Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 30

Der Psalmdichter ist hier einer Art der Erprobung ausgesetzt, die nur einen Gläubigen treffen kann. Er hatte durch eine Rettung aus Todesnot die überwältigende Gnade Gottes kennengelernt und wusste sich nun darin geborgen. Da riss ihn ein plötzlich hereinbrechendes Unheil aus der Sicherheit heraus, und mit Bestürzung sah er seine so sicher geglaubte Position in der Gunst Gottes in Frage gestellt. Nach einigem Ringen wurde ihm klar, dass die göttliche Weisheit weit höhere Ziele verfolgt als das irdische Wohlergehen unter angenehmen Lebensbedingungen, und daraufhin konnte er „sein Sacktuch“, das heißt seine Beschämung und Betrübtheit, ablegen; die Wehklage wurde danach zu einem Reigen (Vers 12). Das Ziel der Prüfung war erreicht, und er hatte Anlass zu dankbarer Anbetung. Er hatte an Erkenntnis Gottes, aber auch an Selbsterkenntnis gewonnen. Widerfährt es einem Gläubigen, dass sich seine bis dahin günstigen äußeren Umstände unversehens ins Gegenteil verkehren, dann bleibt Gott für ihn doch unwandelbar Derselbe. Er übt unverändert Barmherzigkeit und gewährt Gnade. Seiner Gnade ist es zuzuschreiben, dass einem Gläubigen niemals hoffnungslose Vernichtung droht. Die Gnade wird ihn ohne Zweifel zu dem Ziel hin geleiten, in Ewigkeit ein Anbeter Gottes zu sein, obgleich auf dem Glaubensweg mitunter schweres Leid erduldet werden muss. Auf diese Weise wird der Gottesfürchtige dahin geführt, dass Gott und Seine Gnade ihm mehr bedeuten als alle berechtigten Wünsche, die er als Mensch haben kann. Bei dem Herrn Jesus war diese Haltung vom Beginn Seines Erdenweges an vorhanden. Dies hat Er allen, die Ihm nachfolgen, vorgelebt. Selbst Paulus hatte die Unterweisung nötig: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht“ (2. Kor 12,9).

Mehr als einmal war David aus schlimmsten Umständen befreit worden und aus Abgründen wie aus einem tiefen Ziehbrunnen „emporgezogen“ worden (Verse 2 bis 4). Daher kannte er wie kein anderer seinen Gott als persönlichen Retter. Seine Gegner hatten offenbar herbeigewünscht, dass er in den gefährlichen Phasen seiner Flucht, später bei seiner Vertreibung oder in den häufigen Kriegen umkäme. Aber Gott hatte auf Davids Hilferufe gehört und den Widersachern keinerlei Schadenfreude gestattet (Vers 2; Ps 35,19–24; 38,17; 41,12). In den schlimmsten Augenblicken ihrer Nachstellungen, möglicherweise durch eine schwere Verwundung, war es derart bis zum Äußersten gekommen, dass David meinte, das irdische Leben hinter sich zu haben und zu den Todgeweihten zu gehören. Er zählte sich bereits zu denen, „die in die Grube hinabfahren“ (Vers 4). Er hatte den sicheren Tod vor Augen, aber der HERR holte ihn sozusagen aus dem Scheol heraus. Er zog ihn empor, gleichsam aus der Finsternis am Boden eines tiefen Brunnens, und David fühlte sich wie ein Wiederbelebter, ins Leben Zurückgerufener. Er erlebte die Wiederherstellung seiner Freiheit und Gesundheit als ein großes Entgegenkommen der Gnade des HERRN gegenüber ihm, Seinem Frommen, und pries „sein heiliges Gedächtnis“. Es war ein lobendes Gedenken an den heiligen Namen Gottes, wobei die Treue und Macht des HERRN vor die Seele traten und tiefe Dankbarkeit hervorriefen (Vers 5; Ps 31,23f; 56,13.14; 86,13; Eph 5,19). Im Prinzip Vergleichbares, aber in Wirklichkeit noch viel Schlimmeres hat der wahre Sohn Davids, der Herr Jesus, erlitten, als Er durch die Not der Kreuzigung und das Furchtbare des Todes hindurchging. Aber Gott überließ Seine Seele nicht dem Scheol und Seinen Leib nicht der Verwesung (Ps 16,10.11).

In Vers 6 tritt dieses Geschehen noch einmal als Grundsatz ins Blickfeld. Da hat der Gottesfürchtige für eine gewisse Zeit durch schwerstes Leiden hindurchzugehen, das er wie eine sehr dunkle Nacht ohne Lichtblick empfindet. Weinend denkt er an das Verlorene. Die Aussichtslosigkeit wirft ihn nieder. Es ist, als laste der Zorn Gottes auf ihm. Doch dann setzt Gottes Liebe dem Leiden ein Ende und lässt einen neuen Morgen der Gnade aufgehen, dann ist Jubel da. Gott hat ‚emporgezogen', hat geheilt, hat heraufgeführt und belebt (Verse 2 bis 6). Seine Gnade hat die Wendung herbeigeführt; das Geschehene ist ausschließlich das Tun Gottes. Die Besserung war nicht ein bloßer Glücksfall, auch nicht die Wirkung menschlicher Mittel oder eigener Widerstandskraft. Gott hat dem Geretteten das Leben neu geschenkt (Ps 126,5f; Jes 38,10.16f; 1. Kor 10,13; 2. Kor 4,17; 1. Pet 1,6). Gottes Wesen und Sein Walten bleiben nicht im Verborgenen, sondern offenbaren sich zu Seiner Verherrlichung.

In den Versen 7 bis 13 hält der schwer Geprüfte Rückschau auf das Erlebte und bekennt, dass er daraus gelernt hat. Er hatte den Fehler begangen, sich in Selbstsicherheit zu wiegen. Das zeitliche irdische Wohlergehen hatte er für die Zusage und den Ausdruck ewiger Gnade gehalten. Er hatte gedacht, alle Sorgen lägen für immer hinter ihm. Aber das war eine falsch orientierte Frömmigkeit, die auf sich selbst und das eigene Wohl sieht. Das dient nicht der Sache Gottes, obwohl die Gedanken gleichwohl noch mit Gott befasst sind. Im Prinzip unterscheiden sich solche Vorstellungen nur wenig von den ‚Bekenntnissen‘ eines Gottlosen in Ps 10,6: „Ich werde nicht wanken; von Geschlecht zu Geschlecht werde ich in keinem Unglück sein“. Doch Sorglosigkeit ist unrealistisch, sie macht nachlässig und uneinsichtig, so dass jemand meint, er lebe wie auf einem mächtigen Berg und stünde über den Dingen, die Niederungen habe er hinter sich zurückgelassen (Hiob 29,18–20). So wie das Selbstvertrauen wächst, schwindet das Vertrauen auf den Herrn, denn das eine schließt das andere aus. Der „Berg“, auf dem man einen sicheren Standort zu besitzen meint, verleitet dazu, selbstbewusst zu handeln und allmählich zu vergessen, dass man jederzeit von Gott und Seiner Güte abhängig ist. Das Herz wird schwankend, es gehört nicht mehr allein dem Herrn, selbst wenn die Worte noch gottesfürchtig klingen mögen. Doch Gott sieht das Ungute im Herzen und verbirgt gleichsam Sein Angesicht, um den Abirrenden durch Zurechtweisungen zur Einsicht zu bringen. „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er“ (Heb 12,6). „So verwirf denn nicht die Züchtigung des Allmächtigen“ (Hiob 5,17). Um uns vor Fehleinschätzungen zu bewahren, empfiehlt der Herr uns allen: „Betet ihr nun so: ... Führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen“ (Mt 6,9.13).

Wenn wir durch das Einschreiten unseres himmlischen Vaters zum Erkennen unserer Fehler gebracht worden sind, dann sollten wir unser falsches Verhalten eingestehen und flehen: „Höre, HERR, und sei mir gnädig! HERR, sei mein Helfer!“ (Vers 11). Dann wird unser Verhältnis zu Ihm wieder zurechtgerückt. Wir können erneut sicher sein, dass Er uns in Gnade zur Hilfe kommt. Der Glaubensweg wird wieder klar vor uns liegen. Nach der Nacht leuchtet ein neuer Morgen auf (Vers 6), und wir werden wieder zu glücklichen Anbetern. Unsere Ehre besteht darin, dass wir in der Kraft des Heiligen Geistes zur Ehre unseres Herrn leben. Ein auf das Irdische gerichtetes Herz umgibt sich gerne mit Dingen, an denen es sich erfreut und die zur Ehre der eigenen Person gereichen. In diese Gefahr war auch David, auf dem „Berg“ stehend, gekommen, so dass Gott ihn züchtigen musste und er beinahe ‚in die Grube hinabgefahren‘ wäre. Mit Schrecken hatte er die Gefahr erkannt, die sich aus der Genugtuung über eigene Fortschritte und Verdienste ergibt. Doch sein vorzeitiges Ableben war nicht im Sinne des HERRN. David sollte weiterhin für Ihn Zeugnis ablegen und zur Ehre des HERRN sein (Vers 10). Dazu war Davids Demütigung sehr dienlich. Demut ist notwendig, um die göttliche Wahrheit in rechter Weise verkündigen zu können. Der HERR hatte Seinen Knecht David wieder zurechtgebracht. David konnte nun von neuem mit glücklichem Herzen seinen HERRN besingen und anderen zum Nutzen sein. Im Glauben hielt er fest, dass er Ihn nicht nur jetzt auf der Erde, sondern in Ewigkeit loben werde. Dorthin zu gelangen, war Davids feste Zuversicht. Ohne irgend zu zweifeln, sagte er: „HERR, mein Gott, ewig werde ich dich preisen“ (Vers 13). David hatte geistliche Fortschritte gemacht, er war zu einer höheren Stufe des Glaubens und der Erkenntnis Gottes gelangt.

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