Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 12

In diesem Psalm sieht man die wenigen treuen Gottesfürchtigen einer weit überlegenen Menge von Treulosen, Schmeichlern und Lügnern, Großsprechern und Gewalttätern gegenübergestellt, dies aber nicht nur während einer begrenzten Zeit, sondern offenbar schon seit einem Menschenalter. Es war bereits ein ganzes „Geschlecht“ aufgewachsen, das sich durch Gemeinheit kennzeichnete und dem das Rechtsempfinden, die Moral und die Redlichkeit seit langem abhandengekommen waren. Diese Verkommenheit war so allgemein verbreitet, dass keine Besserung mehr zu erwarten war. Der Gottesfürchtige sah keine Inseln guter Gesinnung, keine Restbestände von Moralität, keine guten Hilfsquellen mehr. Die Merkmale der Gottesfurcht, die jemand als einen „Frommen“ ausweisen, waren verschwunden (Vers 2). Offenbar ist eine Epoche der gänzlichen Abkehr von Gott angebrochen, deren Charakter es ist, keine Ordnungsmacht und nichts Gutes mehr anzuerkennen, was zu Recht Autorität beansprucht. Die Szene des gesprochenen Wortes und des Schrifttums wird beherrscht von sittlich verderbtem Reden (Jes 3,9; Rör 3,13), von Unwahrhaftigkeit und von schmeichelnd glatten und hochmütigen Lippen. Das gemeinschaftliche Leben der Menschen ist auf das Schwerste beeinträchtigt, da die Lüge jede echte Gemeinschaft zerstört. Eine derart tiefgreifende Verworfenheit wird auch das Ende des Laufes der menschlichen Geschichte charakterisieren. Dann wird Gott mit Gericht eingreifen. Die Frommen haben dies nicht zu fürchten, da sie rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Denn es ist der gerechte Lohn für ihren Glauben, dass Er sie in Seiner Nähe und im Schutz Seines Hauses in immer währendem Glück wohnen lassen wird (Vers 8).

Der Psalmdichter berichtet davon, dass es schon in längst vergangener Zeit schlimme Zustände gegeben hat, die wir erst viel später erwartet hätten. In Zeiten fortschreitenden Sittenverfalls ist die Gefahr einer alle Lebensbereiche umfassenden Verführung zum Üblen besonders groß. Die Rechtschaffenen sind dann zu einer einflusslosen Minderheit geworden. Ein sehr altes Beispiel ist die Stadt Sodom (Lk 17,29; 2. Pet 2,6.). So gewiss und unabänderlich wie damals das Gericht über Sodom hereinbrach, so sicher und zielgerichtet ging damals auch die rechtzeitige Rettung Lots vor sich.

Je gottloser die Zeiten werden, desto mehr müssen die wahrhaft Frommen auf gebührenden Abstand von dem Treiben der Welt achten. Für sie wird ein normaler Umgang mit ihrer Umgebung immer schwieriger; die feste Gründung im Glauben ist für sie ganz unentbehrlich. Gleichzeitig mit den Treuen, den Gütigen und Rechtschaffenen sind die Gottesfurcht, die göttliche Wahrheit und die Erkenntnis Gottes mehr und mehr aus dem Land verschwunden (Vers 2; Hos 4,1f; Mich 7,2). An ihre Stelle sind Gewalttäter getreten und Leute, die mit Unaufrichtigkeit und verführerischen Heilslehren auf allen Gebieten umgehen; sie kommen mit gehaltlosen, zweideutigen Reden, woraus sich nicht erkennen lässt, was sie wirklich beabsichtigen (Vers 3). „Dies habe ich gefunden, dass Gott den Menschen aufrichtig geschaffen hat; sie aber haben viele Ränke (Ausgeklügeltes, Berechnetes) gesucht“ (Pred 7,29). Ihre Worte sind so angelegt, dass sie den Zuhörer in die Irre führen. Das ist teuflische Art zu reden. „Wenn er seine Stimme holdselig macht, traue ihm nicht; denn sieben Gräuel sind in seinem Herzen“ (Spr 26,25; Jak 3,6). Ihre Argumentation ist beliebig und je nach Bedarf unterschiedlich. Innerlich sind sie haltlos, jederzeit bereit, um des Vorteils willen in eine entgegengesetzte Redeweise zu verfallen. Ihr Umgang mit der Sprache ist ein Zeichen der Empörung gegen Gott. Verächtlich belächeln sie Treue und Vertrauen gegenüber Menschen und erst recht Gott gegenüber. Die Gottesfürchtigen dagegen, die Gottes Wort lieben, hassen das Doppelherzige (Ps 119,113). Das Lesen und Befolgen des Wortes Gottes bewirkt, dass ihre Herzen befestigt und zur Furcht des Namens des Herrn geeinigt werden (Ps 86,11). Das in Gottes Wort gegründete Herz verteidigt den festen Standpunkt des Guten und verfolgt die Linie der Wahrheit, ohne zu wanken (Lk 6,47.48; Kol 1,23).

Der von Gott Abgefallene hat den Schöpfer aus dem Auge verloren und kennt Ihn nicht mehr. Er leugnet die Autorität und Oberhoheit Gottes über alle Dinge und die Menschen. Andere streiten die Existenz Gottes überhaupt ab und fragen anmaßend: „Wer ist unser Herr?“ (Vers 5b). Ihre eigene Person und ihre Wünsche sind ihnen wichtiger als alles andere. Redet der Selbstsüchtige günstig oder lobend von anderen, dann meint er hintergründig sich selbst und sucht den eigenen Vorteil (Jud 16). Was er schmeichelnd von sich gibt, ist so unwahr, wie das, was er rühmend über sich selbst sagt (Verse 3 und 4). Das eigene Ich regiert ihn, und das verdirbt seine Seele. Ungerechtfertigtes Selbstvertrauen, versteckte Anmaßung und Arroganz kennzeichnen solche, die durch überzeugendes Reden Macht über andere gewinnen wollen (Vers 5). Ihr Ziel ist, die Lüge immer mehr an die Stelle der Wahrheit zu setzen (Röm 1,25). Ungehemmt bedienen sie sich alles Verfügbaren und heutzutage aller Medien, um ihre falschen Auffassungen durchzusetzen, wobei sie geschickt ihre eigentlichen Ziele verbergen. Wenn auch jetzt niemand sie zum Schweigen bringen kann, so doch der Allmächtige, der sie richten wird. Und dies kündigt Er mit den Worten an: „Wegen der gewalttätigen Behandlung der Elenden, wegen des Seufzens der Armen will ich nun aufstehen, spricht der HERR“ (Vers 6). Er erhebt sich, „um den Feind zum Schweigen zu bringen“ (Ps 8,3), und damit entspricht Er der Bitte in Vers 2: „Rette, HERR!“

Die allgemein verbreitete Selbstvergötterung des Menschen und das Überhandnehmen der Macht der Lügner (Mich 2,11; 2. Thes 2,8–12) wird Gott zum Eingreifen veranlassen. Er wird „die Lügenlippen, die in Hochmut und Verachtung Freches gegen den Gerechten reden“, verstummen lassen (Ps 31,19). Die Lippen der Lüge gehören zu den hässlichen sieben, die Seiner Seele ein Gräuel sind (Spr 6,16f). Für die in die Enge getriebenen Gottesfürchtigen ist es überaus ermutigend, dass der Herr in Seinem Erbarmen sich ihrer auf dem Höhepunkt ihrer Not annimmt (Verse 6 und 8). „Keiner von ihnen ist verloren gegangen“ (Joh 17,12; vgl. Ps 9,19). Dieser Verheißung bleibt Er allen gegenüber treu, die an Ihn glauben, die ihre Sicherheit und ihr Heil bei Ihm gesucht haben (Ps 31,23; 32,6f; 37,28). Die Wahrheit und Wirklichkeit des Wortes Gottes und seiner Zusagen bleiben in Ewigkeit wahr, im krassen Gegensatz zur Falschheit der Lügner (Vers 8). Die Reinheit und Verlässlichkeit der Heiligen Schrift ist nicht zu überbieten, weil sie die vollkommene Wahrheit verkündet und vom Heiligen Geist inspiriert ist; es sind „die Worte des HERRN“ Selbst (Vers 7). Darin gibt es keine Vermischung mit Unvollkommenem und keine unreine, aus menschlichem Willen erdachte Hinzufügung. Es ist die einzig unfehlbare Vertrauensgrundlage, die ewige Wahrheit selbst (Ps 18,31; 19,8; 119,140. Spr 30,5). Wahre Weisheit besteht darin, am Wort Gottes festzuhalten und ihm zu gehorchen.

Zum Schluss kehrt der Dichter zurück zu dem Thema des ganzen Psalms, er nimmt dabei Bezug auf die Eingangsverse. Wenn ringsumher das Niedrige, Gemeine und Schamlose nicht nur weiträumige Verbreitung gefunden hat, sondern „erhöht ist bei den Menschenkindern“ (Vers 9), das heißt, nunmehr sogar zu Ansehen und Autorität gelangt ist und dabei in Amt und Würden sitzt, dann ist die Lage bodenlos schlecht. Wenn niemand mehr seiner Unmoral und Vergehungen wegen zur Rechenschaft gezogen wird, vielmehr frei umherläuft als sei nichts vorgefallen, dann ist jedes Hoffen auf die Rückkehr geordneter äußerer Umstände dahin. Dann hat der Gottesfürchtige auf der Erde nichts mehr zu erwarten, was das Gute fördert, denn die Wahrheit kann nicht mehr zur Geltung kommen. Nur noch eines wird der Gläubige der jetzigen Gnadenzeit wünschen: das baldige Kommen des Herrn, das die in Seinem Wort verheißene Rettung und dann die Aufrichtung göttlicher Gerechtigkeit mit sich bringt. Seine Zusagen wird der Herr bei Seiner Wiederkehr auf diese Erde wahrmachen; das gilt auch für die Gläubigen aus dem Volk Israel in der kommenden Endzeit.

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