Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 80

Der Psalm ist gekennzeichnet durch die dreimal wiederholte Bitte von Bußfertigen aus Israel: „Führe uns zurück!“ (Verse 4.8.20). Zweifellos sind die Betenden selbst willens, zu Gott zurückzukehren, doch sehen sie es als notwendig an, dass ihre Umkehr und Rückführung von Gott bewirkt wird. Die Wiederherstellung, die ihnen widerfährt, soll Gott gemäß sein. Ohne Seine Hilfe sind sie verloren, sie brauchen Rettung durch Ihn. Ihr betend vorgetragener Wunsch enthält unausgesprochen das Bekenntnis, dass sie von Gott abgeirrt waren und Ihn auf ihren eigenwilligen Wegen verunehrt und erzürnt hatten. Dies hatte Züchtigung zur Folge. Ähnliche Gedanken finden sich in Jeremia 31,18.19: „Du hast mich gezüchtigt, und ich bin gezüchtigt worden wie ein nicht ans Joch gewöhntes Kalb; bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der HERR, mein Gott. Denn nach meiner Umkehr (oder: Bekehrung) empfinde ich Reue“. In Klgl 5,21 heißt es: „HERR, bring uns zu dir zurück, dass wir umkehren!“ Schon am Schluss des vorhergehenden Psalms 79 haben Israeliten bekundet: „Wir (sind) dein Volk und die Herde deiner Weide“. Genauso verstehen sie sich im vorliegenden Psalm als Seine Herde und als Gottes Volk, das zwar auf Abwegen war, das aber nach wie vor Ihm gehört. Nun ist es zur Einsicht gekommen und will zu Ihm zurück, um, von Ihm geleitet, wieder zu der Quelle alles Segens zurück zu gelangen. Sie sehen sich als einen Weinstock an, den Er einst aus Ägypten herausgeführt hatte, und bitten Ihn, sich doch dieses Weinstocks wieder anzunehmen (Vers 9ff). Dazu erwarten sie, dass Gott als Retter einen „Menschensohn“, einen „Mann deiner Rechten“, sendet (Vers 18). Sie geloben, dass sie dann nicht wieder von Gott abweichen werden. Offensichtlich schauen sie aus nach dem Messias, der inzwischen in Jesus Christus erschienen ist und in zukünftiger Zeit als der Herr und als Sohn des Menschen für die Gläubigen aus Israel erneut als Retter erscheinen wird (Mt 24,37.42.44; Apg 3,19–21). Dann wird Gott Sein Werk an Israel durch den „Menschensohn“, das heißt durch Jesus Christus, wiederaufnehmen und es vollenden. Doch müssen unter ihnen in jener kommenden Zeit ein Sehnen nach Rettung und die Bereitschaft zur Rückführung in die Gemeinschaft mit Ihm vorhanden sein. Die Gläubigen zeigen hier deutlich, dass sie die göttlichen Verheißungen wertschätzen; sie möchten, dass Sein Wille zustande kommt. Sie erkennen die Ansprüche Seiner Heiligkeit an und wünschen, dass die Ziele Seines Ratschlusses bald erreicht werden.

Von Ihm, dem Heiligen und Herrlichen, der zwischen den Cherubim thront, möchten sie von neuem als Seine Herde geleitet werden (Vers 2; Ps 77,21; 78,52.72; 79,13; 2. Mo 25,22). Nachdem sich das Volk viele Jahrhunderte lang der göttlichen Führung widersetzt hatte, ist dies eine gute, Gott wohlgefällige Haltung. In Jes 4,2.3 wird prophetisch von ihnen gesagt, dass jeder dieser Gläubigen aus Israel „heilig heißen wird“ und „zum Leben eingeschrieben ist“. Es sind die dem Gericht „Entronnenen“, der Überrest Israels in der kommenden Endzeit. Hier wünschen sie die Ankunft des Messias herbei mit den Worten: „Komm zu unserer Rettung!“ (Vers 3) Dabei soll sich die Macht Gottes vor ganz Israel offenbaren. Die frühere Verbindung ihrer Stämme soll als die einst von Gott gegebene Ordnung wiederaufleben. Sie nennen drei Stämme, die in der Zeit des Anfangs schon unter einem Banner (einem gemeinsamen Feldzeichen) miteinander verbunden waren (4. Mo 2,18–24). Diese Stelle zeigt, dass die Lade in der Mitte des Volkes vor den drei genannten Stämmen ziehen sollte! Sie waren also der Lade am nächsten – ein Ehrenplatz, als ob Gott sie persönlich und direkt leitete! Nur Gott kann die bis heute noch fehlenden Stämme wieder hinzufügen (Jes 43,5f; 49,17f; 60,4). In jeder Hinsicht, innerlich und äußerlich, möchten sie als geeintes Volk Gottes wiederhergestellt werden und bitten: „Führe uns zurück“ und „lass dein Angesicht leuchten!“ (Vers 4; Dan 9,17). Nur durch Begnadigung kann ihre Rettung Wirklichkeit werden; auf ihren Sinneswandel hin wird Gott dazu bereit sein. Sie zeigen hier ihre Bereitschaft, sich zurechtbringen und zur Gerechtigkeit zurückführen zu lassen (Jes 53,11).

In den Versen 5 bis 8 erkennen die Bußfertigen an, dass ihre Leiden die Folge ihres Ungehorsams sind. Denn zweifellos war es Gott, der eine Menge von Feinden zur Bestrafung gegen sie ausgesandt hatte. Sein gerechter Zorn hatte eine schwere Zeit der Drangsal über sie kommen lassen. Mit aller Strenge mussten die Ansprüche Seiner Heiligkeit ihnen gegenüber zum Ausdruck kommen. Sie hingegen sollten zur Einsicht ihrer großen Schuld kommen, und das führte dazu, dass sie das Ausmaß Seiner Gnade richtig einzuschätzen wussten. Sie sollten in einer Gott gemäßen Weise erkennen, warum ihre Gebete kein Gehör mehr gefunden hatten (Jes 1,15; Klgl 3,44; Jak 4,8–10). Dazu trugen nun sowohl der Zorn des HERRN der Heerscharen bei als auch ihre echte Betrübnis der Sünde wegen, und nicht zuletzt sollte auch der Spott der Feinde sie zum Nachdenken bringen. Der Psalmdichter als Sprecher der Umkehrwilligen bittet nicht einfach um Verschonung von den Züchtigungen, sondern bekennt sich in den Versen 6 bis 8 dazu, dass die Rettung von der Echtheit ihrer inneren Rückführung und Buße abhängig ist. Die Feinde waren lediglich die Werkzeuge, deren Gott Sich zu ihrer Züchtigung bediente (Verse 6 und 7; Ps 44,14f; 79,4; 5. Mo 28,37; Jer 48,27). Das Verständnis dieser Bußfertigen aus Israel bezüglich der Wege Gottes ist ein gutes Zeugnis von dem Glauben, den sie nun erneut gewonnen haben.

In den Versen 9 bis 17 befasst sich der Psalmdichter in dem Bild vom Weinstock mit der Entwicklung des Volkes Israel seit den ersten Anfängen in Ägypten bis in seine Gegenwart und darüber hinaus in der Zukunft. In Jesaja 5 wird Israel symbolisch als edler Weinstock bezeichnet, den Gott gepflanzt und mit größter Sorgfalt und Liebe gepflegt hatte. Dazu säuberte Er zunächst den dafür vorgesehenen Acker und machte dem Weinstock Raum (Vers 10; Jos 24,12f; Ps 44,3; Jes 27,2.3; Jer 2,21; Hos 10,1; 11,1). Aus Ägypten hatte Gott ursprünglich den,Weinstock' herbeigeholt. Dieser Vorgang wiederholte sich in dem ersten Lebensabschnitt des Herrn Jesus, als Joseph und Maria mit ihrem Erstgeborenen nach dem Geheiß des Engels in Ägypten Zuflucht nahmen vor dem mordgierigen Herodes und später nach dessen Tod ins Land Israel zurückkehrten (Mt 2,13–21). So pflanzte Gott in Christus Jesus den,wahren Weinstock', der wahrhaft Frucht bringt und vom Feind nicht verdorben werden kann (Joh 15,1f). Die Umkehr der gläubigen Juden zum HERRN wird im vorliegenden Psalm prophetisch vorausschauend beschrieben. Außerdem ist der Psalm auch auf Bußfertige zu beziehen, die in bereits vergangener Zeit zum HERRN umgekehrt sind. In den Versen 9 bis 12, die den Anblick des Landes Israel – vom Himmel her gesehen – wiedergeben, erinnern die gläubig gewordenen Juden Gott daran, dass Ihm ihre Vorfahren einst Freude gemacht hatten, als sie sich kraftvoll ausdehnten in dem Land, das Er ihnen als Wohngebiet zugesprochen hatte, nämlich bis ans Mittelmeer im Westen und bis an den Euphrat im Osten (Verse 10 bis 12; 5. Mo 7,1; 8,1.7ff; 11,24; 1. Kön 5,1.4). Wenn auch das Herrschaftsgebiet Salomos sich bis an den Strom Euphrat ausdehnte – ein Bild davon, dass dem Herrn einmal alle Völker unterworfen sein werden – so hat Israel als Volk das ganze Gebiet doch nie in Besitz genommen; das wird es aber in der Zukunft tun. Nun aber lag das ganze Land verwüstet, zerpflückt, kahlgefressen, zerwühlt und mit Feuer verbrannt vor Ihm. Sollte dieser elende Zustand nicht Sein Erbarmen hervorrufen und den Gedanken wecken, die Schutzmauern Seines Weinbergs, die Er niedergerissen hatte, wieder aufzurichten? (Verse 13 bis 15; Ps 89,40–47; Jes 5,5; Klgl 2,; 4,11; Nah 2,2f). War ihr Elend nicht dazu angetan, Ihn zu bewegen, mitfühlend auf sie herabzublicken, wie Er es einst in Ägypten getan hatte? Im Glauben an den barmherzigen Gott bringen sie den Mut zu der Bitte auf, Er möge sich ihnen wieder zuwenden, gnädig auf sie herabblicken und sich dieses Weinstocks annehmen (2. Mo 2,24.25; 3,16f; Jes 63,15).

Mit der Bitte des Verses 16 erinnert der Psalmdichter Gott an einen Setzling im Weinberg, „den deine Rechte gepflanzt hatte“, und an ein Reis, „das du dir gestärkt hattest“. In Israel gab und gibt es Geschlechter, die von ihren Vorfahren her besondere Verheißungen besitzen; sie sind Zweige dieses Weinstocks, sie alle sind derselben Wurzel entsprossen. Beispiele dafür sind das Haus des Pinehas und das Geschlecht Davids. Da Gott Seinem Wort treu bleibt, wird Er die Zusagen erfüllen, die Er ihnen in längst vergangener Zeit gemacht hat. Er wird Sein Wirken in Seinem Weinberg erneut fortsetzen und Israel wiederbeleben. Solche, die Er früher gestärkt hatte, konnte Er jetzt und in der Zukunft nicht fallen lassen. Die in der Heiligen Schrift in Bezug auf diese Personen und Familien festgelegten Beschlüsse wird Er zum Ziel bringen. Der Psalmdichter spricht auch als ihr Stellvertreter, wenn er gelobt, von Gott nicht abweichen und Seinen Namen anrufen zu wollen (Verse 18 und 19; Ps 85,5–8; Klgl 3,40f; Hos 6,1f;). Indessen geht es hier auch um Jesus, den größten Sohn aus dem Volk der Juden. Gott hatte einst Seinen Sohn aus Ägypten gerufen, damit dieser der Mann Seiner Rechten wurde (Vers 18; Ps 2,6–8; 8,5–7; 89,20–22; 110,1; Jes 42,1; Lk 22,69). Diesen „Menschensohn“, den „Mann deiner Rechten“, werden die gläubigen Juden der Zukunft als ihren Messias erwarten. Auf Ihm ruht ihre Hoffnung auf Rettung und Wiederherstellung. Wenn Er regiert, sind sie Ihm, ihrem Retter und König völlig ergeben; sie werden nicht wieder auf falsche Wege abweichen (Jer 32,40). Und in Seiner Gegenwart sind sie für immer bewahrt. Als der gute Hirte wird Er sie leiten. Zuletzt bittet der Psalmdichter noch einmal darum, dass Gott Gnade walten lassen wolle und die Bußfertigen zurückführen und wiederherstellen möge. Das Licht, das bei der kommenden zweiten Ankunft ihres Messias, des Herrn Jesus, in Erscheinung tritt, wird das Dunkel der Erde für immer vertreiben. Das wird die Rettung vieler Menschen zur Folge haben und für die ganze Erde zum größten Segen werden (Vers 20; Ps 60,3–7; 67,2–8).

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