Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 60

Es handelt sich bei diesem Psalm um ein Lehrgedicht, als David „mit den Syrern von Mesopotamien und mit den Syrern von Zoba kämpfte und Joab zurückkehrte und die Edomiter im Salztal schlug“ (Verse 1–2; 2. Sam 8,1–14; 1. Chr 18,1–13). Nach dem Bericht dieses Psalms befand sich Gottes Volk also in einer Kriegssituation, die aber mit einem Sieg endete. Nach den in der Schrift niedergelegten Gedanken Gottes sollten die in den Versen 8 bis 11 genannten Länder zum Herrschaftsbereich Israels gehören und ihm unterworfen werden. Israel konnte sich jedenfalls der Einsicht nicht verschließen, dass die Katastrophe auf Veranlassung Gottes eingetreten sein musste (Vers 3). Sie machten indessen nicht den Fehler, des Herrn Züchtigung zu missachten, sondern beugten sich unter Seine mächtige Hand. Wenn Gott es war, der sie als Geschlagene vor dem Feind zurückweichen ließ, dann konnte und musste nach allem Dafürhalten die Hilfe auch von Ihm kommen. Es ist hier keine Rede davon, dass eine bestimmte Sünde wie zu Josuas und Achans Zeiten oder eine anderweitige falsche Haltung des Volkes vorlag. Dennoch musste der demütigende Vorfall einen wichtigen Anlass haben. Grundsätzlich hatten sich Gottes Güte und Treue ihnen gegenüber nicht geändert. Daher konnte es nicht anders sein, als dass die Züchtigung zu ihrem Besten dienen sollte. Angeraten war, sich ernstlich vor Gott zu prüfen, sich in der Selbsterkenntnis zu üben und zur Korrektur einer falschen Haltung bereit zu sein. Gab es denn überhaupt einen triftigen Grund, daran zu zweifeln, dass Gott ihnen letztlich den Sieg geben werde? Wenn sie ein gutes Gewissen vor Gott hatten und aufrichtig waren, konnte Seinem weiteren Beistand eigentlich nichts im Weg stehen (Verse 11 und 12). Nach eingehender Selbstprüfung konnten sie Mut fassen, weiter zu kämpfen und für die Sache Gottes einzustehen.

Die Feststellung „Gott, du hast uns verworfen“ ist ihnen sicherlich nicht leichtgefallen. Gott hatte es für gut befunden, sie für eine gewisse Zeitspanne „verworfen“ und „zerstreut“ dastehen zu lassen (Vers 3). Sie waren verunsichert und vorläufig auch entmutigt. Sie zeigten sich dem Handeln Gottes gegenüber nicht gleichgültig. Es prüfte offensichtlich ihr Gewissen. Ihr zerstreutes Heer hatte die Schlagkraft verloren, die Gefahr der Auflösung war gegeben. Und doch hatten sie dem Grundsatz nach die Linie Gottes verfolgt. Ihre Feinde waren mit Sicherheit auch Seine Feinde; deswegen fühlten sie sich durch den scheinbaren Misserfolg doppelt geschlagen. Es war, als ob sie Taumelwein getrunken hätten. Der Boden unter ihren Füßen schien zu wanken. Ihre Situation war kritisch, die Rückschläge und Verluste, die Risse und die Breschen in der Front waren eine Katastrophe. Alle Siegesgewissheit, jede Selbstsicherheit war dahin. Gott hatte sie „Hartes sehen lassen“, und sie erkannten darin Seine Hand (Verse 3 bis 5; Hiob 5,17.18; Ps 44,10; Jes 8,8). Trotzdem gaben sie sich nicht der völligen Entmutigung hin, sondern baten um Wiederherstellung und Unterstützung. Sie rechneten damit, dass Sein Zorn sich legen werde und dass Er ihnen erneut Güte zuwenden werde. An ihrem Glauben wollten sie festhalten.

Im Blick auf die mangelnde Kampfkraft des Heeres und die allgemeine Entmutigung entstand die Frage, woher Kraft und neuer Mut kommen sollten, die das Volk wieder zu schlagkräftiger Einheit und fester Ordnung zurückführen konnten. Ihr Unvermögen lag auf der Hand. Doch das Wichtigste hatte ihnen – wie seit jeher den Gläubigen – kein Feind nehmen können: sie besaßen Gottesfurcht und Liebe zur Wahrheit. Sie waren Geliebte des HERRN, dessen rechte Hand sie als Volk schon oft aus größter Gefahr befreit hatte (Verse 6 und 7; 5. Mo 7,7–9; Ps 71,20; 94,14; Jes 41,10). Nur Er Selbst konnte sie zurückführen (Ps 85,5). Gott Selbst musste ihnen ein Banner aufrichten (Vers 6). Er Selbst musste für die Gottesfürchtigen den Bezugspunkt darstellen, um den sich die Taumelnden scharen und wieder sammeln konnten. Nur der Blick auf Ihn Selbst konnte ihnen den Zusammenhalt als Kämpfer Gottes geben. So blieben sie davor bewahrt, hilflos umherzuschauen und auf widersprüchliche Signale zu hören. Auf Seine Treue rechnend, konnten sie wieder Sicherheit und Vertrauen gewinnen, auch wieder geeint dastehen und mit Recht auf den Sieg hoffen. Gott kann eine Niederlage jeder Art dazu benutzen, um zu der Einsicht zu führen, dass man – vielleicht unbewusst – für sich selbst gekämpft hat anstatt allein für Seine Sache. Eigene Interessen mochten sich eingeschlichen haben und konnten in den Vordergrund treten. Eigenwillige Vorstellungen von dem Auftrag und der Zielsetzung machen uneins. Festgefügte Ordnungen und kameradschaftliches Zusammenhalten können die geistliche Einheit der Herzen nicht ersetzen. Die Ziele Gottes und die Einheit des Geistes sind es, die die Herzen dauerhaft zusammenhalten. Dann bleibt die Zielrichtung einheitlich und klar. Alle werden miteinander auf das ihnen vom Himmel gegebene Banner ausgerichtet sein und dadurch gelenkt werden: „Und es wird geschehen an jenem Tag: Der Wurzelspross Isais, der dasteht als Banner der Völker, nach ihm werden die Nationen fragen; und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein“ (Jes 11,10). Um dieses Banner wusste bereits Mose im Kampf gegen Amalek: „Und Mose baute einen Altar und gab ihm den Namen: Der HERR, mein Banner“ (2. Mo 17,15). Bleibt der Blick auf Ihn gerichtet, dann gibt es kein Wanken und Verzagen (Vers 6). Dann ist klargestellt, dass der Kampf gegen die Feinde eine Sache Gottes ist, die Er zum Ziel führt.

Die zweite Hälfte des Psalms steht in deutlichem Kontrast zu den ersten sieben Versen. Allem Anschein nach hatten die demütigenden Rückschläge die von Gott beabsichtigte Wirkung gehabt. Durch eine innere Erneuerung war das Volk nun gut vorbereitet, die Gebiete als Besitztum einzunehmen, die Gott ihnen zugedacht hatte (Verse 8 bis 10; Ps 89,34–38). Nach der Niederlage lag auf der Hand, dass nicht ihre eigenen Kräfte zum Sieg verhelfen würden, sondern allein die zu ihren Gunsten wirkende Rechte Gottes (Vers 7). Sollte der Feldzug Davids Erfolg haben, dann musste Gott Selbst der eigentliche Anführer sein. Im Glauben zuversichtlich geworden, waren sie sicher, dass Gott wieder mit ihren Heeren ausziehen würde. Nur wenn Seine Allmacht mit ihnen war, konnten ihre Unternehmungen zum guten Erfolg führen. „Mit Gott werden wir Mächtiges tun“ (Vers 14).

Die Zusagen der Verse 8 bis 12 können als Prophezeiung zukünftiger Ereignisse aufgefasst werden. Nachdem der Herr Jesus Christus als Messias Israels auf diese Erde zurückgekehrt sein wird, führt Er den Sieg herbei als Immanuel. Dieser Name hat die Bedeutung „Gott mit uns“ (Jes 7,14; 8,8–10; Mt 1,23; Lk 1,30–33). Nur Er kann Israel in das Land und die Hauptstadt der Feinde führen (Verse 11 und 12; Ps 108,11; Hes 25,12–14). Dann liegt auf der Hand, dass die ganze Erde Sein Eigentum ist, welches Er nach Seinem Willen verteilt. Das Werfen der Sandale in Vers 10 ist ein symbolisches Zeichen für die Besitzergreifung. Edom wird Gegenstand Seines Gerichts sein. ‚Gott wird Sein Recht auf das Land der Verheißung behaupten‘ (Darby). Der noch zukünftige Sieg gehört dem Herrn und den Getreuen Seines Volkes Israel (Verse 13 und 14).

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