Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 42

Dieser Psalm spricht davon, wie der Glaube in verschiedener Hinsicht auf die Probe gestellt wird. Was bedeutet Gott dem Gläubigen? Sind das Haus Gottes, Seine Nähe und Seine Gemeinschaft für den, der sich zum Glauben bekannt hat, wirklich unentbehrlich? Was empfindet er, wenn ihm der gewohnte Gottesdienst plötzlich durch die Umstände des Lebens genommen wird? Brechen in solchem Fall die Stützen seines Glaubens zusammen, oder hat sein Glaube die Kraft, die daraus folgenden Belastungen zu überwinden? Aus der inneren und äußeren Not des Psalmdichters geht zum Schluss jedenfalls ein gestärkter Glaube als Sieger hervor (1. Joh 5,4). Die Erprobung hat bewirkt, dass Gott und Sein Heil aufgrund bester Glaubenserfahrungen gerühmt werden. In diesem Psalm hat der Aufrichtige eine stark belastende Prüfung zu bestehen. Von viel Widrigem angegriffen, setzt sich schließlich sein Vertrauen auf Gott gegenüber dem Zweifel durch. Die Gefühle seiner Seele hätten ihn schwankend machen können. Doch er wird Herr über seine Gefühlsregungen, indem er unbeirrt am Glauben festhält. Trotz niederdrückender Umstände behält er die Fassung und den Mut. Sein Glaube bleibt unbeugsam und lässt ihn ausharren. Wiederholt wird ihm die lebendige Hoffnung auf Gott zur wertvollen Stütze: „Harre auf Gott, denn ich werde ihn noch preisen, der die Rettung meines Angesichts und mein Gott ist“ (Vers 6.12; Ps 43,5).

Wie der Hirsch die Wasserbäche zum Leben und Wohlbefinden braucht, so bedarf die Seele des Gläubigen der Gemeinschaft mit dem Herrn, der das neue, geistliche Leben gegeben hat und erhält. Von dieser Kraftquelle abhängig zu sein, empfindet jemand, der Gott liebt, nicht als unangenehme Einschränkung, sondern als wohltuende Absicherung. Seine Seele verlangt nach Gott, sie ist erst dann befriedigt, wenn sie aus der göttlichen Quelle trinkt und neue Lebenskraft geschöpft hat (Joh 7,37). Sie nutzt den direkten Zugang zur Quelle selbst, kommt herzu und erscheint vor Gottes Angesicht. Dem geistlich Gesinnten geht es darum, Zeit und Ruhe zu haben, um in der Nähe Gottes zu verweilen. Was wäre auch das Haus Gottes ohne Seine Gegenwart? Wer sich als Sünder erkannt und Buße getan hat, bekommt einen Durst nach Gott, der vom Heiligen Geist bewirkt ist, und gerne nimmt er die Gnade in Anspruch, die ihm Zutritt in die heilige Gegenwart Gottes gewährt (Verse 2 und 3; Ps 27,4.8; 36,10; 84,3; 143,6; Röm 5,1.2; Heb 10,19–22). Wer Gott liebt, wird nicht ruhen, bis er sich in der Nähe Gottes weiß (2. Mo 33,18). Gottes Geist wird ihm den Wunsch und die Kraft geben, das wegzuräumen, was seine Seele hindern will, dieses gesegnete Ziel zu erreichen.

In den Versen 4 und 5 spricht der Psalmdichter von schwerem Kummer, der durch den Mangel an Gemeinschaft hervorgerufen ist. Fern vom Haus Gottes in Jerusalem muss er sein Leben zubringen. Es fehlt ihm auch die Schar der Anbetenden, mit denen er früher zum Haus Gottes schritt, um mit Jubel und Lob vor Gott zu erscheinen. Die Frage, welche Umstände seine veränderten Lebensbedingungen und die Verluste auf geistlichem Gebiet hervorgerufen haben, wird hier nicht beantwortet. Die geschichtlichen Bücher und die Propheten berichten von der Einnahme des Landes und der festen Städte durch Feinde Israels und erwähnen, dass diese die Gottesfürchtigen unter den Juden mit der abschätzigen Frage verhöhnten: „Wo ist ihr Gott?“ (Ps 79,10; 115,2; Joel 2,17). Auch den Psalmdichter fragten sie mit unverhohlenem Spott: „Wo ist dein Gott?“ (Vers 4). Für die gottlosen Feinde waren die Vernichtung des jüdischen Tempels und die Zerschlagung des Opferdienstes gleichbedeutend mit der Niederlage und Ohnmacht des Gottes Israels. In der Tat hatten die Juden das Zentrum ihres Gottesdienstes verloren. Sie hatten dadurch auch die dort geübte geistliche Gemeinschaft eingebüßt und beklagten die traurigen Verhältnisse (Ps 137,1–6; Klgl 1,7). Sie fühlten sich gedemütigt und von Gott gezüchtigt. Ihr Innerstes war aufgewühlt, ihre Seele war niedergebeugt, die Aussichten für die Zukunft waren schlecht. Nun musste sich zeigen, ob sie wirklich an einen Gott glaubten, der nicht wie die Götzen in einer Kultstätte wohnt und dort zu sehen ist, sondern der unsichtbar ist und die Himmel bewohnt (1. Kön 8,27). Wenn Gläubige ihre Versammlungsstätte verloren haben und durch solche betrübenden Umstände in Not geraten sind, ist ihnen dieser Psalm von Nutzen. Für den auf sich gestellten Gottesfürchtigen heißt es dann, standhaft im Glauben auszuhalten wie einst Mose: „als sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27). Wenn die Stützen, die man durch die regelmäßigen Gottesdienste erlebt, weggefallen sind und die Lebensbedingungen sich ins Negative verkehrt haben, kann Mutlosigkeit aufkommen, gegen die sich der Glaube zur Wehr setzen muss. Der raue Weg, den Gott für nötig gehalten hat, macht einen lebendigen Glauben unentbehrlich. Dann sind die Tugenden echter Gottesfurcht gefordert, damit die Seele dem standhält, was sie zu Boden werfen will (Spr 24,10; Jak 1,2–4).

In solcher Notlage ist es wichtig, den Blick im Glauben zu Gott empor zu lenken. Darin übt sich hier der Psalmdichter, indem er seine eigene Seele anspricht und ihren Überlegungen die rechte Richtung vorgibt. Der Gläubige darf den Blick von den Übeln wegwenden und seine Seele zum HERRN erheben (Vers 6; Ps 25,1). Vor Ihm muss er die Sorgen niederlegen. Dann bekommen die Nöte bereits ein anderes Gewicht. Ihm ist nicht eine einzige unserer Belastungen zu gering. Er möchte uns helfen, sie zu tragen. Unsere Gefühle täuschen uns oft; der Glaube hingegen gibt uns Gott gemäße Empfindungen. Wenden wir uns zum Herrn, dann wird Er Sich uns zuwenden mit der Güte und Freundlichkeit Seines Angesichts. Er erprobt unseren Glauben daraufhin, ob wir Ausharren zeigen und die Hoffnung auf Seine Hilfe nicht sinken lassen. Er ist die Hilfsquelle, auf die sich unsere Gedanken richten müssen. Ihm gebührt unser ganzes Vertrauen. Keins der anderen Mittel, nach denen unsere Seele so oft Ausschau hält, ist verlässlich. Die Umgebung, in der wir uns aufhalten müssen, mag uns zu Recht nicht gefallen, auch erinnern wir uns rückschauend an bessere Zeiten und sehnen uns danach. Aber damals wie heute ist es Seine Hand, die uns hineinführt und auch hinausführen wird. Wir müssen uns bereitfinden, mit ganzem Herzen zu sagen: Dein Wille geschehe! Dies fällt schwer ‚beim Brausen Seiner Wassergüsse', wenn Seine Wogen und Wellen über uns hingehen (Vers 8; Ps 124,1–5; Jona 2,3.4). Doch auch dann sind wir nicht ein Spielball der Wogen und Wellen. Wir sehen uns jedoch gänzlich auf Seine Hilfe angewiesen und werden dann unsere Augen auf Ihn gerichtet halten.

Nachdem der Dichter im vorhergehenden Vers das Erschreckende und die Wucht der Wogen und Wellen aus Gottes Hand beschrieben hat, spricht er in Vers 9 von Seiner Güte. Er vertraut darauf, dass Gott ihm gnädig sein werde, nachdem die Wogen und Wellen vorübergezogen sind. Die Güte Gottes kennt keine Veränderungen; genauso wie Seine Liebe bleibt sie stets dieselbe, wenn wir sie auch manchmal nicht wahrnehmen. Nachdem zunächst das Unheil ununterbrochen auf den Psalmdichter einstürmte (Vers 4), wird er in der Folge erfahren, dass die Güte des HERRN immerfort für ihn bereitsteht. Zu seinem Trost wird bei Nacht Sein Lied bei ihm sein. Im Gebet nennt er Ihn den „Gott meines Lebens“ (Vers 9). Er ist sicher, dass der Gott, der ihm die Wogen und Wellen gesandt hat, derselbe ist, der ihm ewiges Leben gewährt, weil er auf Ihn vertraut hat. Das eine betrifft die Hilfe Gottes in seinem jetzigen Leben, das andere sein zukünftiges Leben in Herrlichkeit. Gott hat kein Gefallen daran, dass er umkommt, sondern daran, dass er ein ewig glücklicher Anbeter wird, der Seine Liebe und Treue bezeugen kann und die Weisheit Seiner Wege rühmt (Ps 18,29; 92,2ff; Röm 8,31–39). Auf Gott hatte er wie auf einen Felsen gebaut; das war die feste Grundlage seines Lebens. Dieser Gott besaß unverändert sein Vertrauen, obwohl offenbar erneut Stürme über ihn hereinbrachen, als ob Gott ihn vergessen hätte (Vers 10; Ps 44,24f; Klgl 5,20). Doch Gott vergisst Seine Kinder nie. In stürmischer Zeit ist Er ihnen besonders nahe, wie der Herr Jesus es Seinen Jüngern in der Seenot bewies. Auf die Frage nach dem ‚Warum‘ unserer Leiden bekommen wir in der Regel keine Antwort, denn Seine Gedanken sind nicht die unsrigen, und Seine Wege verfolgen manche Ziele, die wir nicht verstehen (Jes 55,8f). Doch wenn Er auch jetzt noch die Feinde und die Bedränger gewähren lässt und ihnen sogar die höhnische Frage gestattet: „Wo ist dein Gott?“, so setzt Er dem Bösen doch Maß und Ziel und wird es ins Gericht bringen (Vers 11). Zuletzt beschwichtigt der Dichter seine Seele mit fast den gleichen Worten wie in Vers 6, jedoch nennt er Gott hier „die Rettung meines Angesichts“ (Vers 12), denn jetzt hatte er am eigenen Leib in größter Not die Rettung und auch die Nähe Gottes erfahren. Gott war durch das Erlebte in besonderer Weise sein persönlicher Gott geworden.

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