Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 36

Die verderbende Energie der Gottlosigkeit, die Macht der Sünde, steht in diesem Psalm der Fülle der Segnungen gegenüber, in denen die Kraft des Heiligen Geistes zur Wirkung kommt. Eine neutrale Haltung zwischen diesen äußerst gegensätzlichen Kraftquellen kann es nicht geben. Die Entscheidung entweder für die eine Seite oder für die andere wird zu irgendeinem Zeitpunkt hervortreten. Ein Leben, das sich nicht der Regierung des allein guten Gottes unterwerfen will, gerät unter die Herrschaft der Sünde und verfällt letztlich dem ewigen Verderben. In einem Herzen, dem die Gottesfurcht fehlt und das sich Gott nicht unterwerfen will (Vers 2), gelangt die Sünde zur Herrschaft. So steht es mit der vermeintlichen Freiheit eines Menschen, der glaubt, wirklich frei zu sein, nachdem er sich von Gott freigemacht hat. Ohne Gott ist er den Einflüsterungen der satanischen Mächte preisgegeben und bleibt ihnen in Verblendung und Selbsttäuschung ausgeliefert. Seine Gottlosigkeit wirkt sich aus in dem Hang zum Bösen (Vers 3), sie tritt zutage in üblen Vorhaben, in schlechten Wegen und verderbter Rede (Verse 4 und 5). Solche Leute kennen keine Verantwortung gegenüber Gott. Sie erkennen die richterliche Autorität Gottes und die moralische Autorität Seines Wortes nicht an und meinen, Ihm keine Rechenschaft schuldig zu sein. Gottesfurcht ist einem Gottlosen unbekannt (Ps 10,4; 14,1; Röm 3,12–18). Sein Verhalten steht unter dem Einfluss einer verderbten Quelle in ihm selbst. Das Verderbte in seinem Innern bringt unter ständigem Nachschub an Energie verderbte Gedanken hervor und sucht Gelegenheit, sie zu verwirklichen. Hemmungen werden beiseitegeschoben und abgelegt; „das Böse verabscheut er nicht“ (Vers 5). Der Drang, geplante Ungerechtigkeiten zur Tat werden zu lassen, wird häufig vom Hass gegenüber den Betroffenen geschürt. Einsprüche des Gewissens werden übergangen und schließlich abgetötet. Im Erreichen böser Ziele findet die in dem Gottlosen wirkende Sünde ihre Genugtuung. Dies wird dem von der Sünde Beherrschten geradezu zum Lebenszweck (Vers 3; Spr 4,16.17). Die Achtung vor den Mitmenschen ist ihm abhandengekommen. Angerichtetes Unheil, die Auswirkungen seines Frevels und Betrugs, sind ihm gleichgültig. Bedenken, die durch Vernunft und durch Erinnerung an die Normen des Guten aufkommen, übergeht er als lästige Traditionen, die er überwunden hat (Vers 4). Der fortwährende Umgang mit Lug und Trug hat die Wahrheit aus dem Blickfeld gerückt. Mit aller Energie bleibt er auf dem verderbten Weg. Ruhezeiten dienen Ihm nicht zur Besinnung, sondern zum Planen von Gräueltaten und zum Anwerben von Mittätern (Spr 16,29; Mich 2,1). Widerstände räumt er rigoros aus dem Weg. Alle moralischen Bedenken hat er verloren (Vers 5). Maßlose Überhöhung des eigenen Ichs und seiner Absichten hat alle in Frage kommenden Autoritäten abgesetzt und hinter sich zurückgelassen. „Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht“ (Joh 8,34; 2. Pet 2,19b). Ohne dass er es merkt, steht er mehr und mehr unter der Gewalt der Sünde‚ jedes sicheren Urteils beraubt, weil die Sünde ihn an der Wirklichkeit vorbei in die Irre führt (A. Weiser). Die Stützmauer der Tugend ist untergraben und die einmal in Gang gesetzte Abwärtsbewegung zum maßlos Bösen gewinnt an Dynamik durch das Leugnen Gottes als Schöpfer und Richter der Welt. Offenkundig stellen sich immer mehr Menschen mit Entschiedenheit auf die Seite des derart Bösen. Sie folgen ihrer Lust und Begierde; sie hassen nichts Böses mehr. Das ist vollendete Abkehr von Gott‘ (P. Schegg, im Jahr 1857). Die im vorliegenden Psalm aufgezeigte Verhaltensweise bildet sich deutlich ab im Leben einzelner Personen, jedoch zunehmend auch im gemeinsamen Vorgehen großer Gruppen. Wo ist die Macht des Guten, die das weitere Emporkommen des mit unheimlicher Energie ausgestatteten Bösen eindämmen kann? Dieser Psalm hat die Antwort darauf.

Gegenüber dieser Verderbtheit zeigen die Verse 6 bis 10, wie viel vollkommen Gutes die Heilige Schrift den Menschen zur moralischen Erneuerung anbietet. Die Macht des göttlich Guten bleibt letztlich stärker und durchgreifender als die abgründige Tiefe und die größte Reichweite des gewalttätigen Verderbens, das sich anschickt, die Erde zu überfluten, um die Weltherrschaft anzutreten. Wer in den Errungenschaften dieser Zeit und Welt, auch in ihrer Weisheit und Kultur, das wahrhaft Gute, eine Stabilisierung der Verhältnisse und Hoffnung auf Besserung vermisst, der möge sich zu dem allein Guten, zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter der Welt, wenden. Dazu bedarf es der Entscheidung zum persönlichen Glauben an Gott. Indem der Bekehrte dies vollzogen hat, findet er statt des tödlichen Verderbens den Weg zum wahrhaft Guten vor. Anstelle des drohenden Unheils hat er in Gott den „Quell des Lebens“ gefunden und statt der Finsternis des satanisch Bösen das göttliche Licht. Er wird dem Verderben entrinnen, das gottlose Vordenker und in der Folge hochmütige Weltbeherrscher bis zur Katastrophe des Endes vorantreiben. Aufgrund der Verheißungen der Heiligen Schrift wird jeder, der zu Gott umgekehrt ist, ein ewig beständiges Glück geschenkt bekommen (Verse 10 bis 12).

Weit über diese Erde und ihre Geschicke hinaus, bildlich gesprochen bis an die Himmel und bis zu den Wolken, reichen die unermessliche Güte und die unwandelbare Treue Gottes. Barmherzigkeit und Wahrheit, die auf der Erde bei den Menschen mangeln, sind bei Ihm in ihrer Fülle vorhanden (Vers 6; Ps 57,11; 108,5). Wiederum bildlich gesprochen, sind die den Bestand erhaltenden Ordnungskräfte Gottes so gewaltig wie die den Witterungseinflüssen trotzenden Berggipfel und so umfassend wie die Wassermassen des Meeres (Vers 7). Seine Rechtsordnung und Seine gerechten Urteile bestehen nach wie vor. Er wird dem Bösen zur bestimmten Zeit mit Gericht entgegentreten (Ps 71,19). Alles Bestehende verdankt nach wie vor sein Dasein der erhaltenden Kraft Gottes, nämlich der Köstlichkeit Seiner Güte, deren Wert unschätzbar groß ist (Ps 63,4). Niemand, weder Mensch noch Tier, kann auf die Güte Gottes verzichten. Ein gewisses Empfinden, auf Sein Wohlwollen angewiesen zu sein, hat Er den Menschenkindern in die Wiege gelegt. Wer von ihnen die drohende Gefahr erkennt und einen Sinn für Gottes Barmherzigkeit bewahrt hat, nimmt heute noch „Zuflucht zum Schatten seiner Flügel“ (Verse 6–8).

Die Güte Gottes bietet dem Menschen einen Rettungsanker an, damit er dem Unheil entkommen kann, das durch die Sünde verursacht ist (Vers 8). Der stärkste Beweis Seiner Güte ist die Sendung Seines Sohnes Jesus Christus zur Errettung der Bußfertigen. Nun liegt es an dem Menschen, diese Möglichkeit wahrzunehmen. Er ist eingeladen, von der angebotenen rettenden Gnade Gebrauch zu machen. Doch er muss selbst kommen, um ‚von der Fettigkeit seines Hauses zu trinken' (Vers 9). „Denn bei dir ist der Quell des Lebens, in deinem Licht werden wir das Licht sehen“ (Vers 10; Hiob 33,28; Joh 1,4; 8,12). Die Liebe Gottes erfahren zu haben und nun das ewige Leben zu besitzen und das Licht bekommen zu haben, das dem Gläubigen zum Erkennen Gottes und des Weges der Wahrheit geschenkt ist, bedeuten dem Bekehrten das Größte und Wichtigste unter den wunderbaren Zuwendungen der Gnade Gottes. Der zum Glauben Gekommene hat sein geistliches Leben und Licht direkt aus ihrer ursprünglichen Quelle erhalten und bleibt für immer damit verbunden; Gottes Güte hat es ihm schon jetzt als persönlichen Besitz gegeben. Dadurch kann der Gläubige im Geist wandeln und darf in Gemeinschaft mit Gott leben (Gal 5,16). Als Lernender wird er geistliche Erkenntnisse im Licht Gottes erwerben, so dass sie sein Eigentum werden. Das göttliche Licht und das Leben, das den Tod überwindet, sichert ihm ewige Ruhe zu und schenkt ihm den jetzigen und den ewigen Genuss unvergänglicher Freude im Haus Gottes. Wer als „von Herzen Aufrichtiger“ sich retten lässt, lernt den Gott aller Gnade kennen. Er ist nun der Macht des Bösen entkommen und für immer in Sicherheit gebracht (Verse 11 und 12). Die Ungläubigen dagegen, die Gott und Sein Wort abgelehnt haben, und die Frevler, die ihr Leben in Auflehnung gegen Gott verbracht haben, sind dem göttlichen Gericht verfallen (Vers 13; Ps 73,17–20; Jes 26,5.11.14).

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