Der Prophet Daniel und seine Botschaft
alter Titel: Notizen zum Buch Daniel

Einleitung

Der Prophet Daniel und seine Botschaft

Das Buch Daniel ist nicht nur ein wichtiges und interessantes Buch, sondern es ist gleichzeitig hochaktuell. Es ist einerseits ein durch und durch prophetisches Buch. Gott gibt Daniel erstaunliche Enthüllungen über die Geschichte der damals noch zukünftigen vier Weltreiche. Er spricht über das Erscheinen des Messias, über seine Ablehnung und seine spätere Herrschaft. Ein Teil seiner Voraussagen ist bereits in Erfüllung gegangen, andere werden noch in Erfüllung gehen.

Andererseits spürt der Leser des Buches sofort, dass Gott uns im Propheten Daniel sehr viele praktische Hinweise für unser Leben als Christen gibt, Hinweise, die wir nicht übersehen sollten. Beide Seiten wollen wir in den folgenden Überlegungen bedenken.

Der politische und geschichtliche Hintergrund

Zum richtigen Verständnis der Weissagungen Daniels ist es nützlich, zunächst den politischen und geschichtlichen Hintergrund zu beleuchten. Wir wollen dies unter den drei folgenden Blickwinkeln tun:

a) Das Volk Israel

Unter Salomo, dem Sohn und Thronfolger des Königs David, wurde das bis dahin äußerlich einige Volk Israel getrennt. Zehn Stämme gingen an seinen Kontrahenten Jerobeam, während zwei Stämme – Juda und Benjamin – bei seinem Sohn Rehabeam verblieben. In der Folgezeit erkennen wir sowohl bei den zehn Stämmen – manchmal das Nordreich genannt – als auch bei den zwei Stämmen – manchmal das Südreich genannt – eklatante Verfallserscheinungen. Das Volk wandte sich von Gott ab, so dass Gott in seinen Regierungswegen mit ihnen handelte. Zunächst traf es die zehn Stämme, die im Jahr 721 v. Chr. durch Salmanassar in die assyrische Gefangenschaft gebracht wurden. Nicht ganz 120 Jahre später war die Langmut Gottes mit den zwei Stämmen ebenfalls zu Ende. Trotz vieler Warnungen und deutlicher Gerichtsankündigungen durch viele Propheten hatten sie nicht auf die Stimme ihres Gottes gehört. Deshalb wurden sie aufgrund ihrer eigenen Untreue in die Gefangenschaft geführt. König Nebukadnezar von Babel war dazu das Werkzeug in der Hand Gottes.

Der letzte gottesfürchtige König von Juda war Josia. Leider ließ er sich im Alter auf einen völlig unsinnigen Kampf mit Neko, dem Pharao von Ägypten ein und fand in dieser Schlacht den Tod. Neko war auf dem Weg, sich ein Stück des im Verfall befindlichen vormals mächtigen assyrischen Reiches zu sichern. Er wollte den Kampf mit Josia eigentlich nicht, weil dieser ihn nur aufhielt. Nur weil Josia sich nicht überzeugen ließ, kam es zu der entscheidenden Schlacht, in der Josia sein Ende fand (2. Kön 29,23; 2. Chr 35,20–25).

Josia hatte mehrere Söhne, wovon Joahas sein Nachfolger wurde. Er regierte nur drei Monate. Dann setzte Neko ihn ab und Eljakim wurde König. In 2. Chronika 36, 3.4 lesen wir: „Und der König von Ägypten setzte ihn ab in Jerusalem; und er legte dem Land eine Buße von hundert Talenten Silber und einem Talent Gold auf. Und der König von Ägypten machte seinen Bruder Eljakim zum König über Juda und Jerusalem und änderte seinen Namen in Jojakim. Seinen Bruder Joahas aber nahm Neko fest und führte ihn nach Ägypten.“ Die Änderung der Namen – die uns im Buch Daniel erneut begegnet – war damals ein Ausdruck der Macht der Könige und Regenten, die nach Belieben über ihre Vasallen entscheiden konnten.

Jojakim war ein sehr böser und gottloser König. Es ist der Jojakim, von dem in Daniel 1,1 die Rede ist. Unter seiner Regierung begann der König von Babylon die Juden zu deportieren.

Insgesamt fanden drei große Deportationen nach Babel statt::

  • unter Jojakim im Jahr 606/605 v. Chr. Daniel gehörte zu denen, die in diesem Jahr deportiert wurden.
  • unter Jojakin im Jahr 598/597 v. Chr.
  • unter Zedekia im Jahr 587/586 v. Chr. In diesem Jahr wurden die Stadt und der Tempel zerstört.

Durch den Propheten Jeremia hatte Gott angekündigt, dass die Zeit des Exils in Babel 70 Jahre dauern würde (vgl. Jer 25,11.12; 29,10). Diese Zeit begann mit der ersten Wegführung eines Teils der Juden unter der Regierung Jojakims im Jahr 606/605 v. Chr. (vgl. Dan 1,1). Sie endete mit der Verordnung des Perserkönigs Kores (Cyrus) im Jahr 537/536, als er den Juden erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren, um dort den zerstörten Tempel wieder aufzubauen.

b) Die Nationen

Es ist bezeichnend, dass die Deportation der Juden nach Babel in eine Zeitperiode großer politischer Umwälzungen fiel. Während es im Norden (im heutigen Europa) im Altertum eher rivalisierende Banden und Horden und weniger organisierte Staats- und Herrschaftsstrukturen gab, berichtet die Geschichte im Süden (im Vorderen Orient) bereits von großen und einander rivalisierenden Völkern und Mächten. Als „Großmächte“ waren vor allem Assyrien (Syrien) und Ägypten bekannt. Beide Nationen spielten in der Geschichte des Volkes Israel eine große Rolle. Gott hatte sie wiederholt als „Zuchtrute“ für sein irdisches Volk gebraucht. In der noch zukünftigen Geschichte (in der Endzeit) werden diese beiden wieder eine besondere Rolle spielen. Beide Nationen waren große Rivalen, die immer wieder um die Vorherrschaft kämpften. Das schien sich jetzt zu ändern. Die Macht Assyriens war bereits zu einem Ende gekommen. Daran hatte der Vater Nebukadnezars einen entscheidenden Anteil. Er hieß Nabopolassar und war der Begründer und erste König des neubabylonischen Reiches. Im Jahr 626 v. Chr. nahm er die Stadt Babel ein. Durch Bündnisse mit verschiedenen Völkergruppen im assyrischen Reich wurde er immer stärker. Seine Herrschaft dauerte von 625 v. Chr. bis 605 v. Chr.

Nabopolassar gehörte zum chaldäischen Stamm der Aramäer. Er war ein Feldherr des assyrischen Königs gewesen, den er aber verriet. Er ging ein Bündnis mit den Medern gegen die Assyrer ein, die Babylon seit 200 Jahren beherrscht hatten. Die Assyrer wurden besiegt. 612 v. Chr. nahm Nabopolassar die assyrische Hauptstadt Ninive ein. Offenbar hatten die Bewohner nicht dauerhaft auf die Botschaft des Propheten Jona gehört. So entstand 612 v. Chr. das chaldäische oder neubabylonische Reich, zu dem auch bald das heutige Land Israel – das sich bisher unter ägyptischem Einfluss befand – gehören sollte. 609 v. Chr. ließ Nabopolassar alle Hinterlassenschaften der assyrischen Regierung vernichten. Von seinem Sieg berichtet der Prophet Nahum: „Und mit einer überschwemmenden Flut wird er Ninives Stätte völlig zerstören, und Finsternis wird seine Feinde verfolgen“ (Nah 1,8).

Sein Sohn Nebukadnezar wurde bereits ab 620 v. Chr. als Heerführer für seinen alternden Vater eingesetzt und übernahm nach dessen Tod den Thron und die Macht im babylonischen Reich. Er herrschte 43 Jahre lang.

Ägypten als zweiter Großmacht erging es nicht wesentlich anders als Assyrien. Davon berichtet der Prophet Jeremia: „Über Ägypten. Über die Heeresmacht des Pharaos Neko, des Königs von Ägypten, die in Karchemis war, am Strom Euphrat, die Nebukadrezar, der König von Babel, im vierten Jahr Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, schlug“ (Jer 46,2). Auf diese Weise wurde Babylon zu einer Großmacht, der sich lange Zeit niemand widersetzen konnte. Es ist das erste der vier großen Weltreiche, über die das Buch Daniel ausführlich spricht.

Babel wird bereits im ersten Buch Mose zweimal genannt. „Und Kusch zeugte Nimrod; der fing an, ein Gewaltiger zu sein auf der Erde. Er war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn; darum sagt man: Wie Nimrod, ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn! Und der Anfang seines Reiches war Babel...“ (1. Mo 10,8–10). „Darum gab man ihr den Namen Babel; denn dort verwirrte der Herr die Sprache der ganzen Erde, und von dort zerstreute sie der Herr über die ganze Erde“ (1. Mo 11,9). Diese beiden Stellen zeigen uns zwei wichtige Charakterzüge der Babylonier, die wir im Buch Daniel wiederfinden: zum einen die unwiderstehliche Macht und Gewalt, mit der die Feinde besiegt werden, und zum andern den Hochmut und die Arroganz, aufgrund deren Gott die Sprache verwirrte.

c) Die Eroberung und Zerstörung Jerusalems

Werfen wir noch einen Blick auf das vorläufige Ende der Stadt Jerusalem. In Daniel 1,1 ist die Rede vom dritten Jahr der Regierung Jojakims, des Königs von Juda. Zu diesem Zeitpunkt war Nebukadnezar Mitherrscher mit seinem Vater, der damals noch lebte. Die Babylonier kamen nach Juda, um es unter ihre Herrschaft zu bringen. Jerusalem wurde zum ersten Mal belagert. Obwohl die säkulare Geschichtsschreibung darüber nichts berichtet, heißt das nicht, dass diese Ereignisse nicht tatsächlich stattgefunden haben. Wir sind im Gegenteil überzeugt, dass es genauso geschah wie in der Bibel beschrieben.

Jerusalem wurde belagert und musste aufgeben. Allerdings wurde die Stadt zu diesem Zeitpunkt noch nicht zerstört. Das geschah erst im elften Jahr der Regierung Jojakims. In 606/605 v. Chr. wurde Juda tributpflichtig und musste einen Teil der Schätze des Hauses Gottes hergeben. Von der Elite des Volkes wurden viele nach Babel verschleppt, um dort dem heidnischen König zu dienen. Unter diesen vornehmen jungen Männern befanden sich Daniel und seine Freunde. Das ist die erste „Wegführung“ nach Babel. Gleichzeitig ist es der Beginn der 70-jährigen Gefangenschaft, die Jeremia vorausgesagt hatte.

Während Nebukadnezar zum ersten Mal in Palästina, dem heutigen Land Israel, war, starb sein Vater Nabopolassar. Sein Sohn kehrte nach Babel zurück, um das ganze Reich für sich zu fordern. Von nun an war er alleiniger Regent über das babylonische Reich. Jojakim war sein Vasall in Jerusalem. Nach einigen Jahren empörte sich dieser jedoch gegen den König von Babel. Nebukadnezar kam zurück und belagerte Jerusalem zum zweiten Mal. Wieder nahm er die Stadt ein, und diesmal wurde sie weitgehend zerstört. Das geschah im elften Jahr der Regierung von Jojakim (2. Kön 26,36). Es ist nicht ganz klar, was mit dem König von Juda geschehen ist. Jedenfalls wurde er ergriffen, in eiserne Fesseln gebunden und nach Babel geschleppt. Dort fand er sein Ende. Nebukadnezar muss ihn so verachtet haben, dass er seine Leiche außerhalb der Stadt auf die Erde geworfen hat. Das war eine schreckliche Unehre. Jeremia hatte das allerdings vorausgesagt: „Darum, so spricht der Herr von Jojakim, dem Sohn Josias, dem König von Juda: Man wird nicht um ihn klagen: „Wehe, mein Bruder!“, und: „Wehe, Schwester!“ Man wird nicht um ihn klagen: „Wehe, Herr!“, und: „Wehe, seine Herrlichkeit!“ Mit dem Begräbnis eines Esels wird er begraben werden; man wird ihn fortschleifen und wegwerfen, weit weg von den Toren Jerusalems“ (Jer 22,18.19). Diese Weissagung hat sich buchstäblich in Babel erfüllt.

Sein Sohn Jekonja wurde König an seiner Stelle. Auch sein Name wurde geändert, und zwar in Jojakin. Er herrschte während der Belagerung nur gut drei Monate in der Stadt und musste sich dann mit seiner Familie ergeben (2. Kön 24,12). Nebukadnezar verschleppte ihn nach Babel, wo er viele Jahre lang im Gefängnis zubrachte, bis er schließlich begnadigt wurde (2. Kön 25,27).

Doch noch immer gab es einen König in Jerusalem, allerdings ein Vasall des Herrschers von Babel. „Der König von Babel machte Mattanja, Jojakins Onkel, zum König an seiner statt und änderte seinen Namen in Zedekia“ (2. Kön 24,17). Seine Herrschaft dauerte 11 Jahre lang. Wieder gab es eine Empörung gegen den König von Babel, und erneut wurde Jerusalem belagert, eingenommen und nun endgültig zerstört. Der Prophet Jeremia redet viel von dieser Zeit. Gott benutzte ihn als Mahner. Von dem Ende des letzten Königs lesen wir: „Und man schlachtete die Söhne Zedekias vor seinen Augen; und man blendete die Augen Zedekias und band ihn mit ehernen Fesseln und brachte ihn nach Babel“ (2. Kön 25,7). Das war die dritte Deportation ins Exil nach Babel und das vorläufige traurige Ende des Volkes Gottes auf der Erde. Es war das Ergebnis ihres eigenen bösen und gottlosen Verhaltens. Trotz der vielen Warnungen der Propheten hatten sie nicht gehört, so dass Gott sich schließlich ganz von ihnen abwenden musste.

Zwar blieben nach der endgültigen Zerstörung der Hauptstadt immer noch einige Juden im Land zurück. Nach einiger Zeit wurden jedoch auch diese in einer vierten „Wegführung“ nach Babel gebracht. So war das Land schließlich leer von Nachkommen Abrahams. Die Juden befanden sich in kleinen Gruppen im fremden Land und unter fremder Herrschaft. Dort lebten und arbeiteten sie. Dort weinten und trauerten sie (vgl. Ps 137). Aber dort passten sich viele auch den Lebensumständen an und versuchten, aus ihrer Sicht „das Beste“ daraus zu machen. Nur wenige vertrauten dem Gott ihrer Väter und verunreinigten sich nicht durch das, was im babylonischen Reich gang und gäbe war. Zu diesen zählten Daniel und seine Freunde.

Ein Wechsel im Handeln Gottes

Im Hintergrund der politischen und geschichtlichen Ereignisse, die wir jetzt etwas näher besehen haben, liegt etwas sehr Wichtiges: Gott ändert sein Handeln im Blick auf sein irdisches Volk Israel und im Blick auf die Nationen. Das irdische „Volk Gottes“ hört auf, das Volk Gottes zu sein (vgl. Hos 1,9). Der Thron Gottes steht nicht länger in Jerusalem. Gott legt stattdessen die Geschicke dieser Welt in die Hände der Nationen und Weltherrscher. Das sind die „Zeiten der Nationen“, von der unser Herr Jesus selbst gesprochen hat (Lk 21,24).

a) Das irdische Volk Gottes

Es ist nichts Neues, dass es auf dieser Erde Völker und Nationen gegeben hat, die mächtiger und größer waren als das Volk Israel. Gott sagt das selbst zu seinem Volk: „Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der Herr sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen der Liebe des Herrn zu euch und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen hat“ (5. Mo 7,7.8). Dennoch standen die Geschicke der Nationen mit diesem Volk Gottes auf der Erde in enger Verbindung. „Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er die Grenzen der Völker fest nach der Zahl der Kinder Israel“ (5. Mo 32,8). Israel war ein besonderes Volk. Es war anders als die übrigen Nationen. Gott bekannte sich zu diesem Volk. Es war sein Volk, sein Erstgeborener. Israel war nach den Gedanken Gottes der Mittelpunkt der Erde – und so wird es im Tausendjährigen Reich dann tatsächlich einmal sein.

Der Thron Gottes stand in Jerusalem. David und Salomo herrschten über die zwölf Stämme. Der Chronist schreibt: „Und so setzte sich Salomo auf den Thron des Herrn als König an seines Vaters David statt, und er hatte Gelingen; und ganz Israel gehorchte ihm“ (1. Chr 29,23). Gott hatte David und Salomo als Könige auf seinen Thron gesetzt. Sie sollten nach seinen Gedanken regieren. Das taten sie auch zum Teil, aber dennoch versagten sie. In ihrem Königtum waren sie allerdings ein Hinweis auf das, was Gott in und durch Christus einmal vollbringen würde. Er wird im Tausendjährigen Reich als der wahre Sohn Davids regieren (vgl. Ps 2,6–9). Wie es immer geschehen ist, so auch hier: Gott vertraut uns Menschen etwas an, und wir verderben es. Dann nimmt Christus diese Position ein und tut genau das, was immer Gottes Absicht war. So war es bei Adam, so war es bei Noah, so war es bei David und Salomo. Gott gibt seine Absicht nie auf, und Christus wird sie erfüllen. Christus ist immer die Antwort Gottes auf das, was wir Menschen verderben.

David und Salomo haben versagt. Dennoch gab Gott sein Volk nicht gleich auf. Aber der Verfall des Königtums ging weiter. Gott musste im Gericht handeln. So groß das Vorrecht war, „Volk Gottes“ zu sein, so groß war die Verantwortung. Dieses Prinzip wird in Amos 3,2 von Gott vorgestellt: „Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt; darum werde ich alle eure Ungerechtigkeiten an euch heimsuchen.“ Die zehn Stämme waren die ersten, die in die assyrische Gefangenschaft gingen. Später traf es die beiden Stämme Juda und Benjamin, die bis dahin eng mit der Stadt Gottes, dem Haus Gottes und dem Thron Gottes in Verbindung gestanden hatten. Der Götzendienst und die Rebellion gegen Gott hatten ihr volles Maß erreicht, so dass das gerechte Gericht Gottes sie traf. Sie wurden nach Babel deportiert.

Damit hatte das „Volk Gottes“ aufgehört, „Volk Gottes“ zu sein. Gott hatte auch das bereits durch den Propheten Hosea vorausgesagt. Dieser Prophet sollte sich eine Hure zur Frau nehmen, mit der er drei Kinder bekam. Über das letzte Kind schreibt er Folgendes: „Und sie wurde schwanger und gebar einen Sohn. Und er sprach: Gib ihm den Namen Lo-Ammi; denn ihr seid nicht mein Volk, und ich will nicht euer sein“ (Hosea 1,8.9). Gott hatte sich bis dahin trotz aller Untreue immer zu seinem Volk bekannt und es als sein Volk anerkannt. Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo sich das änderte. Mit dem Ende des Königtums in Juda war Gottes Volk nicht mehr anerkannt. Bezeichnenderweise nennt Gott in Daniel 9,24 das Volk nicht „mein Volk“, sondern er spricht von dem Volk Daniels. Das Volk ist vertrieben, und Gott erkennt es nicht an. Der Thron Gottes und die Herrlichkeit Gottes waren nicht mehr in Jerusalem. Hesekiel beschreibt eindrucksvoll, wie die Wolke der Herrlichkeit (Symbol der Herrlichkeit und Gegenwart Gottes) langsam – man möchte fast sagen: zögernd – Jerusalem verlassen hat (Hesekiel 9–11). Das geschah in der Zeit des letzten Königs von Juda, in der Zeit der Regierung Zedekias. Jerusalem war jetzt eine Stadt wie alle anderen. Gott wohnte nicht mehr darin. In Jeremia 25 lesen wir in bemerkenswerten Worten, wie sehr sich Gott um sein Volk gekümmert hatte, aber wie sie jeden Appell Gottes abgewiesen hatten. So kam das Gericht. Jeremia schreibt unter anderem: „Und ich nahm den Becher aus der Hand des Herrn und ließ alle Nationen trinken, zu denen der Herr mich gesandt hatte: Jerusalem und die Städte von Juda und ihre Könige, ihre Fürsten, um sie zur Einöde, zum Entsetzen, zum Gezisch und zum Fluch zu machen, wie es an diesem Tag ist“ (Jer 25,17.18). Dieser Vers macht klar, dass es Jerusalem nicht anders ergehen würde als den Städten der Nationen, nur dass das Gericht dort anfangen würde.

An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir den Ausdruck „Volk Gottes“ im Alten Testament von dem im Neuen Testament unterscheiden müssen. Wenn es um uns geht, bilden alle Gotteskinder das Volk Gottes. Wer aus Gott geboren ist, gehört zur Familie oder zum Volk Gottes. Im Alten Testament hingegen umfasst das Volk Gottes alle, die – äußerlich – zum Volk Israel (bzw. später zu den Juden) gehörten. Es geht bei dem Volk Gottes im Alten Testament nicht nur um Menschen aus Israel, die Leben aus Gott hatten, sondern um das Volk in seiner Gesamtheit. Dieses Volk in der Gesamtheit hatte Gott aufgegeben, und Gott nennt es nicht mehr „sein Volk“. W. Kelly schreibt dazu: „Gott hätte seine Heiligkeit, seine Wahrheit und seine Majestät geopfert, wenn er die Juden und ihren götzendienerischen König noch länger ertragen hätte.“1

b) Die Zeiten der Nationen

In dem Augenblick, da Gott seinen Thron in Jerusalem „aufgibt“ und die Herrlichkeit die Stadt verlässt, ändert sich alles. Nun ist Israel nicht mehr der Mittelpunkt und das Zentrum der Regierung Gottes. In Jesaja 54,5 nennt Gott sich „der Gott der ganzen Erde“. Das steht in Verbindung mit seiner Regierung im Reich, wo Gott direkt über diese Erde herrschen wird. Doch mit Beginn des Buches Daniel stellt sich Gott unter einem anderen Titel vor. Er bezeichnet sich als „Gott des Himmels“. Da dieser Ausdruck im Buch Daniel viermal vorkommt (Kap. 2,18; 2,19; 2,37; 2,44), können wir ihn als typisch bezeichnen. In den Büchern Esra und Nehemia kommt der Ausdruck ebenfalls vor. Esra und Nehemia, die von der Zeit des Exils berichten, unterstreichen damit die Tatsache, dass Gott jetzt vom Himmel aus regiert und seinen Platz nicht mehr im Volk Israel hat. Auch nennt Daniel Ihn den „König des Himmels“ (Kap 4,34) und den „Herrn des Himmels“ (Kap 5,23). Der Thron Gottes ist sozusagen jetzt im Himmel. Von dort aus lenkt Gott indirekt (d. h. in seiner Vorsehung) die Geschicke auf dieser Erde. Aber die Regierungsgewalt und Verantwortung hat Er jetzt den Regenten der Nationen übergeben. Israel ist nicht länger der Mittelpunkt des Weltgeschehens, sondern jetzt geht es um die Nationen und Weltreiche. Die Weltreiche kämpfen um die Vorherrschaft und folgen aufeinander.

Diese Zeitperiode wird in Lukas 21,24 von dem Herrn selbst „Zeiten der Nationen“ genannt, deren Erfüllung bis heute zukünftig ist. Gemeint ist eine Zeit, die eben dadurch charakterisiert wird, dass Gott die direkte Herrschaft vorübergehend aufgibt und in die Hände jeweils einer Nation legt. Insgesamt sind es vier Weltreiche, die aufeinander folgen (das Babylonische, das Medopersische, das Griechische und das Römische Reich) und während dieser Zeit die Herrschaft ausüben. Die ersten drei Weltreiche sind vergangen, das Römische Reich hat eine Vergangenheit, aber auch noch eine Zukunft (vgl. Off 17,8). Gott bestimmte den Beginn dieser „Zeiten der Nationen“, und Er bestimmt ebenso das Ende, wenn Christus die Herrschaft übernimmt und Israel wieder das Volk Gottes sein wird (Hos 2,25). Jetzt aber gestattet es Gott den Weltreichen, einander zu bekämpfen und abzulösen.

Wichtig ist noch zu bemerken, dass es in dieser Zeit nicht mehr – wie vorher – um einzelne unabhängige Nationen mit ihren Königen geht, sondern Gott in seiner Vorsehung dafür sorgt, dass alle Nationen der Erde unter der Herrschaft jeweils eines mächtigen Herrschers stehen. Deshalb existieren die Weltreiche nicht nebeneinander, sondern nacheinander.

Der besondere Charakter des Buches Daniel

Der Inhalt

Die Weissagungen Daniels sind von fundamentaler Bedeutung. Sie helfen uns, ein Gesamtbild biblischer Prophetie zu bekommen. Viele Aussagen, die gerade das Neue Testament über zukünftige Ereignisse macht, verstehen wir nur im Licht des Propheten Daniel. Das gilt z. B. für die große Endzeitrede unseres Herrn in Matthäus 24 und 25, die Kapitel 1 und 2 des zweiten Thessalonicherbriefs und für große Teile der Offenbarung.

Das Buch des Propheten Daniel trägt besonders dem Wechsel zu den „Zeiten der Nationen“ Rechnung. Daniel schreibt über die Zeit der Weltreiche – eine Zeit, in der wir heute noch leben, und das macht das Buch für uns so wichtig. Es behandelt die Zeitperiode, in der das irdische Volk Gottes nicht mehr das anerkannte Volk ist, sondern die Regierung den Nationen übergeben ist. Startpunkt ist die Aberkennung Israels, und Endpunkt ist die Herrschaft des Herrn Jesus, wenn Er kommt, um sein Reich aufzurichten. Daniel spricht über die Geschichte der Welt, und zwar nicht aus der Perspektive der Juden, sondern aus der Perspektive der Herrschaft der Nationen.

Daraus folgen zwei wichtige Fragen:

  1. Wie werden die Nationen mit der Macht umgehen, die ihnen anvertraut worden ist? Wir lernen, dass sie diese Macht missbrauchen und nicht anerkennen, dass sie ihnen von dem „Gott des Himmels“ gegeben ist.
  2. Was geschieht mit dem „alten“ Volk Gottes in dieser Zeit, in der sie den Nationen unterworfen sind, und was passiert mit den Zusagen, die Gott diesem Volk gegeben hat? Wir lernen, dass dieses Volk, das für viele Jahrhunderte sozusagen verschwunden ist, dennoch eine Zukunft hat, wenn Christus kommt, um sein Reich aufzurichten.

Aber noch etwas wird deutlich. In dieser Zwischenzeit wird es einen glaubenden Überrest geben, der an Gottes Zusagen festhält und dem das Gesetz Gottes wichtig ist. Dieser Überrest wird uns in Daniel und seinen Freunden vorgestellt.

Der Prophet Daniel gibt also eine prophetische Übersicht über den Aufstieg und Niedergang der vier großen Weltreiche. Er zeigt, wie sehr diese Weltreiche schuldig geworden sind und die ihnen von Gott gegebene Herrschaft nicht in der richtigen Weise ausgeübt haben. Statt Gott zu ehren, erhöhten sie sich selbst und hatten den Drang, immer größer und mächtiger zu werden. Daniel spricht ebenfalls von dem Gericht, das diese Nationen treffen wird und von dem Reich, das dann unter der Herrschaft Christi aufgerichtet werden wird. Mehr noch, das Buch Daniel macht deutlich, dass die Haltung dieser Weltherrscher dem gläubigen Überrest gegenüber in erster Linie in Feindschaft, Hass und Verfolgung besteht. Es ist letztlich Gott, der den Überrest bewahren und retten wird.

„Die Tatsache, dass das Buch Daniel die Zeiten der Nationen behandelt, in denen wir heute leben, macht es für uns nicht nur interessant, sondern beinhaltet gleichzeitig wichtige praktische Lektionen für uns. Wir lernen nicht nur von dem treuen Verhalten Daniels und seiner Freunde, sondern wir werden durch die Weissagungen dieses Buches vor Dingen gewarnt, die zwar noch nicht sichtbar sind, die uns aber doch auffordern, in Absonderung von einer Welt zu leben, die unter dem Gericht steht, und inmitten der Unruhen der Zeit die Ruhe des Geistes zu bewahren“ (H. Smith2).

Wir wollen die praktische Anwendung dieses Propheten nicht gering schätzen. Wir sind heute ebenso wie Daniel ein Überrest in einer weltlichen und gottfeindlichen Umgebung. Wir haben die Verantwortung, unserem Gott treu zu sein. Ein Überrest soll zum Wohlgefallen Gottes sein. Das Buch zeigt zum einen wichtige moralische Prinzipien, nach denen die Herrscher in dieser Welt bis heute handeln, und auch, worauf das Ganze am Ende hinauslaufen wird. Zum anderen lernen wir, wie unser Verhalten in dieser Zeit aussehen soll.

Ein Teil des prophetischen Wortes

Es gibt in den prophetischen Schriften des Alten Testaments zwei Gruppen. Einige Propheten schrieben, als Israel noch als Volk Gottes anerkannt war und unter der direkten Regierung Gottes stand. Obwohl das Volk oft untreu war, unterstand Israel der Zucht Gottes. Die Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel zählen dazu, aber auch sogenannte kleine Propheten wie Hosea, Amos und Micha. In diesen Büchern wird viel von dem kommenden Messias und dem Reich gesagt.

Bemerkenswert ist, dass Gott in der Zeit, als Er sein Volk noch anerkannte, Propheten zu diesem Volk schickte, die das Volk ansprachen – oder mindestens einen Teil des Volkes. Man sieht das beispielsweise sehr deutlich bei Jesaja und Jeremia. Gott wendet sich an das Volk, um mit ihm zu rechten. Die Propheten sollten zu dem Volk reden. In der „Zeit der Nationen“ redet Gott nicht mehr zu seinem Volk, sondern Er wählt ganz besonders in Daniel eine Einzelperson aus, um ihm seine Mitteilungen zu machen. Am Anfang ist es sogar so, dass Gott nicht einmal direkt zu Daniel redet, sondern die Weissagung besteht eigentlich in den Träumen des Herrschers von Babel – Träume, die allerdings von Daniel interpretiert werden. Das macht ganz deutlich, dass das Volk Israel (das Volk der Juden) nicht mehr als Volk Gottes anerkannt ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es einige Treue im Volk gab. Das Volk als Ganzes war abgefallen und Gott erkennt es nicht mehr an. Dass Gott diese Einzelnen anerkennt und ihnen hilft, ist eine Sache. Aber das ändert nichts daran, dass das Volk als Ganzes nicht mehr anerkannt wurde.

In diesem Punkt gibt es eine frappierende Ähnlichkeit zu dem großen Buch der Prophetie im Neuen Testament, dem Buch der Offenbarung. Beide Bücher werfen Licht auf das jeweils andere. Wir verstehen die Weissagung Daniels nur im Licht der Offenbarung, und umgekehrt hilft uns das Buch Daniel, die Offenbarung zu verstehen. Obwohl die Offenbarung an die sieben Versammlungen in Kleinasien, der heutigen Türkei, geschickt wurde, war die Weissagung selbst doch einer Einzelperson gegeben, nämlich Johannes. Sein Buch beginnt mit den Worten: „Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gab, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss; und durch seinen Engel sendend, hat er es seinem Knecht Johannes gezeigt“ (Off 1,1). In beiden Fällen – bei Daniel und bei Johannes – war der Abfall so weit fortgeschritten, dass Gott sich nicht mehr an sein Volk als Ganzes wandte. Die Versammlung in Ephesus stand in Gefahr, dass der Leuchter weggerückt werden würde, und Laodizea sollte sogar aus dem Mund des Herrn ausgespien werden. In beiden Versammlungen gab es einige wenige Treue, aber die Masse war abgewichen. Das zeigt den moralischen Zustand der Christenheit schon am Ende des ersten Jahrhunderts. Was den Überrest ausmacht, wird im Propheten Maleachi beschrieben: „Und sie werden mir, spricht der Herr der Heerscharen, zum Eigentum sein an dem Tag, den ich machen werde; und ich werde sie verschonen, wie ein Mann seinen Sohn verschont, der ihm dient“ (Mal 3,17). Aber das nimmt nichts davon weg, dass das Volk als Ganzes von Gott nicht mehr anerkannt wird.

Einteilung des Buches

Das Buch Daniel hat zwei große Teile. Der erste Teil erstreckt sich von Kapitel 1–6 und enthält historische Berichte. Er spricht von dem Leben Daniels und seiner Freunde in Babel sowie dem Verhalten und den Träumen der Könige Nebukadnezar, Belsazar und Darius. Gleichzeitig gibt Gott uns Informationen über die Entwicklung der vier großen Weltreiche und ihre wesentlichen Merkmale, so wie diese äußerlich sichtbar wurden. Der zweite Teil des Buches (Kapitel 7–12) enthält direkte Visionen und Weissagungen, die Daniel gegeben wurden. Wir lernen, welchen Charakter die Weltreiche in den Augen Gottes haben und wie sie mit dem Überrest der Juden umgehen werden. Das erste Kapitel ist dabei eine Einleitung und das letzte Kapitel eine Art Epilog.

Wie viele Autoren im Altertum schreibt Daniel in den ersten sechs Kapiteln von sich in der dritten Person, während er im zweiten Teil ab Kapitel 7,28 in der ersten Person schreibt. Dennoch sind beide Teile prophetisch. Im Bild von Daniel und seinen Freunden gibt Gott uns ein Bild des Überrestes von Israel in der Mitte der Völker. So wird es in der großen Drangsal einmal sein.

Teil 1: Daniel und seine Freunde in Babel

  • Kapitel 1: Einführung in das Buch. Trotz der Untreue des Volkes gibt es einen treuen Überrest. Auch in der Zeit der Nationen erhält Gott sich ein Zeugnis auf dieser Erde. Dieser Überrest ist erfüllt mit dem Geist der Weisheit und Erkenntnis.
  • Kapitel 2–6: Überblick über die Entwicklung der „Zeiten der Nationen“ in ihrer äußerlichen und für den Menschen sichtbaren Form. Wir lernen etwas über die moralischen Kennzeichen der vier Weltreiche und ihr Versagen. Kapitel 3 zeigt uns den Götzendienst, Kapitel 4 die menschliche Selbsterhebung, Kapitel 5 die Gotteslästerung und Kapitel 6 den völligen Abfall der Regenten dieser Weltreiche. Am Ende stehen ihr Gericht und die Aufrichtung des Königreiches des Christus.

Teil 2: Visionen und Weissagung Daniels

  • Kapitel 7: Überblick über die Entwicklung der Zeiten der Nationen aus der Sicht Gottes; die Weltreiche werden als wilde Tiere beschrieben.
  • Kapitel 8: Beschreibung des zweiten und des dritten Reiches
  • Kapitel 9: Das Gebet Daniels, Gottes Antwort und die Weissagung über die 70 Jahrwochen
  • Kapitel 10–11: Weissagung über die Könige von Syrien und Ägypten (König des Nordens und des Südens)
  • Kapitel 12: Zusammenfassung und prophetische Hinweise im Blick auf die große Drangsal und die Befreiung des treuen Überrestes kommender Tage in Israel

Der Verfasser

Es lohnt sich, einen Blick auf den Verfasser des Buches zu werfen. Bei den meisten schreibenden Propheten des Alten Testaments wissen wir nicht viel über ihr Leben. Von Daniel sind eine Reihe Details bekannt, und es ist der Mühe wert, ihnen im Lauf des Studiums des Buches volle Aufmerksamkeit zu schenken. An dieser Stelle nur einige generelle Hinweise:

  • Daniel war vom königlichen Geschlecht (Kap 1,3). Er wurde als junger Mann nach Babel verschleppt. Wie alt Daniel zu diesem Zeitpunkt war, ist nicht bekannt, aber vermutlich noch keine 20 Jahre alt. Die meisten Ausleger schätzen sein Alter auf 15–17 Jahre, weil er die komplette Zeit des siebzigjährigen Exils überlebte. Am Ende des Buches ist er demnach ein alter Mann und gibt somit durch sein praktisches Leben Hinweise sowohl für junge als auch für älter gewordene Christen. Auch wir leben in einer fremden Welt, wo wir als „königliche Priester“ die Aufgabe haben, göttliches Licht scheinen zu lassen (1. Pet 2,9).
  • Das Neue Testament nennt Daniel ausdrücklich einen Propheten (Mt 24,15). Ein Prophet ist jemand, der für einen anderen spricht, sei es für Gott zu Menschen (vgl. 5. Mo 18,18) oder für Menschen zu Gott (vgl. 1. Mo 20,7). Daniel hat beides getan. Gott konnte ihn als „Sprachrohr“ für sein Volk gebrauchen. Mehr noch, Daniel hatte tiefe Einsicht in Gottes Gedanken, selbst wenn er nicht alles verstand, was Gott ihm offenbarte. Seine Weissagung geht in ihrer Tragweite über vieles hinaus, was andere Propheten empfangen hatten. Darüber hinaus zeichnete sich Daniel dadurch aus, dass er für andere vor Gott einstand. Das sehen wir besonders in seinem Gebet in Kapitel 9.
  • Daniel war ein treuer Mann, der durch Glauben gekennzeichnet war. Seine Treue, seine Entschiedenheit und sein Glaube zeigen sich in verschiedenen Lebensumständen. Auch wenn Hebräer 11 seinen Namen nicht nennt, werden doch seine Glaubenstaten beschrieben: „... die durch Glauben Königreiche bezwangen, Gerechtigkeit wirkten, Verheißungen erlangten, der Löwen Rachen verschlossen“ (Heb 11,33).
  • Daniel war ein Mann des Gebets. Das kennzeichnete ihn, als er jung war, und es kennzeichnete ihn immer noch, als er alt geworden war. Seine Treue im Gebet brachte ihm die Löwengrube ein, doch er nahm das „Risiko“ in Kauf. Besonders bemerkenswert ist sein Gebet in Kapitel 9, das uns zeigt, dass es Daniel nicht in erster Linie um seine eigenen Bedürfnisse ging, sondern um die seines Volkes.
  • Daniel war ein konsequenter Mann, ein Mann der klaren Entschlüsse. Kapitel 1 zeigt uns seinen Herzensentschluss, sich nicht mit den Speisen und Getränken Babels zu verunreinigen. Kapitel 6 zeigt uns ihn in seiner konsequenten Gebetshaltung, von der er sich durch nichts abbringen ließ.
  • Der menschliche Betrachter könnte zu der Schlussfolgerung kommen, dass Daniel als Jude in Babel Karriere gemacht hat. In der Tat bekleidete er bereits als junger Mann und dann über viele Jahrzehnte hinweg hohe politische Ämter. Unter Nebukadnezar wurde er als Regent über die Landschaft Babels und als Obervorsteher über die Weisen eingesetzt (Kap 2,43). Unter Darius dem Meder war er einer der drei Vorsteher, die über die 120 Satrapen des Reiches herrschten (Kap 6,2.3). Doch Daniel handelte nicht nach den üblichen Prinzipien der Menschen, sondern in Treue und Hingabe an seinen Gott. Darüber hinaus machte der berufliche Erfolg ihn nicht stolz und hochmütig, sondern er blieb stets bescheiden und zurückhaltend.
  • Daniel war ein gerechter Mann. Dadurch zeichnete er sich aus. Er lebte in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und mit dem, was er von Gott kannte. In Hesekiel 14,14 und 20 wird er mit Noah und Hiob auf eine Stufe gestellt. Noah war ein Prediger der Gerechtigkeit (2. Pet 2,5) und von Hiob wissen wir, dass Gott selbst ihm das Zeugnis gab, dass er vollkommen und rechtschaffen und gottesfürchtig war und dass er das Böse mied (Hiob 1,1). Von einem solchen Charakter war Daniel.
  • Daniel war ein furchtloser Mann. Im Vertrauen auf Gott trat er zunächst vor den Obersten der Hofbeamten und später vor mächtige Monarchen und sagte ihnen die Wahrheit. Auch wenn die Worte, die er mitzuteilen hatte, nicht immer angenehm waren, redete Daniel das, was Gott ihm auftrug. Mehr noch: In Kapitel 4 werden wir sehen, dass er dem gewaltigen König Nebukadnezar den Rat gab, mit seinen Sünden zu brechen.
  • Treue und Hingabe an Gott machten Daniel zu einem überaus weisen Mann. Er war nicht nur intelligent, sondern Gott gab ihm Kenntnis und Einsicht und Verständnis. Aus Hesekiel 28,2 entnehmen wir, dass die Weisheit Daniels über die Grenzen Babels hinaus bekannt war. Gott stattete seinen Knecht mit besonderen Fähigkeiten aus und belohnte ihn auf diese Weise für seine innere Haltung. Daniel ehrte Gott, und Gott ehrte ihn.
  • Daniel verstand (mit seinen Freunden) von Anfang an, was Absonderung von der Welt und Hinwendung zu Gott bedeutet. Als junger Mann lehnte er es ab, sich mit der Tafelkost des Königs zu verunreinigen und zog es vor, sich von Gemüse und Wasser zu ernähren. Als später Belsazar sein rauschendes Fest feierte und alles, was Rang und Namen hatte, anwesend war, fehlte Daniel. Er hatte verstanden, dass dort sein Platz nicht war.

Gott zeichnet Daniel am Ende seines Lebens dadurch aus, dass Er ihn dreimal einen „vielgeliebten“ Mann nennt (Kap 9,23; 10,11; 10,19). Das erinnert an Johannes im Neuen Testament, der ebenso wie Daniel (wenn auch auf andere Weise) die Liebe seines Herrn besonders genoss. In Treue und Glauben lebte er über 70 Jahre im Exil. Das geliebte Land und die Stadt seiner Väter sah er nicht wieder. Aber ganz am Ende gibt Gott seinem alten Diener eine herrliche Zusage: „Du aber geh hin bis zum Ende; und du wirst ruhen und wirst auferstehen zu deinem Los am Ende der Tage“ (Kap 12,13).

Ein stark angegriffenes Buch

Es wundert uns nicht, dass gerade das Buch Daniel gemeinsam mit den Büchern Mose und dem Propheten Jesaja zu den am meisten attackierten Büchern des Alten Testaments gehört. Da dieses Buch viele Weissagungen enthält, die sich entweder bereits zur Zeit des Neuen Testaments längst erfüllt hatten oder im Begriff standen, sich zu erfüllen, liegt es nahe, dass sich die übrigen Weissagungen ebenfalls erfüllen werden. Das will der natürliche Mensch nicht akzeptieren. Bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus gab es besondere Angriffe auf dieses Bibelbuch. Die ersten Attacken stammen von dem heidnischen Neuplatoniker Porphyrius von Tyrus (3. Jh. n. Chr.). Im Zuge der Bibelkritik verstärkten sich diese Angriffe. Es ist hier nicht der Raum, darauf im Einzelnen einzugehen. Es seien nur ein paar Punkte kurz erwähnt:

  • Man bezweifelt das Verfassungsdatum des Buches. Da sich viele Weissagungen sehr detailliert auf die Zeit beziehen, in der König Antiochus IV Epiphanes (175–164 v. Chr.) regiert hat (vgl. Dan 11,1–35), verlegte man das Verfassungsdatum in die Zeit der Makkabäer (2. Jahrhundert v. Chr.). Damit wäre das Buch in einer Zeit geschrieben worden, in der diese Weissagungen bereits in Erfüllung gegangen waren. Daniel hätte dann geschichtliche Ereignisse aufgeschrieben, aber keine Weissagungen ausgesprochen. Es bleibt allerdings die Frage offen, was mit den übrigen Weissagungen ist, die sich später erst erfüllt haben (z. B. die Geburt des Herrn Jesus und seine Ablehnung sowie die Zerstörung der Stadt Jerusalem im Jahr 70, worüber Daniel ebenfalls schreibt).
  • Man unterstellt dem Buch Daniel eine Reihe von Ungenauigkeiten und historischen Fehlern, die durch die Geschichtswissenschaft angeblich nachgewiesen worden sein sollen. Interessant ist allerdings, dass gerade die Archäologie ab dem 19. Jahrhundert erstaunliche Entdeckungen gemacht hat, so dass man fast alle Angriffe dieser Art als falsch nachweisen kann. Über Jahrhunderte hinweg war z. B. der König Belsazar in der Geschichtsschreibung unbekannt. Daraus hat man gefolgert, dass es diesen König nie gegeben hat. Inzwischen ist durch archäologische Funde bewiesen, dass tatsächlich ein König Belsazar in Babel regiert hat. Gleiches gilt für Darius, den König der Meder.
  • Man hat behauptet, das Buch Daniel sei nicht von Daniel, sondern von zwei verschiedenen anderen Autoren verfasst worden. In der Tat wurde ein Teil des Buches auf Hebräisch geschrieben (Daniel 1,1–2,4a; Daniel 8,1–12,13) und ein anderer Teil auf Aramäisch (Daniel 2,4b-7,28). Daraus zu schließen, dass zwei Autoren am Werk gewesen seien, ergibt indes wenig Sinn, zumal auffallend ist, dass das Hebräisch im Buch Daniel dem seiner Zeitgenossen Hesekiel, Haggai, sowie den Büchern Esra und Chronika ähnlich ist, während das Aramäisch im Buch Daniel dem Sprachtyp entspricht, den man vom 7. Jahrhundert v. Chr. an im Nahen Osten gesprochen hat.

Wir sind überzeugt, dass alle Argumente, die man gegen das Buch vorgebracht hat und immer noch vorbringt, nicht stichhaltig sind. Gott schreibt im Buch Daniel – wie auch an anderen Stellen – tatsächlich Geschichte im Voraus. Für Gott ist das kein Problem, sondern unterstreicht nur die Tatsache der Inspiration der Bibel.

Ein sehr stichhaltiges Argument für die Authentizität des Buches Daniel ist für uns die Tatsache, dass der Herr Jesus in Matthäus 24,15 selbst auf eine Weissagung aus dem Buch Daniel Bezug nimmt und ihn ausdrücklich einen Propheten nennt. Der Herr Jesus sagt: „Und wer auf diesen Stein fällt, wird zerschmettert werden; auf wen irgend er aber fällt, den wird er zermalmen.“ (Mt 21,44). Das nimmt eindeutig Bezug auf Daniel 2,44.45. In Matthäus 24,30 und 26,64 spricht Er von dem Sohn des Menschen, den sie kommen sehen werden mit den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit. Das bezieht sich ohne Frage auf Daniel 7,13. Der Apostel Johannes nimmt in Offenbarung 1,7 ebenfalls Bezug auf diese Stelle. Wer dieses Buch in Frage stellt, stellt letztlich Jesus Christus in Frage. Entweder unterstellt man Ihm, es nicht besser gewusst zu haben (dann wäre Er nicht Gottes Sohn gewesen), oder man bezichtigt Ihn der bewussten Fälschung (dann wäre Er nicht der sündlose Menschensohn gewesen). Darüber hinaus hat der Herr Jesus immer wieder über den „Sohn des Menschen“ gesprochen. Im Alten Testament kommt dieser Ausdruck dreimal vor, davon einmal in Daniel 7. Der Herr Jesus hat dieses Gesicht Daniels also sehr ernst genommen und es auf sich angewandt. Er ist in der Tat der Sohn des Menschen, der einmal sein Reich auf der Erde gründen wird.

Es wird klar: Wenn man der Bibelkritik das Ohr leiht, verliert man den Christus der Schriften, und damit verliert man alles.

Überdies war Daniel bereits im Alten Testament als historische Persönlichkeit bekannt. In Hesekiel 14,14.20 spricht Gott von Noah, Hiob und Daniel. Hesekiel war ein Prophet aus der Zeit des Exils und somit ein Zeitgenosse Daniels, der im Jahr 597 v. Chr. nach Babel deportiert wurde. In Hesekiel 28,3 wird Daniel zum dritten Mal erwähnt. Daniel war also bereits zu Lebzeiten als Mann Gottes bekannt. Das kann kein anderer Daniel gewesen sein, denn es gab keinen anderen, der so bekannt gewesen wäre. Deshalb wollen wir seine Botschaft ernst nehmen. Sie ist wichtig und von Gott.

Zusammenfassend kann man sagen, dass alle Versuche, nachzuweisen, das Buch Daniel sei eine Fälschung, gescheitert sind. Die heute verfügbaren historischen, archäologischen und sprachwissenschaftlichen Informationen bestätigen nur, dass das Buch Daniel echt ist und tatsächlich von Daniel aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammt. Paulus schreibt in 1. Korinther 1,19.20: „Ich will die Weisheit der Weisen vernichten, und den Verstand der Verständigen will ich wegtun. Wo ist der Weise, wo der Schriftgelehrte, wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?“

Noch ein letzter Punkt: Die Juden haben das Buch Daniel immer als ein kanonisches Buch angesehen. Das ist ein starker Beweis für seine Echtheit, denn bevor ein Buch von den Juden in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen wurde, gab es sehr strenge Kontrollen. Wäre das Buch Daniel nicht „echt“ gewesen oder hätte es gewisse Zweifel daran gegeben, wäre es dem Buch Daniel wie vielen anderen Büchern gegangen, die man zu den Apokryphen und Pseudepigraphen gezählt hat. Es gibt andere Bücher im Alten Testament (z. B. Prediger und Hohelied), über die man sehr viel mehr diskutiert hat, ob sie echt sind oder nicht.

Fußnoten

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