Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 145

Dieses Loblied lässt erkennen, was vor langer Zeit gottesfürchtigen Israeliten bei ihren Gottesdiensten vor Augen stand. Sie hatten die erhabene Größe Gottes so aus der Heiligen Schrift kennengelernt, wie dieses Lied sie vorstellt, und so kannten sie Ihn aus der Geschichte ihres Volkes. In der Schrift und in Gottes Handeln mit ihnen hatte sich Sein herrliches Wesen offenbart, und darin fand ihr Glaube eine grundlegende Stütze. Bei alledem war ihnen bewusst, dass ihre Vorstellungskraft Seine wunderbare Größe nicht zu erfassen vermochte. Denn die göttlichen Wundertaten übersteigen in ihren Auswirkungen die Grenzen dessen, was menschlicher Verstand erforschen kann (Verse 1 bis 3 und Vers 21; Ps 147,1–7). Nichts kommt Seiner Größe gleich. Niemand kann Seinem Namen etwas hinzufügen, und das gilt auch für die Lobeserhebungen selbst. Sie rühmen Gottes Erhabenheit, sie können sie aber nicht vergrößern. Indessen ist Ihm das Lob gottesfürchtiger Anbeter immer willkommen. Er möchte, dass sie noch mehr von Seinem Wesen erkennen, und nimmt es gerne an, dass geistliche Einsicht und ein Empfinden von Seiner Güte in der Anbetung Widerhall finden. Das Lob, das Ihm jetzt dargebracht wird, ist in mancher Hinsicht noch unvollkommen und lässt mitunter von der Jetztzeit geprägte Gedanken und menschliche Schwachheit durchblicken. Erst in der Zukunft, wenn alle Behinderungen beseitigt sind, wird das Lob uneingeschränkt Seiner würdig sein. Vom Beginn bis zum Schluss stellt dieser Psalm eine geistliche Lobeserhebung Gottes dar. Herz und Sinn des Dichters sind ausschließlich mit der herrlichen Größe Gottes befasst. Seine persönlichen Angelegenheiten finden keine Erwähnung. „Mein Mund soll das Lob des HERRN aussprechen“, so hatte er es sich vorgenommen und versagte sich alles andere (Vers 21).

Die Verse 4 bis 7 sprechen von Gottes Machttaten, von der herrlichen Pracht Seiner Majestät und von Seinen Wundertaten, von der Kraft Seiner furchtbaren Taten und schließlich von Seiner göttlichen Güte und Gerechtigkeit. Zukünftige Geschlechter sollen es dem Psalmdichter gleichtun und die Werke Gottes rühmen. Die Verkündigung der Größe Gottes bedarf keiner Abwandlungen. Sie darf geänderten Zeitläufen nicht angepasst werden, und dies gilt für die Heilige Schrift insgesamt. Die Beschreibungen des Wesens Gottes in der Schrift behalten für alle Zeiten ihre unendliche Kraft und Tiefe, sie führen zur Anbetung Seines Namens und dienen allezeit zur Ermunterung im Glauben. Die Gläubigen sind gehalten, das heilige Wort zu erwägen, damit sie lernen, Gott mit der gebührenden Ehrfurcht anzubeten und vermehrt zu Seinem Lob beizutragen. Die Verse 3 bis 7, 10 und 11 sowie der Schlussvers des Psalms rufen die Gläubigen dazu auf, sich viel mit Gottes Wort und besonders mit seinen Aussagen über die Wesenszüge der Herrlichkeit Gottes zu befassen. Sie sollen durch geistliches Wachstum in der Erkenntnis Gottes und „in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ zunehmen, das gilt besonders für die Gläubigen jetzt, damit sie die Tugenden (oder: Vortrefflichkeiten) dessen verkündigen können, der sie berufen hat (Kol 1,10.11; 1. Pet 2,9b; 2. Pet 3,18). Der Wunsch, das Wort und seine Lehre kennenzulernen, strebt dem hohen Ziel zu, den Herrn Selbst vermehrt zu erkennen (Joh 17,3). Schon Mose empfiehlt: „Gebt Majestät (oder: Größe) unserem Gott“ (5. Mo 32,3; Jes 63,7). Ein verständnisvolles Rühmen des Namens Gottes ist ein besonderer Ausdruck der Liebe zu Ihm (Mk 12,33).

Die Verse 8 bis 11 fahren fort, die Größe Gottes zu preisen, insbesondere Seine Gnade, Barmherzigkeit und Güte. Er erbarmt Sich über das von Ihm Geschaffene und stellt alles für seinen Bestand Notwendige bereit, denn ohne Seine ständige Einwirkung würde das Ganze zugrunde gehen. Die Schöpfung insgesamt existiert und lebt von der göttlichen Freigebigkeit, in der sich auch Gottes Treue widerspiegelt. Seine Güte gilt allen, „seine Erbarmungen sind über alle seine Werke“, darum loben Ihn alle Seine Werke (Verse 9 und 10; Ps 69,35; 103,22; 113,2–4; 146,6–9; 147,8f; 148). Das göttliche Wirken in Güte ist ein ständiges Zeugnis von der Liebe Gottes, es offenbart einen herrlichen Zug Seines Wesens. Er empfindet Mitleid mit den Schwachen, Kranken und Notleidenden, mit den Verirrten und den Geringgeachteten. Für den schuldig Gewordenen hält Er einen Weg des Heils bereit, wenn dieser seine Schuld Ihm gegenüber bekennt. Geordnete Verhältnisse, die verfallen sind oder zerstört wurden, stellt Er durch hilfreiche Maßnahmen wieder her. Gott gibt Mittel und Kräfte zur Heilung von Krankheiten und zum Schließen von Wunden. Nichts entgeht Seiner Aufmerksamkeit, nirgends bleibt Er teilnahmslos. Er nimmt Sich gleichermaßen der Angesehenen und der Geringen an. Er wendet sich den Kleinen wie den Großen zu. „Die Erde ist voll der Güte des HERRN“ (Ps 33,5; 119,64). Das tägliche Geschehen in der ganzen Schöpfung ist eine ständige Darstellung der Güte Gottes und zugleich eine Offenbarung Seiner Macht (Vers 11). Der Glaube verhilft dem Gottesfürchtigen dazu, die rechte Einsicht bezüglich dieser wunderbaren Vorgänge zu gewinnen und Gott, den Schöpfer, dafür zu rühmen (Vers 10; Heb 11,3). Der Gläubige erkennt unter anderem in den Abläufen innerhalb der Schöpfung die weise und gnädige Herrschaft des allein guten Gottes.

Von Vers 13 an bis zum Schluss befasst sich der Psalmdichter mit dem noch zukünftigen Reich Gottes auf der Erde. Der jetzige unsichere, in mancher Hinsicht in Unordnung geratene Zustand der Welt wird zu Ende kommen bei der „Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, die zu seiner Zeit zeigen wird der selige und alleinige Machthaber, der König der Könige und Herr der Herren, der allein Unsterblichkeit hat“ (1. Tim 6,14–16). Die Redeweise des Dichters wechselt in Vers 13 wieder zu der persönlichen Anrede „dein Reich...deine Herrschaft“. Von dem Zeitpunkt an, wenn Christus das Reich Gottes auf dieser Erde errichten wird, gibt es keinen anderen Machtbereich und keinen Herrscher mehr als nur die Regierung des Sohnes Gottes, des Herrn Jesus Christus; es ist ein „Reich aller Zeitalter“ (Vers 13; Ps 47,8–10; 83,19; 97,1.9; 146,10). Dies sagen sowohl die Propheten des Alten Testaments als auch die Schriften des Neuen Testaments voraus (2. Mo 15,18; 1. Chr 17,12f; Jes 9,6; Dan 2,44; 4,31; 6,27; Sach 14,9; Lk 1,33; Off 11,15; 19,6). Unter allen Völkern gilt dann nur noch das Gesetz Gottes und Seine Gerechtigkeit. Es wird dann keine sonstige Weisheit, keine Religion oder Ideologie und keine Machtausübung mehr geben; nichts dergleichen bleibt neben Gott oder gegen Ihn bestehen. Die Gegensätze zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern sind dann ausgeräumt, und Krieg gibt es nicht mehr. Alle Verhältnisse werden dem Willen Christi entsprechend neu geordnet. Das Böse wird insgesamt beseitigt werden. Dagegen wird das Gute überall zur vollen Geltung kommen. Alle werden Christus als den Herrn anerkennen, Ihn loben und ehren.

Überall tritt neben der Macht Gottes gleichzeitig auch Seine Barmherzigkeit und Fürsorge hervor. Dass Er die Fallenden und Niedergebeugten für immer aus ihrer Notlage befreit, wird Ihm zum Ruhm gereichen, ebenso die zu allgemeinem Wohl verbesserten Lebensumstände (Verse 14 bis 16; Ps 147,3). Man erwartet alles zum Leben Notwendige von dem Herrn Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Jeder sieht sich von Ihm abhängig und ist glücklich darin. Niemand hat mehr irgendein Unglück zu befürchten (Ps 104,27f; 136,25f). Allem Bedarf für Seele, Geist und Leib wird durch die Güte des Herrn entsprochen. Das Handeln des Herrn ist gerecht und zugleich gütig. Seine Regierung trägt überall den Charakterzug der Vollkommenheit, sie entspricht immer sowohl Seiner Heiligkeit als auch Seiner Liebe. In Seiner Allwissenheit beurteilt Er alle Dinge der Wahrheit entsprechend (Vers 17, 5. Mo 32,4; Zeph 3,5; Off 15,3).

Der letzte Teil des Psalms stellt wie die Verse 1 bis 12 in erster Linie die herrliche Größe Gottes vor. Dies ist der Grundton des ganzen Psalms, doch speziell spricht er von den Werken und dem Charakter Seiner Güte, die sich in dem vollkommenen Wohlergehen und im ewigen Heil der aus dieser Zeit und Welt Geretteten offenbaren werden. Von Vers 14 bis Vers 19 kommt Sein Wesen und Wirken in vielfältiger Weise Menschen zugute, deren Not und Mangel Er auf liebevolle Weise behebt. Indessen betont Vers 20, dass Er alle bewahrt, die Ihn lieben, nicht aber die Gottlosen, die Ihn und Sein Wort abgelehnt haben und daher dem ewigen Gericht verfallen sind. Keiner von ihnen findet sich unter denen, die Sein Heil genießen (Ps 50,16.17; 104,35; 1. Sam 2,9). Die mit ewigem Wohlergehen Belohnten sind solche, die an Ihn geglaubt und Zuflucht bei Ihm gesucht haben und sich von Ihm abhängig wissen (Ps 23,4–6). Sie sind es, „die ihn anrufen in Wahrheit“ (Ps 34,18–20; Klgl 3,55ff), und sie fürchten Ihn (Verse 18 und 19; Ps 103,17). Seine Gerechtigkeit hat entschieden (Vers 17), dass diese als Gerettete und Bewahrte in Sein Reich eingehen werden (Ps 97,10; Dan 7,27; Mt 7,21; 13,36–43; 18,3; 25,21.46).

Wer sich vor dem Wort Gottes und seinem Urteil nicht beugen will, der weist zugleich die Reinigung und Heiligung nach den von Gottes Wort festgelegten Maßstäben von sich. Doch als Unheiliger kommt er für das Lob des HERRN nicht in Betracht und der Eintritt in Sein ewiges Reich bleibt ihm verwehrt. Der Psalmdichter hatte sich Gott unterworfen und liebte Ihn (Vers 21). Daher war er als Anbeter willkommen. Die herrliche Größe Gottes, insbesondere Seine Gnade und Liebe, offenbaren sich im Neuen Testament in Christus. Doch Gottes Macht, Weisheit und Gerechtigkeit und das, was Ihn als Schöpfer kennzeichnet, wird mit der Errichtung des Reiches Gottes in der Person Christi auf der Erde zur vollen Darstellung kommen. Dann wird der Wunsch des Verses 21 in Erfüllung gehen, dass alles Fleisch und auch jedes andere „Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer ist, und alles, was in ihnen ist“, Seinen heiligen Namen immer und ewig preisen (Off 5,13).

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