Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 61

Hier ist ein Gebet aufgezeichnet, das zunächst eine gewisse Niedergeschlagenheit zum Ausdruck bringt (Verse 2 und 3. Dennoch wandte sich der Beter weiterhin im Glauben an seinen Gott. Statt sich der Verzweiflung hinzugeben, schrie er zu Gott, obgleich er das Gefühl hatte, weit weg von Gott und Menschen am Ende der Erde allein und verlassen dazustehen (Vers 3). Da war nichts mehr, worauf er hätte zählen können. Wenn noch einer ihm nahe war und seine geängstigte Stimme wahrnahm, dann war es Gott. So fasste er den Entschluss, Ihn aufzusuchen und in Seiner Nähe zu bleiben. Für den allgegenwärtigen Gott machte es nichts aus, dass er „vom Ende der Erde“ her zu Ihm rief. Mit Recht vertraute er darauf, dass Gott wie kein anderer seine Umstände sah und Interesse daran nahm. Mit seinen eigenen Kräften und Hilfsmitteln war er am Ende, sein Selbstbewusstsein war geschwunden. Die auf ihn eindringenden Wogen bedrängender Umstände schlugen sozusagen über ihm zusammen. In seiner Not sah er sich allein auf Gott geworfen. Er vertraute darauf, bei Gott Geborgenheit zu finden und wieder zur Ruhe zu kommen (Verse 2 bis 5; Klgl 3,19–24).

Angesichts der übermächtigen Wogen niederdrückender Ereignisse konnte sein Zufluchtsort nur ein hochragender, uneinnehmbarer Felsen sein (Vers 3b), der den Gefahren trotzte und ihm Standfestigkeit und Schutz garantierte. Er selbst fühlte sich zu schwach, um dort hinauf zu gelangen. Doch er traute es der Liebe Gottes zu, dass sie ihn zu sich nach oben auf den Felsen hinaufbringen würde. Dort war er in Sicherheit, und dort möchte er für immer weilen (Vers 5). Von der Furcht befreit, konnte er jetzt wie von einem starken Turm aus getrost auf seine Feinde herabblicken (Vers 4). Er fühlte sich nicht mehr allein gelassen. Die zermürbenden Anfechtungen hatte er sozusagen unter seine Füße bekommen (Ps 27,5; 40,3; Spr 18,10). Ein großer Vorteil war es für den Psalmdichter, dass er diesen ‚Felsen' und den ‚Turm' schon aus Erfahrung kannte. Er wusste um Gottes unveränderliche Hilfsbereitschaft, er kannte Seinen Namen, Seine Treue und Fürsorglichkeit. In der Überzeugung, dass sich Gottes Güte auch diesmal wieder seiner annehmen werde, gewann er neuen Mut im Glauben. Wenn sich der Gläubige neuen Erprobungen ausgesetzt sieht, bedarf er der Erneuerung seiner Zuversicht. Was er bisher an Hilfe und Trost von oben kennengelernt hat, bedarf der Ergänzung durch neue Glaubenserfahrungen.

Gott hatte für den Psalmdichter die so nötige Zuflucht bereitgehalten. Zudem besaß er einen ewigen Wohnort bei Gott, wie Vers 5 es eindeutig feststellt. Er freute sich über das Vorrecht, einst für immer ein Hausgenosse Gottes zu sein. Dieses Heil, nämlich geborgen zu sein in ewigem Wohlergehen bei Gott, war für ihn jetzt schon eine Gewissheit, es war die sichere Hoffnung und das Ziel seines Glaubens. Von der Verheißung Gottes überzeugt, verwirklichte der Dichter bereits jetzt das, was er noch nicht sah (Heb 11,1f). Aufgrund der Zusagen Gottes hat der Gläubige unter dem Schutz Seiner Flügel eine Wohnung und darf dort für immer bleiben. Ihm ist „das Erbteil derer gegeben, die deinen Namen fürchten“ (Vers 6; Ps 23,6; 91,1; Dan 12,13). Wahrer Glaube rechnet fest auf diese Belohnung am Ziel des Weges und ehrt dadurch Gott. Auch dieser ‚Felsen' wäre für die eigenen Kräfte viel zu hoch (Vers 3), wenn Gott den Gläubigen nicht durch die Macht der Auferstehung dorthin holen würde. Das ewige Leben in Seinem Haus ist eins der wunderbar großen Geschenke Seiner Gnade an den, der auf Erden an Ihn geglaubt hat. Wer hier im Glauben mit Ihm gelebt und Ihn verehrt hat und wer an den Verheißungen der Schrift seine Freude hat, der wird Seinen herrlichen Namen in Ewigkeit besingen, sein „Erbteil wird ewig sein“ (Ps 37,18).

In den Versen 7 bis 9 steht ebenfalls das ewige Leben im Blickfeld. Die Verse sprechen prophetisch von Christus, dem König, wie Er bereits in Ps 21 vorgestellt wird. Die Tage Christi auf Erden schienen durch Sein Sterben am Kreuz zu Ende gekommen zu sein, aber Seine Lebenszeit wurde von Gott verlängert: „Seine Jahre werden sein wie Geschlechter und Geschlechter“ (Vers 7; Ps 21,5; Off 1,18). Zunächst traf die Zusage von der Auferstehung und dem ewigen Leben allein auf den Herrn Jesus zu. Christus wurde als erster Mensch aus den Toten auferweckt, um ewig zu leben. Und durch Seine Auferstehung ist ewiges Leben für einen Menschen erst möglich geworden. Wenn auch – wie unser Psalm zeigt – das Leben des Königs David unter der besonderen Obhut Gottes stand und trotz einer Vielzahl von Gefährdungen bewahrt blieb, so ist David doch gestorben und wurde begraben. Aber David besaß die feste Zusage Gottes, dass einer seiner Nachkommen der Christus, der Messias Israels, sein würde (Apg 2,29–36). Von Ihm sagt Ps 102, 25. 28: „Von Geschlecht zu Geschlecht sind deine Jahre...“ „und deine Jahre enden nicht“. „Und wer wird sein Geschlecht aussprechen?“ (Jes 53,8). Der Vers 8 des vorliegenden Psalms sagt voraus: „Er wird in Ewigkeit bleiben vor dem Angesicht Gottes“. Der Engel Gabriel verkündete Maria, der Mutter Jesu: „Du sollst seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit“ (Lk 1,31–33). In Psalm 40,12 hören wir vorausblickend die Bitte des Herrn Jesus als Mensch auf Seinem Weg über diese Erde: „Deine Güte und deine Wahrheit lass beständig mich behüten!“. Ähnlich lautet auch die Bitte in Vers 8 dieses Psalms: „Bestelle Güte und Wahrheit, dass sie ihn behüten!“ Gnade und Wahrheit sind es, die die Person und das ganze Leben des Herrn Jesus auf der Erde kennzeichnen; „denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). Güte und Wahrheit offenbaren sich in herrlicher Fülle in Ihm, dem wahren Sohn Davids, dem Herrn Jesus Christus. Sein Werk am Kreuz kommt auch dem Psalmdichter zugute. Es wird David in die Lage versetzen, den Namen Gottes auf ewig zu besingen und das zu „bezahlen“, was er als Gelübde zur Ehre Gottes ausgesprochen hat (Verse 6 und 9). Schon zu seinen Lebzeiten bekam David durch Gottes Gnade viel Gelegenheit, das Gelöbnis, Gott zu ehren, zu erfüllen.

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