Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 75

Gegenstand des Psalms sind die zukünftige Regierung und der Gerichtstag Gottes. Der Psalm kann daher als die Ankündigung einer göttlichen Antwort auf die letzten Verse des vorhergehenden Psalms angesehen werden, wo Seine Gerichte herbeigerufen werden. Im nächstfolgenden Ps 76,9 vervollständigt sich noch das Bild über das Eintreten des Gerichts Gottes „von den Himmeln her“. Im vorliegenden Psalm werden Seine Feinde gewarnt, Sein Volk hingegen wird ermutigt. Es bleibt dem Urteil Gottes vorbehalten, wer erhöht und wer erniedrigt wird, was bestehen bleibt und was untergeht. Ein nach jeder Seite hin auffälliges Ergebnis des Gerichtstages wird darin bestehen, dass danach im gesamten Raum des Geschaffenen eine Ordnung aufgerichtet sein wird, deren Ursprung, Gestaltung und Autorität sich allein von dem Herrn herleiten. Unter Seiner Regierung kann sich niemand mehr eine persönliche Machtstellung verschaffen und eigene, abweichende Ideen durchsetzen. Dies kündigen die Verse 5 bis 8 an. Gottes Wirken in Macht als oberster Richter wird durch die schon in Psalm 74 erwähnten untragbaren Missstände ausgelöst. Der üble Zustand der Welt ist gekennzeichnet durch Rechtlosigkeit und Gewaltherrschaft, insbesondere zum Nachteil unterdrückter Armer und Elender. Weitere Kennzeichen sind die Verhöhnung Gottes und die allgemeine Auflehnung gegen Seinen Namen (Ps 74,8.10.18.23).

Vers 2 hebt die Freude am Lob Gottes hervor und rühmt Seinen Namen mit Dankbarkeit, weil Seine Nähe sich offenbart hat. Die Empfindung, dass Gott dem Gläubigen nahe ist, weckt rechte Anbetung. Dann hat das Herz Gott und die Person des Herrn vor Augen und erfreut sich an Seiner Größe, an der Offenbarung Seiner Eigenschaften, an Seinen Wegen und an allem, was Er gewirkt hat. Die Anbeter preisen Seine Wundertaten zum Ruhm Seines Namens; das ist ihre immerwährende Aufgabe. Dazu müssen sie bewusst Seine Gegenwart aufsuchen. Sowohl jeder Einzelne als auch die Gesamtheit der Anbeter müssen im Glauben überzeugt sein, dass Er zugegen ist. Nur solche können Ihm nahe sein, die Ihn in Wahrheit als ihren Gott und Erlöser kennen und sich Ihm unterwerfen. Wer Ihm naht, muss mit der Bereitwilligkeit kommen, sich vor Ihm niederzubeugen.

Wer Gott naht, wird durch Vers 3 daran erinnert, mit wem er es zu tun hat. Gott wird nicht zögern, in Geradheit zu richten, wenn es erforderlich geworden und die von Ihm festgesetzte Zeit gekommen ist. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (1. Mo 18,25). Die Schrift betont hier, dass das Eintreten des Gerichts unabwendbar ist. Dessen Rechtsgrundsätze sind göttlich vollkommen; der Zeitpunkt ihrer Anwendung steht bereits jetzt fest (Ps 94,1f). „Der HERR steht da, um zu rechten, und er tritt auf, um die Völker zu richten“ (Jes 3,13; 63,19; Mk 13,32). Allen Entwicklungen hat Gott eine nur Ihm bekannte Zeit als Grenze gesetzt. Der Beginn Seiner Gerichte ist als besonders wichtiger Zeitpunkt vorherbestimmt, denn an diesem Tag nimmt vieles sein Ende und sehr Bedeutsames hat dann seinen Anfang (Ps 96,13; 98,9; 102,14.27; Jes 5,15.16; 30,18; Dan 8,19). Dann offenbart Gott Sich als der, in dessen Hand alle Zeiten und Geschicke sind. Nichts ist Seiner Hand entglitten, wenngleich alles in der Welt in Erschütterung geraten ist. Der Zeitpunkt des Beginns der Gerichte ist nahegekommen, wenn alle Rechtsordnungen ins Wanken geraten und in Auflösung begriffen sind. Denn dadurch ist die weitere Existenz der Menschheit auf das Äußerste bedroht. Da die von Gott stammenden Rechtsgrundsätze verdrängt worden sind, ist das Fundament untergraben, auf dem alle Lebensgrundlagen, das Recht und die allgemeine Ordnung in der Welt basieren. Die Grundlagen sind derart ausgehöhlt, dass alles wankt und buchstäblich nichts mehr feststeht. Es lässt sich kein Rettungsanker mehr auswerfen (Jes 24,18–23). Dann wird Gott eingreifen und beweisen, dass nicht das Böse die Oberhand behält, sondern Er, der Allmächtige, der Schöpfer der Menschen und aller Dinge. Von der Erde sagt Er in Vers 4: „Ich habe ihre Säulen festgestellt“. Und deren Bestand stellt Er in der Zukunft sicher, indem Er Recht und Ordnung wiederherstellt (1. Sam 2,8b). Gute Bemühungen, die der Heiligen Schrift gemäße Ordnungen schaffen, wirken zu jeder Zeit in Seinem Sinne. Dabei können die Aussagen der Verse 4 bis 8 eine nützliche Unterstützung sein. Denn von der ordnenden und aufrechterhaltenden Kraft Gottes ist und bleibt alles Bestehende abhängig. Die Entwicklungen können Ihm nicht entgleiten. Die Ehre, der Erhalter aller Dinge zu sein, gebührt Ihm allein (Ps 74,16; 104,5; Kol 1,16.17).

Die Verse 5 und 6 warnen Mächtige, die jedes Maß verloren haben, und gottlose Frevler, die auf ihre Macht pochen, vor weiteren Untaten. Viele mahnende Worte der Heiligen Schrift suchen auf solche einzuwirken, die im Begriff stehen zu sündigen. Das Wort macht sie darauf aufmerksam, dass sie für ihre Taten das Gericht Gottes zu erwarten haben (Ps 66,7; Mt 27,19; Mk 14,62). Wie im hier vorliegenden Fall, hat die Warnung des Öfteren endgültig abschließenden Charakter. Doch der Gesetzlose lässt sich nicht warnen und handelt weiterhin verantwortungslos. Die Gottlosen meinen, niemand Rechenschaft schuldig zu sein. Sie erheben „das Horn“ wie der Stier die Hörner; das heißt, dass sie, frei von jeder Rücksichtnahme, mit Hilfe ihrer Machtmittel vorgehen wollen. Sie meinen, dass es nichts gibt, was ihnen Widerstand leisten kann. Ihre Sprache ist frech und prahlerisch, ihr Hals ist gereckt (Vers 6; Ps 52,3; 73,6–9). Der gereckte Hals ist seit jeher das Kennzeichen der Selbstherrlichkeit. Selbstüberschätzung und Stolz kommen in der Körperhaltung, in den Gebärden, im Sprechen und Handeln zum Ausdruck. Wenn das böse Vorhaben nicht zum Ziel gekommen ist, weil Gott die Durchführung der üblen Pläne vereitelt hat, werden allerlei Begründungen für das Misslingen gefunden. Doch in Wirklichkeit ist das Scheitern der vernichtenden Schläge auf göttliches Entgegenwirken zurückzuführen. Nicht durch einen Silberstreifen am Horizont oder durch Zufall aus irgendeiner Himmelsrichtung wurde der Umschwung eingeleitet, sondern Gott hatte beschlossen, Ordnung zu schaffen, und Seine Bestrafung wird die Schuldigen treffen, wohin auch immer sie ausweichen wollen (Verse 7 und 8; 1. Sam 2,7f; Dan 2,21; 4,34; Mt 23,12). Der Allwissende nimmt Kenntnis von dem Verhalten jedes Menschen. Wie kein anderer Richter es vermag, weiß Er in gerechter Weise zu erniedrigen und zu erhöhen; auf solche Weise lenkt Er die Entwicklungen in dieser Welt. Er allein fällt stets ein vollkommen gerechtes Urteil. Zum anderen vermag nur Er einen Menschen über diese Zeit hinaus wirksam zu ehren und für immer zu erhöhen (Verse 8 und 11b). Was hochgestellte, urteilsfähige Menschen oder Institutionen in dieser Hinsicht tun und als Ehrung austeilen können, erscheint demgegenüber geringfügig.

Das Gerichtsurteil Gottes zieht nicht unbedingt die sofortige Vernichtung des Gottlosen und Sünders nach sich. Ungeduld bezüglich des Vollzugs einer solchen Strafe ist gänzlich fehl am Platz. Gottes Vorhaben und Handeln steht immer himmelhoch über dem, was von menschlicher Seite erwartet wird. Derjenige, der von Ihm bestraft wird, ist nicht selten gezwungen, zunächst einen Becher des Zornweins entgegenzunehmen und ihn bis zur Neige auszutrinken (Vers 9). Kein Schuldiger entgeht dessen Bitterkeit und der schrecklichen Wirkung; die Strafe muss in vollem Maß ausgekostet werden. Der Prophet Jeremia beschreibt die Vollstreckung eines göttlichen Urteils im 25. Kapitel (Verse 15–29) seines Buches. Das Buch der Offenbarung prophezeit ähnliche richtende Maßnahmen in Kapitel 14,9–11; 16,19. Durch den Strafvollzug empfängt jeder vonseiten Gottes das, was seine Taten wert sind. Ohne Widerrede muss er das Urteil anerkennen und den Becher leeren. Von den Hörnern der Gottlosen und ihrer verheerenden Stoßkraft ist dann nichts mehr übriggeblieben als nur das ihnen zugemessene Gericht. Diese Vorgänge stellen die Gerechtigkeit Gottes heraus und dienen der Abschreckung anderer, die Böses planen. Mit Sicherheit wird jede einzelne Missachtung der göttlichen Gesetze bestraft werden (Vers 11; 1. Sam 2,9.10; Lk 16,15.17). Im Zuge der Ausübung des Gerichts wird deutlich, wie furchtbar und schwerwiegend jede einzelne Sünde vor Gott ist: „Er wird Schlingen auf die Gottlosen regnen lassen; Feuer und Schwefel und Glutwind wird das Teil ihres Bechers sein“ (Ps 11,6). Es ist erschreckend, wenn man sich nach dem, was die Heilige Schrift darüber sagt, vorzustellen versucht, was am Tag des Gerichts über jeden Verächter Gottes und Seines Wortes hereinbricht. Im deutlichen Unterschied dazu wird in Vers 10 von dem Gerechten gesagt, dass er in Ewigkeit die Taten Gottes verkündet und Seinem Namen lobsingen wird. Die Erhöhung des Gottesfürchtigen ist die gerechte Belohnung seines Glaubens, zugleich aber eine ihm verliehene wunderbare Gnade (Ps 89,18; 112,9.10). „Und ihr werdet wieder den Unterschied sehen zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient“ (Mal 3,18).

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