Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 28

Mit den Worten: „Zu dir, HERR, rufe ich“ beginnt der Psalm. Was veranlasst hier David, den HERRN anzurufen? Zum einen zwingt ihn eine augenblickliche Notlage dazu. Er braucht Hilfe gegenüber seinen Feinden, den Gottlosen, und sucht innerliche Ruhe und Hoffnung für seine Seele in einer trostlosen Lage. Zum anderen ruft er um Hilfe von oben, weil nur Gott das Unheil, das ihm von außen droht, abwenden kann. Davids Glaube gibt ihm die Überzeugung, dass Gott dazu bereit ist. Der wahrhaft Fromme weiß sich in allem von Gott abhängig; auch steht er in bewusster Beziehung zu Ihm und pflegt diese immerfort im Glauben. David betet zu einem HERRN, den er längst kannte als seinen persönlichen Gott und dem er völlig vertraute. Der HERR hatte schon oft sein Herz ruhig und glücklich gemacht und hatte ihm Anlass zu tiefer Dankbarkeit gegeben. Im Warten auf Gottes Eingreifen in den äußeren Dingen besaß er langjährige Übung, ebenso im richtigen Verhalten als Beter vor Gott. Dem HERRN galt Davids ganze Liebe und Wertschätzung. Der HERR war für ihn der Retter, ein sicherer Fels, ein undurchlässiger Schild und der unüberwindlich Stärkere und darüber hinaus der allmächtige und allwissende Gott, dem alle Menschen verantwortlich sind, ein Gott, der keine einzige Tat und keinen Gedanken des Menschen übersieht oder vergisst. Er ist der vollkommen gerechte Richter, der das Böse bestraft, aber das Gute anerkennt und belohnt, und ein guter Hirte, der Sein Volk führt und versorgt.

David sieht sich, den Gesalbten Gottes, und das ihm anvertraute Volk (Verse 8 und 9) in diesem Psalm vielfach im Gegensatz zu den Gottlosen, die Gottes Taten nicht sehen und nicht verstehen und Ihn als den Allmächtigen und Allgegenwärtigen nicht anerkennen wollen. Sie wollen nicht Seine Geschöpfe sein, sie leugnen, von Ihm als Schöpfer abhängig zu sein, und fühlen sich Ihm nicht verantwortlich. Ihr Gewissen leidet zunehmend Schaden, weil es im Lauf eines Lebens ohne Gott immer weniger in Tätigkeit tritt. David möchte denen, die Gott verachten, nicht gleichgestellt sein. Auf ihr Gebet hört der HERR nicht. Wenn Er nun auch zu Davids Gebet die Antwort verweigern und schweigen würde, dann unterschied David nichts mehr von denen, „die in die Grube hinabfahren“, und das hieße, dem Tod verfallen zu sein (Vers 1; Ps 26,9). Ein solcher Gedanke war für David furchtbar, daher flehte er: „Wende dich nicht schweigend von mir ab!“ – „Höre die Stimme meines Flehens, wenn ich zu dir schreie, wenn ich meine Hände aufhebe gegen deinen heiligen Sprachort!“ (Vers 2). Die Tatsache, dass Gott einerseits das Gute belohnt, andererseits aber das Böse bestraft, macht auf praktische Weise offenkundig, dass Er heilig und gerecht ist und alle Vorgänge beobachtet. So offenbart sich Gott im Leben des Einzelnen und in der Geschichte der Menschen als der vollkommene Richter und als der allein gute Gott. Alle Vorkommnisse in dieser Welt unterliegen dem Urteil Gottes. Seine Rechtsprechung, die sich überall in der Heiligen Schrift offenbart, versagt nie, sie unterbleibt in keinem Fall (Heb 4,12.13).

Aus Prinzip wollte David sich nicht mit den Gottlosen verglichen oder gar vereint sehen. Dies brachte er sichtbar zum Ausdruck, indem er sich von ihnen absonderte. Mit solchen, „die friedlich reden mit ihrem Nächsten, und Böses ist in ihrem Herzen“, in irgendeiner Form zusammen zu sein, wäre ein Gräuel für ihn. In solcher Gesellschaft wollte er von den alles durchschauenden Augen des HERRN nicht gefunden werden (Vers 3; Ps 55,21.22; Spr 26,24), weil sie in der Tat Gefolgsleute des Vaters der Lüge sind. Sie täuschen, um irrezuführen. Zu spät merken die Betrogenen, wem sie gefolgt sind. David wollte, dass Gott, nicht aber er selbst, ihnen vergilt entsprechend ihrem Betragen und nach der Bosheit ihrer Taten. „Denn sie achten weder auf die Taten des HERRN, noch auf das Werk seiner Hände. Gott wird sie zerstören und nicht bauen“ (Verse 4 und 5); das will sagen, dass der HERR ihrem Tun niemals Vorschub gewährt; Er schafft nicht die Gelegenheit zum Bösen und gibt dazu kein Gelingen. Das Urteil Davids über diese Gottlosen entspricht göttlichen Gedanken, es ist Gottes Urteil über das stets zu verabscheuende Böse. Die Frevler zu vernichten, war die Angelegenheit des Richters der ganzen Erde. Der HERR wird sie vernichten, ohne ihnen eine Gnadenfrist zu gewähren (Vers 5; Jes 3,11; 2. Tim 4,14). Gleichwohl blieb es Davids Pflicht, Stellung zu beziehen zu den vorliegenden üblen Machenschaften und sie ans Licht zu bringen. Diese Aufgaben hat er als König Israels in Treue wahrgenommen. „Der Könige Ehre (ist es) eine Sache zu erforschen“ (Spr 25,2).

In der Haushaltung des Gesetzes galt das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn ...“ (2. Mo 21,24), daher auch die häufige Bitte in den Psalmen um Rache an den Feinden. Der Herr Jesus jedoch lehrte seine Jünger: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44) und „tut wohl denen, die euch hassen, segnet die, die euch fluchen, betet für die, die euch beleidigen.“ (Lk 6,27f).

David durfte zum Schluss dankbar bestätigen, dass Gottes Gnade sich seiner angenommen und ihn erhört hatte (Vers 6). Daraus erwuchs ihm neue Kraft im Glauben. Auf sein Vertrauen hin war ihm geholfen worden (Vers 7). Er wurde dafür belohnt, dass er nicht auf sich selbst und auf eigene Machtmittel vertraut hatte. Nun hatte er neuen Anlass, seinen HERRN zu loben. Wie für ihn, den zum König Gesalbten, so ist der HERR auch für das Volk die Rettungsfeste und die Stärke. Dies gilt für die Gläubigen aller Zeiten. Sie sind in gleicher Weise auf den HERRN angewiesen und empfinden, dass alles, was sie unternehmen, die Kraft und die Leitung von oben nötig hat (Vers 8). Indessen ist mit Unterstützung nur bei bewusster Unterordnung unter Gott und Sein Wort zu rechnen, und dies in der Gemeinschaft mit Ihm, im Glauben und in der Liebe zu Ihm. Zuletzt werden Davids Gedanken wieder von der Liebe zu Gottes Volk und Erbteil bewegt. Er, der selbst ein Hirte gewesen war, sieht sie insgesamt mit dem HERRN verbunden und bittet den Erzhirten, das Volk zu weiden und sie zu tragen bis in Ewigkeit (Vers 9; Jes 40,11; 1. Pet 5,4).

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