Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 32

Wenn es einem ernst gesonnenen Gläubigen bewusst wird, dass seine Beziehung zu Gott durch eine Sünde gestört ist, gerät er in innere Not. Es wäre zum Verzweifeln, wenn es dafür kein Heilmittel gäbe. Die Heilung muss jedoch den hohen Anforderungen der Heiligkeit Gottes gerecht werden. Die Sünde muss völlig aus dem Wege geräumt werden, wenn das Herz von neuem in glücklicher Übereinstimmung mit Gott sein soll. Das Bewusstsein muss frei werden von dem belastenden Schuldgefühl. Daher braucht der Gläubige die Vergebung seiner Schuld, und er muss überzeugt sein, dass der heilige Gott sie ihm gewährt hat. Er kann diese Überzeugung nicht anders gewinnen, als dass Gottes Geist und Sein Wort ihm zunächst deutlich macht, was die begangene Sünde für Gott bedeutet und was für eine Haltung Gott in dieser Sache von dem erwartet, der um Vergebung seiner Schuld nachsucht. Er muss ein Gott gemäßes Empfinden darüber haben, wie abscheulich diese Sünde Gott und Seiner Heiligkeit gegenüber ist (2. Sam 12,7–13 und 24,10.17). Im Licht Gottes stehend, hat er einzugestehen, dass er sich befleckt hat. Dies gilt es zu bekennen, ohne die eigene Person zu schonen, und dabei muss unverhohlen die Wahrheit gesagt werden. Ein Täuschungsversuch würde nur die Schuld vermehren. Als wahrer Gläubiger weiß der schuldig Gewordene, dass er es mit dem Gott zu tun hat, dessen Augen wie eine Feuerflamme sind, und dass er in echter Beugung und mit Beschämung vor Ihn hintreten muss als ein Aufrichtiger, „in dessen Geist kein Trug ist“ (Vers 2; Ps 51,8).

Wenn ein Übertreter erhofft, dass Gott eine Sünde zudecken wird (Vers 1), dann muss er selbst sie zuvor rückhaltlos aufdecken. Sein Innerstes muss sich offenbaren, seine Seele muss sozusagen durchpflügt sein. „Denn die Betrübnis Gott gemäß bewirkt eine nie zu bereuende Buße zum Heil“ (2. Kor 7,10). Das wahrheitsgemäße Bekennen der Sünde begründet jedoch nicht einen Anspruch auf Vergebung. Der Bittsteller kann nur dann Befreiung von seiner Schuld erwarten, wenn er im Glauben an den „vergebenden Gott“ ausschließlich auf Gnade rechnet (Ps 25,11; 99,8; 103,3; 130,4). Nicht eigene Einsichtsfähigkeit oder ein Bekenntnis zu moralischen Grundsätzen geben den Ausschlag, sondern das bloße Vertrauen auf die Gnade. Unter Anerkennung dessen, was die Schrift sagt, darf der Schuldbewusste den Mut haben, seine Sünde vor dem Heiligen Gott offenzulegen. Dabei muss das Herz ungeteilt auf Gott ausgerichtet sein.

Wer Vergebung empfangen hat, vertraut zu Recht auch auf die göttliche Treue, die eine einmal vergebene Schuld nie wieder aufgreifen und vorwerfen wird (Jer 31,34b; Mk 2,5; Heb 10,17). Insofern ist es völlig berechtigt, nun kein Gewissen mehr von dieser Sünde zu haben (Heb 10,2). Es gibt keinen Grund mehr, sie sich von neuem ins Gedächtnis zurückzurufen, und ebenso wenig haben andere dies dem Wiederhergestellten gegenüber zu tun. Was Gott tut, ist für immer vollendet, sonst könnte „der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist“, danach nicht wahrhaft glückselig sein (Vers 1). Die diesbezüglichen Zusagen der Heiligen Schrift unterliegen keiner Veränderung. Nach Gottes Beschluss ist es der Ihn ehrende wahre Glaube, der die Befreiung von Schuld ermöglicht.

Wer nach dem Maßstab der Heiligen Schrift ein Gott gemäßes Empfinden über seine Schuld hat, versteht auch, dass er sich an Gott Selbst mit der Bitte um deren Vergebung wenden muss. Nur auf diesem Weg kann er die Gewissheit der Vergebung seiner Schuld erlangen.

„Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh 1,8). Indem der Gläubige eingesteht, dass er durch Sünde seinen Herrn und den Heiligen Geist betrübt hat, beweist er seinen Glauben und zeigt, dass er in lebendiger Verbindung mit Gott steht. Solange er seine Schuld vor Gott verschweigt, kommt sein Gewissen nicht zur Ruhe; er fühlt sich seelisch und körperlich belastet (Verse 3 und 4; Ps 38,3–5 und 51,9f). Doch wie David kennt er den durch Gott gegebenen Weg zur Reinigung seines Gewissens und zur Befreiung von der Schuld, die er auf sich geladen hat. Nach einigem Ringen kam David zum Eingeständnis vor Gott und sagte Ihm die ganze Wahrheit (Vers 5). „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Damit die völlige Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt wurde, nannte David seine Übertretungen mit Namen und erfuhr auf seine Buße und das vorgebrachte Bekenntnis hin Vergebung. Daraufhin kehrte ungeschmälerte Glückseligkeit in sein Herz zurück. Bei dem allem durfte ihm das Bewusstsein, von der Gnade Gottes abhängig zu sein, nicht fehlen. Auch hatte er darüber nachzudenken, was ihn zu Fall gebracht hatte, damit er zukünftig mit mehr Wachsamkeit auf sich selbst achtete, um vor dem Wiederholungsfall, aber auch vor Selbstgerechtigkeit bewahrt zu bleiben (Spr 28,13.14). „Sollten wir in der Sünde verharren, damit die Gnade überströme? Das sei ferne“ (Röm 6,1f).

Du hast die Ungerechtigkeit meiner Sünde vergeben“ (Vers 5b). Mit diesen Worten bestätigte David voller Freude und Dankbarkeit, dass Sich Gott auf sein Bekenntnis hin als „ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Güte“, erwiesen hatte (Neh 9,17). „Zur Zeit, da du zu finden bist“ (Vers 6), war ihm geholfen geworden: „Bei dir ist Vergebung“ (Ps 130,4). Daher konnte er die Empfehlung weitergeben: „Deshalb möge jeder Fromme zu dir beten“ (Vers 6 Anm.). Wer sich verschuldet hat, soll nicht zögern, die ihm gewährte Gnade wahrzunehmen. Bei dem Eingeständnis der Sünde vor Gott gilt es, sich rückhaltlos der Barmherzigkeit des Herrn anzuvertrauen. Das menschliche Herz ist in solch unangenehmer Situation leicht auf Selbstschutz bedacht. Doch nur der Schutz, den die Gnade Gottes gewährt, garantiert Sicherheit, gerade auch dann, wenn „große Wasserfluten“ heranrollen (Vers 6). David kannte keinen geeigneteren ‚Bergungsort'. Gott in Demut und Beugung aufzusuchen, hat „Rettungsjubel“ zur Folge (Vers 7). Der Glaubende schaut nicht auf das Sichtbare, sondern auf Gott; es gibt für ihn keine hindernden Umstände, sich an seinen Gott zu wenden, dessen Liebe er kennt und von dem er weiß, dass Seine mächtigen Hände ihn zu wahrer Glückseligkeit führen möchten.

Die Überschrift des Psalms „Ein Maskil (oder: Unterweisung, Lehrgedicht)“ nimmt Bezug auf Vers 8, der von Unterweisung und Belehrung redet. Nachdem die vorhergehenden Verse besonderes Gewicht auf das Wiedergewinnen ungetrübter Gemeinschaft mit dem heiligen Gott und auf die Reinigung des Gewissens gelegt haben, geht es jetzt darum, durch einen heiligen Lebenswandel in der Nähe des Herrn zu bleiben. Nur wer nahe bei Ihm ist, kann durch Sein Auge geleitet werden. Das Herz, das so zu Ihm steht, und das Auge, das gerne zu Ihm aufblickt, wird die Erfahrung machen, dass Gott die Verheißung wahrmacht: „Ich will dich unterweisen und dich den Weg lehren, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Vers 8). Im Brief an die Heb 4,12.13 wird das Auge Gottes so eng mit Seinem heiligen Wort verbunden gesehen, als handele es sich um dieselbe Sache. Tatsächlich ist ja das Wort Gottes der Ausdruck Seines Wesens und Seines Willens. Das Hinblicken auf Ihn und das Befolgen Seines Wortes ist für das Erkennen Seines Willens unbedingt nötig. Wer in Gemeinschaft mit dem Herrn leben möchte, wird im Glauben zu Ihm aufschauen und begegnet dabei dem „Auge des HERRN“, das auf die gerichtet ist, die ihn fürchten (Ps 33,18 und 34,16). Ps 119,24 nennt die Zeugnisse des Wortes Gottes „meine Wonne, meine Ratgeber“. Auf solche Weise belehrt, irrt der Blick nicht in der Welt umher, und unser Weg wird wie von selbst geradlinig nach den Zielen unseres Herrn ausgerichtet sein.

Die Verse 9 und 10 warnen den Gläubigen vor den Irrwegen der Gottlosen, aber auch vor den schlechten Wegen derer, die manche gute Belehrung aus Gottes Wort gehört haben, um sie dann unbeachtet zu lassen. Sie fragen nicht nach Seinem Willen, sondern handeln ihm entgegen nach ihren eigenen Vorstellungen. Sie bereiten sich ihr Unglück selbst, und viele Schmerzen kommen hinzu, denn Gott muss ihnen mit Seiner Regierungsgewalt entgegentreten. Statt dass Güte sie umgibt, erleiden sie empfindliche Verluste. Statt sich durch göttliche Weisheit führen zu lassen, folgen sie ihren Trieben wie die unvernünftigen Tiere, jedoch mit weit schlimmerem Ergebnis. Die Gottlosen gehen schrecklichen Qualen entgegen, sie haben nichts Gutes zu erwarten (Vers 10). Die Bußfertigen hingegen, die in Aufrichtigkeit ihre Sünden bekannt haben, ihre falschen Wege verlassen haben und sich durch Gottes Wort leiten lassen, sehen einer ewig herrlichen Zukunft entgegen. Schon jetzt erfreuen sich die Gerechten in dem HERRN im Glauben und frohlocken in der Gemeinschaft mit Ihm (Vers 11).

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