Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 131

Der Dichter erklärt hier seine Grundeinstellung. Sein Bekenntnis zu demütiger Zurückhaltung und seine Absage gegenüber dem Stolz klingen wie ein Gelöbnis (Vers 1). Nachdem er zu verzichten gelernt hat, hält er sich von hochtrabenden Plänen zurück; dies ist für ihn zur Pflicht geworden. Hier geht es nicht um Taten, sondern um die Herzenshaltung, die allem Vorhaben und Handeln zugrunde liegt, ehe es zur Ausführung gelangt. Ein folgenschwerer falscher Antrieb ist der Hochmut, und zu häufig ist er für die Grundhaltung eines Menschen bestimmend. Er kann sich nicht bescheiden und kennt keine Ruhe. Zumeist begleitet er unbewusst die Gedanken und reizt zu unbesonnenem Handeln an. Übertriebenes Selbstgefühl ist die Ursache vieler Vergehungen. Nach außen hin fällt ein Hochmütiger oft durch Stolz und überzogenes Selbstbewusstsein auf. Hochmut ist die Ursünde des Teufels, und in der Folge wurde der Hochmut zu einer der Ursünden der Menschen, die mehr aus sich machen wollen als ihnen zukommt. Dabei verlieren sie dann ihre Mitmenschen und die Gegebenheiten aus dem Auge, so dass sich ihr Hochmut ins Maßlose steigert und sich gegen Gott erhebt (1. Mo 3,6; Jes 14,12–14; Hes 28,16.17). In welcher Richtung menschlicher Tatendrang und die Bestrebungen sich auch bewegen mögen, allzu leicht mischt sich der Hochmut darein. Darum sagt die Schrift: „Sinnt nicht auf hohe Dinge, sondern haltet euch zu den Niedrigen“ (Röm 12,16; Spr 21,4; Jer 45,5). Der Psalmdichter hatte sich als Grundsatz vorgenommen: „Ich wandle nicht in Dingen, die zu groß und zu wunderbar für mich sind“ (Vers 1). Offenbar spricht er von den Anforderungen, die seine tägliche Beschäftigung mit sich brachte. Der Gottesfürchtige indessen muss sich auch auf geistlichem Gebiet vor dem Hochmut hüten und über seine Gedanken wachen.

Hochmut im Herzen wirkt prägend auf das Verhalten, darum wird er von der Umgebung sehr rasch als solcher erkannt. Der Psalmdichter wollte sich nichts erlauben, was eine Anmaßung bedeutet hätte. Er steckte sich nicht selbst die Ziele, sondern blieb in der ihm von Gott zugewiesenen Position. Er wollte sich der Zustimmung vonseiten Gottes sicher sein, ehe er ans Werk ging. Keinesfalls hatte er dabei Selbstgefälligkeit oder irgendeine Art von Selbsterhöhung im Sinn. Seinen Aufgabenbereich wollte er nicht überdehnen, sondern seinen Platz nach besten Kräften mit den ihm von Gott gegebenen Mitteln ausfüllen. Mit seinen Gedanken und Taten stellte er sich bewusst dem Urteil Gottes und Seines Wortes (Röm 12,2–8; 14,7–10; 2. Kor 10,13–18). Darum hatte er inneren Frieden, und die Seele genoss das Glück der Gemeinschaft mit dem Herrn. Ein Diener des Herrn, der bei seinem Auftreten hochmütige Nebenabsichten erkennen lässt, macht sich unbrauchbar (Ps 115,1). Wer sich zu Außerordentlichem berufen wähnt, neigt eher als andere zu Schritten, die zu weit gehen und dem Willen des Herrn zuwiderlaufen. Der Psalmdichter kannte die Gefahr, dass hochfahrende Ideen und Begehrlichkeiten oft durch das geweckt werden, was man mit den Augen wahrnimmt (Vers 1; Spr 4,25; Mt 6,22f; 1. Joh 2,16). Daher gestattete er seinen Augen nicht, sich stolz zu erheben (Ps 101,5) und nach Dingen Ausschau zu halten, die der Selbstherrlichkeit dienten (Ps 18,28b; Spr 6,17; 30,13; Jes 3,16). Die Lust dazu entsteht auch dadurch, dass man sich vorstellt, was andere als großartig ansehen.

Für den Apostel Paulus galt, dass seine Seele „beschwichtigt und still gemacht“ wurde durch „Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Vers 2; Gal 6,14). Die Welt konnte ihn durch ihre Verlockungen nicht mehr anfechten, weil er in seinem Innern nichts duldete, was sich davon hätte anfechten lassen. Stolze Pläne hegte er nicht, denn sein Herz ruhte in dem Herrn Jesus Christus, und er rühmte sich in Ihm (Phil 3,3). Auch der Psalmdichter hatte seiner Seele das hochmütige, selbstsüchtige Streben und das Begehren nach Lustgewinn abgewöhnt und war darüber ruhig geworden (Vers 2a). Nicht mehr in der Befriedigung eigener Wünsche fand seine Seele das Glück, sondern in dem Frieden Gottes und auf Seinen Wegen. Das Kleinkind kennt nur die Lust nach der Muttermilch (Vers 2b). Doch nachdem es genügende Fortschritte gemacht hat, muss die Begierde des Kindes zu seinem eigenen Nutzen in eine andere Richtung gelenkt werden, die ihm zunächst gar nicht gefallen will. Doch das Kind lernt, dass sein Hunger auch auf andere, bessere Weise gestillt wird, wenn es die neue Nahrung aufnimmt. So hat der Gottesfürchtige zu begreifen, dass Gottes Wort den Hunger und den Durst der Seele auf eine andere und weit bessere Weise stillt, als es die Angebote dieser Welt vermögen (Ps 19,8; 119,82; 119,129–131; Jes 55,2; Jer 15,16; Joh 6,51). Die Seele dessen, der sich von dem Wort ernährt, mag andere geistige Nahrung nicht mehr zu sich nehmen, sie hat für ihn keinen Nährwert. Hierfür gibt das Volk Israel auf seiner Wüstenwanderung ein Beispiel. Es hatte jahrzehntelang keine andere Nahrung nötig als das Man, das Brot aus dem Himmel (2. Mo 16,35; 5. Mo 8,3; Joh 6,31–33). Um daran ihr Genüge zu haben, mussten die Israeliten die bisherige Neigung zum Genuss der Nahrung Ägyptens aufgeben. Die Umstände zwangen sie, sich dem Willen des HERRN zu fügen. Sie taten gut daran, nicht wehmütig zurückzublicken, sondern das Ziel der Reise und die dort verheißenen Segnungen im Auge zu behalten. Diese Glaubenshaltung empfiehlt auch der Schlusssatz dieses Psalms: „Harre, Israel, auf den HERRN, von nun an bis in Ewigkeit!“ (Vers 3).

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