. Dies wird dadurch ausgeglichen, dass hier jeder Satz von der göttlich großen Wirkung spricht, die Seine Gegenwart in der Mitte Israels auf das Meer, auf die Berge, auf den Jordan, auf die Hügel und den Felsen ausübte. Vor der Majestät des Schöpfers weicht die Schöpfung zurück und gibt Ihm und Seinem Volk die Bahn frei. Was sich dem Menschen unüberwindlich in den Weg stellt, ist dem Allmächtigen wie von selbst dienstbar und somit ebenfalls dem Volk, das Er als dessen Bundesgott begleitete. Bei der Wanderung Israels von Ägypten nach Kanaan legte die von Gott geschaffene Natur vor vielen staunenden Beobachtern Zeugnis davon ab, dass der Allmächtige mit dem Zug des Volkes über diese Erde schritt. Durch alle Schwierigkeiten hindurch bereiteten die Schritte Gottes den ebenen, gut gangbaren Weg. Seine Gegenwart wurde Seinem Volk zur Rettung und führte es zum segensreichen Ziel. Sollten nicht alle, die eine solche Schilderung von übernatürlicher Rettung und Fürsorge hören oder lesen, ihr Leben diesem Gott Jakobs anvertrauen und den Weg wählen, auf dem der Schöpfer Selbst ihr Begleiter ist? Kann es Vorteilhafteres geben, als sich Ihm zu unterwerfen? (Jos 2,8–11). Das Meer, der Jordan und die Berge konnten sich zu den an sie gerichteten Fragen der Verse 5 und 6 nicht mit Worten äußern. Aber auf die Gegenwart und die Befehle ihres Schöpfers reagierten sie mit sofortigem Gehorsam. Die gleiche bedingungslose Anerkennung schuldet Ihm jedes Geschöpf.

Nicht nur in Worten, sondern vorwiegend durch Taten tritt Gott in diesem Psalm in Erscheinung. Dadurch offenbart Er Seine Macht als Herr über die Schöpfung und als Befreier Israels. Er beweist, dass Er als Herrscher über das Schicksal der Völker befindet und dass Er – für uns als Christen betrachtet – als ein gütiger Vater für Seine Kinder sorgt und sie an ein gutes Ziel bringt. In Ägypten war Israel zu einem zahlreichen Volk herangewachsen. Gott hatte es für alle Zukunft dazu erwählt, Sein geheiligtes Eigentum zu sein und als gehorsames Volk ein Beispiel Seiner Herrschaft auf der Erde abzugeben (Verse 1 und 2; 2. Mo 19,3–6; 5. Mo 27,9f; Ps 87,1–3; Mal 3,17). Dazu musste Israel zunächst aus der Knechtschaft Ägyptens befreit werden, denn unter einem erlösten Volk wollte der Herr wohnen (3. Mo 26,11–13). Das hilflose Israel musste der heidnischen Umgebung entrissen werden, um ein abgesondertes, heiliges Volk von Anbetern zu werden. Gott allein hatte über sie zu gebieten. Ihm allein sollten sie dienen. Darum musste die Fremdherrschaft ein Ende haben und Israel in das Land des HERRN umgesiedelt werden. Vordergründig verfolgte die Trennung von Ägypten ein praktisches Ziel, aber wichtiger waren die geistlichen Ergebnisse der Befreiung. Wo Gott herrscht, da ist Er immer der ausschließliche Alleinherrscher. Dort muss den Ansprüchen Seiner Heiligkeit Genüge geschehen, und nur Sein göttliches Recht hat dort Gültigkeit (Ps 29,9–11; 93,5; 96,6; Off 21,27). Zu dem „Haus Jakob“ (Vers 1) gehören Juda und Israel gleichermaßen, sie bilden ein einheitliches Haus. Ein gespaltenes, zerstrittenes Haus kann Gott und Seinem Geist nicht als Wohnung dienen. Nach der Heiligen Schrift bilden Sein Volk, Sein Heiligtum und Seine Herrschaft ein einheitliches Ganzes. Unter Seinem Geist und Wort müssen alle, die zum Volk gehören, in praktischer und in geistlicher Hinsicht eins sein, und dies wiederum in Übereinstimmung mit Ihm, ihrem Gebieter. Wenn die Einheit verlorengeht, kehrt Unordnung ein und das Ganze entartet. In der Folge wird Gott sich nicht mehr dazu bekennen und Seinen Segen verweigern (3. Mo 26,14–20).

Die Verse 3 und 4 berichten von dem ungewöhnlichen Verhalten des Meeres, des Jordanflusses und der Berge, als das Volk Israel nach seinem Auszug aus Ägypten sich ihnen näherte. Niemals zuvor oder danach haben Wasser und Berge so sichtbar ihre Abhängigkeit von Gott, dem Schöpfer bekundet und sich hilfsbereit gezeigt. Sie, die in der Regel eine Überquerung behindern oder sogar verhindern und zu weiten Umwegen zwingen, wandten sich sozusagen beim Anblick des Zuges zurück und flohen (2. Mo 14,21; Jos 3,14–17). Es war nicht ein zögerliches Zurückweichen, sondern ein rasches Zurückziehen; und unverzüglich war die notwendige Straße gebahnt. In Wirklichkeit war der Gott Israels der Wegbereiter, der hier gegenwärtig war und Sein Eigentumsvolk auf der Reise begleitete. Wer heute zum Volk Gottes gehört und Ihn und Seinen Sohn Jesus Christus anerkennt, geht an der Hand desselben Gottes einen durch Seine Liebe und Macht gebahnten Weg aus der Knechtschaft der Sünde und Satans durch die,Wüste' bis zur himmlischen Wohnung am „anderen Ufer“ – wobei im NT-Sinne die Errettung der Seele bereits abgeschlossen ist. Wie am Anfang und am Ende der beschwerlichen Reise Israels jede tödliche Gefahr aus dem Weg geräumt wurde, so hat Gott auch heute jedem, der Seiner Rettung vertraut, einen Weg bereitet, der mit Sicherheit zum himmlischen Ziel führt. Der Garant dafür ist Jesus Christus. Zur Verherrlichung Seiner Liebe und Macht begleitet und bewahrt Er Seine Erlösten damals wie heutzutage auch in den schwierigsten Umständen.

Die Verse 5 und 6 fragen das Meer, den Jordan und die Berge nach einer Begründung für ihr ungewöhnliches Verhalten (2. Mo 19,18). Doch deren beispiellose Reaktionen sprechen selbst eine deutliche Sprache. Sie lassen unmissverständlich klarwerden, dass der Schöpfer in nächster Nähe war und dass sie als das von Ihm Geschaffene sich selbstverständlich sofort Seinem Willen zu unterwerfen hatten. Durch ihre Haltung machten sie „das Unsichtbare von ihm“, „sowohl seine ewige Kraft als auch seine Göttlichkeit“ (Röm 1,20), anschaulich sichtbar. „Bei Gott sind alle Dinge möglich“ (Mk 10,27). Denn Himmel und Erde sind von Ihm geschaffen. „Nach deinen Verordnungen stehen sie heute da, denn alle Dinge dienen dir“ (Ps 119,90.91; Jes 48,13). Offenbar erkennt die Schöpfung ihre Abhängigkeit, sie zeigt eine gewisse ehrfurchtsvolle Scheu vor Dem, der sie geschaffen hat. Selbstherrliche Menschen dagegen haben diese natürliche Empfindung verloren und wagen es, sich Gott zu widersetzen und das Dasein des Schöpfers zu leugnen.

Erst in Vers 7 erwähnt der Psalmdichter den Herrn, den Gott Jakobs. Beschrieben hat er Ihn und die Majestät Seiner Gegenwart bereits in den vorhergehenden Versen, indem er auf das einzigartig Wunderbare Seines Wesens hinwies. Ihn zu erheben, fordert der Dichter nun die ganze Erde auf und mit ihr alle Menschen. Sein Aufruf gilt allen Gläubigen. Es ist ihre ständige Aufgabe, Gott mit Frömmigkeit und Furcht zu dienen (Heb 12,28). Einsichtsvolle Ehrerbietung kann Ihm am ehesten von den Anbetern entgegengebracht werden, die Ihn gut kennen und Ihn von Herzen lieben. Durch die in den Versen 3 bis 6 beschriebenen Ereignisse hat Er Sich auf eine überaus eindrucksvolle Weise offenbart. Als der HERR einst auf den Berg Sinai herabstieg und Mose die Gesetzestafeln übergab, bebte der ganze Berg sehr (2. Mo 19,18). „Die Berge erbebten vor dem HERRN, jener Sinai vor dem HERRN, dem Gott Israels“ (Ri 5,5). Ähnliches geschah, als der Herr Jesus am Kreuz starb und die Erde erbebte und die Felsen rissen (Mt 27,51). Die Einsetzung des Gesetzes und noch weit mehr der Tod des Herrn am Kreuz waren außergewöhnlich wichtige, Achtung gebietende Geschehnisse, die für die ganze Welt äußerst folgenreich sind (Jes 64,1.2). Darum fordert Gott die Bewohner der Erde eindringlich auf, sie nicht zu übersehen und ihre Botschaft zu Herzen zu nehmen. Im vorliegenden Psalm ist der HERR der Bundesgott Israels, der Gott Jakobs (Vers 7), der für Sein Volk eintritt. Während der 40jährigen Wüstenreise erwies Er Sich als ihr Erhalter, der sie in Treue und Barmherzigkeit begleitete und versorgte (Vers 8; 2. Mo 17; 4. Mo 20; Ps 78,15f; 105,40.41). Das von Menschen für unmöglich Gehaltene ermöglichte Er mit göttlicher Macht, die kein Hindernis kennt. Er führt aus dem Tod heraus ins Leben. Auch heute gilt: Wen nach göttlicher, vollkommener Wahrheit verlangt und wer im Glauben den Aussagen der Bibel vertraut, der wird sich in Ehrfurcht vor der Majestät Gottes niederbeugen, die Forderungen des Evangeliums anerkennen und sich dem Herrn für immer anvertrauen.

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