Der Prophet Daniel und die Zeiten der Nationen

Daniel 5

Historische Ereignisse mit geschichtlichem Charakter

Es ist von entscheidender Bedeutung, uns beim Lesen der Kapitel, die den ersten Teil dieses Buches bilden, immer und immer wieder daran zu erinnern, dass diese zwar grundsätzlich historisch sind, aber dennoch auch einen prophetischen Charakter tragen. Während sie die Kennzeichen der Herrscher der Nationen beschreiben, denen Gott die Regierung der Erde nach der Zerstörung Jerusalems anvertraut hat, werden diese Eigenschaften in den letzten Tagen erneut auftreten. Es gibt drei Dinge, die diesen prophetischen Charakter im Besonderen tragen:

  1. Die Handlungen dieser verschiedenen Monarchen;
  2. die darauffolgenden Gerichte, die im letzten sowie im vor uns liegenden Kapitel beschrieben werden;
  3. die Befreiung des Volkes Gottes, die in Kapitel 3, und dann auch in Kapitel 6, in der Person Daniels gesehen werden kann.

Dem mag die Anerkennung des wahren Gottes durch die Nationen hinzugefügt werden, nachdem sie gerichtet wurden, wie es sich im Fall Nebukadnezars sowie Dariusʼ dargestellt findet (Daniel 6), obgleich sein Bekenntnis eher durch die Zurschaustellung der Macht Gottes in der Errettung seines (durch Daniel dargestellten) Volkes hervorgerufen wird, das sich im Rachen der Zerstörung befindet.

Belsazar fordert den Gott Israels heraus

Wenn wir nun zum vor uns liegenden Kapitel kommen, wird uns ein sogar noch schlimmeres Merkmal der heidnischen Regierung gezeigt. Götzendienst und Hochmut über die eigene Macht – Prahlerei – hatten Nebukadnezar gekennzeichnet. Doch Belsazar unterscheidet sich von ihm in seiner öffentlichen Anmaßung kühner Gottlosigkeit, die sich in offener Bosheit und Gotteslästerung entfaltet. Die Gelegenheit für diesen Ausbruchs des Frevels wird im ersten Vers beschrieben:

„Der König Belsazar machte seinen tausend Gewaltigen ein großes Festmahl, und er trank Wein vor den Tausend. Belsazar befahl, als der Wein ihm schmeckte, dass man die goldenen und die silbernen Gefäße herbeibrächte, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel in Jerusalem weggenommen hatte, damit der König und seine Gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen daraus tränken. Dann brachte man die goldenen Gefäße, die man aus dem Tempel des Hauses Gottes in Jerusalem weggenommen hatte; und der König und seine Gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen tranken daraus. Sie tranken Wein und rühmten die Götter aus Gold und Silber, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein“ (5,1–4).

Es war einer Nacht der Schlemmerei, des Gelages und ungezügelter Freizügigkeit, in der alle bösen Leidenschaften des verdorbenen menschlichen Herzens entflammten und nach Befriedigung verlangten. Denn man bemerke, dass Belsazar „als der Wein ihm schmeckte“, den Befehl erteilte, „dass man die goldenen und die silbernen Gefäße hereinbrächte, die sein Vater Nebukadnezar1 aus dem Tempel in Jerusalem weggenommen hatte, damit der König und seine Gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen daraus tränken“.

War er berauscht? Sicherlich vom Hochmut boshafter Anmaßung; und dieser wurde durch den Wein, den er trank, zusätzlich angefacht. Der Genuss von Wein weckt von allen von der Erde angebotenen Freuden notwendigerweise die schlimmsten Begierden des Herzens; und die Gesellschaft, die den König umgab, offenbart, dass diese Begebenheit keine Ausnahme dieser allgemeinen Regel darstellte.

Wenn dies jedoch nichts als eine gewöhnliche Feier oder Schwelgerei gewesen wäre, wie groß auch die Zügellosigkeit gewesen sein mag, so hätte kein inspirierter Stift sie aufgezeichnet. Die krönende Sünde hierbei war die direkte Beleidigung, die Belsazar gegen den Gott Israels, den Gott des Himmels, demonstrierte. Die heiligen Gefäße waren in Gottes Augen noch immer heilig, so sehr sie auch durch die Sünden seiner Könige und Priester verunreinigt worden waren, denn sie waren in dem Haus gebraucht worden, in das Er seinen Namen in Ewigkeit gesetzt hatte, und wo sein Auge und sein Herz alle Tage sein sollten (1. Könige 9,3). Sicher hatte Er zugelassen, dass sie im Gericht die Gefangenschaft seines Volkes teilten, doch in Übereinstimmung mit dem, wer Er war, und mit allen Seinen Absichten konnte Er nicht zulassen, dass sie durch den heidnischen Monarchen und seine liederlichen Genossen entweiht wurden. Auch tranken der König, seine gewaltigen, seine Frauen und seine Nebenfrauen nicht nur daraus, sondern „sie tranken Wein und rühmten die Götter aus Gold und Silber, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein“. Götter aller Art wurden verehrt, und ihre Erhabenheit über den Gott Israels in beleidigender Form gerühmt. Indem sie dies taten, forderten sie Gott öffentlich und auf unverschämte Art und Weise heraus. Mit einer solchen besinnungslosen Torheit und Respektlosigkeit stellte dieser tollkühne König die Herrschaft des lebendigen und wahren Gottes in Frage.

Die Antwort Gottes

„In demselben Augenblick kamen Finger einer Menschenhand hervor und schrieben, dem Leuchter gegenüber, auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes; und der König sah die Hand, die schrieb. Da veränderte sich die Gesichtsfarbe des Königs, und seine Gedanken ängstigten ihn; und die Bänder seiner Hüften lösten sich, und seine Knie schlugen aneinander. Der König rief mit Macht, dass man die Sterndeuter, die Chaldäer und die Wahrsager hereinbringe. Der König hob an und sprach zu den Weisen von Babel: Jeder, der diese Schrift lesen und ihre Deutung mir anzeigen wird, der soll mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um seinen Hals, und er soll als Dritter im Königreich herrschen. Dann kamen alle Weisen des Königs herbei; aber sie vermochten nicht, die Schrift zu lesen und dem König ihre Deutung kundzutun“ (5,5–8).

Die Antwort – denn diese konnte nicht aufgeschoben werden – war nicht fern. Nahezu bevor der Klang ihrer götzendienerischen Ausrufe verhallt war – „in demselben Augenblick kamen Finger einer Menschenhand hervor und schrieben, dem Leuchter gegenüber, auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes; und der König sah die Hand, die schrieb“. Diese geheimnisvollen Finger erschienen still als Antwort auf die Herausforderung des Königs, still schrieben sie die verhängnisvollen Worte inmitten des Lärms des Gelages und Gesangs, und dennoch, da eine unsichtbare Kraft seine Augen leitete, sah der König die schreibende Hand. Und welche Wirkung hatte die Erscheinung? Sicherlich würde der König, gestärkt durch den Wein und kraftvoll im Vertrauen auf die Allmacht seiner Götter nicht erschrecken? Doch selbst er – böse wie er war – hatte ein Gewissen, und kannte die Macht, die sogar Nebukadnezar von seinem Thron gerissen und ihn für eine Zeitlang wie das Vieh des Feldes gemacht hatte. Und das Gewissen machte sich nun trotz der Umgebung des Königs bemerkbar, und es „veränderte sich die Gesichtsfarbe des Königs, und seine Gedanken ängstigten ihn; und die Bänder seiner Hüften lösten sich, und seine Knie schlugen aneinander“.

Was für eine Veränderung! Inmitten seines Festmahls hatte er es gewagt, den Gott des Himmels zu beleidigen, und jetzt ergriffen beim Anblick dieser geheimnisvollen Hand Schrecken und Furch seine Seele, und er zitterte von Kopf bis Fuß. Er hatte sich gegürtet, den allmächtigen Gott herauszufordern; und in dem Moment, als die Herausforderung angenommen wurde, bevor zum Schlag ausgeholt wurde, verließ ihn sein Mut unter der schrecklichen Befürchtung kommenden Gerichts. Wer kann ihm in einem solchen Moment helfen? Anstatt sich vor dem zu demütigen, gegen den er so schlimm gesündigt hatte, rief er die Sterndeuter, Chaldäer und Wahrsager zur Hilfe und hoffte unter der Versprechung großzügiger Belohnungen, dass sie in der Lage sein würden, die geschriebenen Worte zu deuten und ihm somit, wie er vergeblich hoffte, Erleichterung zu verschaffen. Doch die Weisheit dieser Welt konnte die Geheimnisse Gottes nicht enthüllen, noch seine Handschrift deuten. Dieser vorgeblich weisen Männer waren so unfähig, wie sie sich bereits in den Tagen Nebukadnezars erwiesen hatten. „So weiß auch niemand, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes“ (1. Kor 2,11).

„Da geriet der König Belsazar in große Angst, und seine Gesichtsfarbe veränderte sich an ihm; und seine Gewaltigen wurden bestürzt. Infolge der Worte des Königs und seiner Gewaltigen trat die Königin in das Haus des Gelages. Die Königin hob an und sprach: O König, lebe ewig! Lass deine Gedanken dich nicht ängstigen und deine Gesichtsfarbe sich nicht verändern! Es ist ein Mann in deinem Königreich, in dem der Geist der heiligen Götter ist. Und in den Tagen deines Vaters wurden Erleuchtung und Verstand und Weisheit wie die Weisheit der Götter bei ihm gefunden; und der König Nebukadnezar, dein Vater, hat ihn zum Obersten der Wahrsagepriester, der Sterndeuter, der Chaldäer und der Wahrsager erhoben – dein Vater, o König –, weil ein außergewöhnlicher Geist und Kenntnis und Verstand, ein Geist der Traumdeutung und der Rätselerklärung und der Knotenlösung bei ihm gefunden wurde, bei Daniel, dem der König den Namen Beltsazar gegeben hat. So werde nun Daniel gerufen, und er wird die Deutung anzeigen“ (5,9–12).

Belsazar war nun noch erschrockener und panische Angst überfiel ihn, und sogar seine Gewaltigen wurden bestürzt. Doch Gott wollte, dass dem König das Geschriebene erklärt würde, jedoch sollte es durch sein eigenes, auserwähltes Gefäß getan werden. Das Werkzeug, das Daniel in den Fokus Belsazars bringen sollte, war nicht weit: „Infolge der Worte des Königs und seiner Gewaltigen trat die Königin2 in das Haus des Gelages.“ Sie hatte an dem ungezügelten Gelage dieser ereignisreichen Nacht nicht teilgenommen, doch das Gerücht über die Erscheinung, die den König und seine Gäste erschreckt hatte, hatte sich im Palast verbreitet und ihre Ohren erreicht. Sie war völlig mit dem vertraut, was in der Regierungszeit Nebukadnezars zugetragen hatte, sowie mit dem Dienst, den Daniel geleistet hatte. Auch wusste sie von der Stellung, in die er in Folge darauf erhoben worden war. Daher eilte sie dem König zur Hilfe. „O König“, sagte sie, „lebe ewiglich! Lass deine Gedanken dich nicht ängstigen und deine Gesichtsfarbe sich nicht verändern! Es ist ein Mann in deinem Königreich, in dem der Geist der heiligen Götter ist“. Und dann fügt sie, nachdem sie beschrieben hatte, wie er sich in den Tagen Nebukadnezars erwiesen hatte, hinzu: „So werde nun Daniel gerufen, und er wird die Deutung anzeigen.“

Daniels Deutung der Schrift

„Darauf wurde Daniel vor den König geführt. Der König hob an und sprach zu Daniel: Bist du Daniel, einer der Weggeführten von Juda, die der König, mein Vater, aus Juda hergebracht hat? Und ich habe von dir gehört, dass der Geist der Götter in dir ist und dass Erleuchtung und Verstand und außergewöhnliche Weisheit bei dir gefunden werden. Und nun sind die Weisen, die Sterndeuter, vor mich geführt worden, damit sie diese Schrift läsen und mir ihre Deutung kundtäten; aber sie vermögen nicht, die Deutung der Sache anzuzeigen. Ich habe aber von dir gehört, dass du Deutungen zu geben und Knoten zu lösen vermagst. Nun, wenn du diese Schrift zu lesen und mir ihre Deutung kundzutun vermagst, so sollst du mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um deinen Hals, und du sollst als Dritter im Königreich herrschen“ (5,13–16).

Wie bereits bemerkt, hatte er von den Diensten Daniels gehört, doch er hatte sich nicht dafür interessiert, ihn persönlich kennenzulernen. Der gottlose König hatte nicht das Verlangen, Bekanntschaft mit dem Diener Gottes zu machen; und hatte ihn lediglich jetzt, in seiner äußersten Not, rufen lassen, um ihm in der Stunde seiner Drangsal zu helfen. Dann berichtete er Daniel, was er von ihm gehört hatte, und fuhr fort: „Nun, wenn du diese Schrift zu lesen und ihre Deutung mir mitzuteilen vermagst, so sollst du mit Purpur bekleidet werden, mit einer goldenen Kette um deinen Hals, und du sollst als Dritter im Königreich herrschen.“

Daniel stand vor dem mächtigsten aller Könige auf Erden, vor einem unumschränkten Herrscher, und vor einem, der die Macht über Leben und Tod aller seiner Untertanen in der Hand hatte (vgl. 5,19). Doch Daniel war der Diener Gottes, welcher die Quelle der kurzanhaltenden Macht Belsazars war, und daher fürchtete er im Bewusstsein seines Auftrags weder den König noch wurde er durch die angebotenen Belohnungen gelockt. In der stillen Zuversicht auf Ihn, dessen Diener er war, und in der er durch Gnade stand, gibt er seine Antwort:

„Da antwortete Daniel und sprach vor dem König: Deine Gaben mögen dir verbleiben, und deine Geschenke gib einem anderen; jedoch werde ich dem König die Schrift lesen und ihm die Deutung kundtun“ (5,17).

Es war eine noble Einleitung, die dem Botschafter Gottes gegenüber dem bösen König geziemte. Der Leser wird bemerken, dass die Art, in der Daniel zu Belsazar sprach, anders war als die, in der er Nebukadnezar angesprochen hatte. Letzterer war götzendienerisch, gebieterisch, und hatte versucht, seine Untergebenen dazu zu bringen, das Bild anzubeten, das er gemacht hatte. Doch er war in seiner Gotteslästerung nicht so weit gegangen wie Belsazar. Daniel machte daher einen Unterschied, indem er zweifellos durch den Geist Gottes belehrt war und wusste, dass der Becher der Ungerechtigkeit Belsazars nun bis zum Rand gefüllt war.

„Du, o König – der höchste Gott hatte Nebukadnezar, deinem Vater, das Königtum und die Größe und die Ehre und die Herrlichkeit verliehen; und wegen der Größe, die er ihm verliehen hatte, bebten und fürchteten sich alle Völker, Völkerschaften und Sprachen vor ihm. Wen er wollte, tötete er, und wen er wollte, ließ er leben; und wen er wollte, erhob er, und wen er wollte, erniedrigte er. Als aber sein Herz sich erhob und sein Geist sich bis zur Vermessenheit verstockte, wurde er vom Thron seines Königtums gestürzt, und man nahm ihm seine Würde. Und er wurde von den Menschenkindern ausgestoßen, und sein Herz wurde wie das eines Tiers, und seine Wohnung war bei den Wildeseln; man gab ihm Kraut zu essen wie den Rindern, und sein Leib wurde vom Tau des Himmels benetzt – bis er erkannte, dass der höchste Gott über das Königtum der Menschen herrscht und darüber bestellt, wen er will“ (5,18–21).

Daniel würde seine Botschaft verkünden, obgleich Belsazar zuerst hören sollte, wie Gott mit Nebukadnezar in früheren Tagen gehandelt hatte, und wie dieser unumschränkte Herrscher mit seinem weltumfassenden Königreich „als aber sein Herz sich erhob und sein Geist bis zur Vermessenheit sich verstockte, ... er von seinem königlichen Thron gestürzt [wurde], und man ihm seine Würde“ nahm. Daniel berichtete weiter die Art des Gerichtes, das über ihn hereingebrochen war, und erinnerte Belsazar daran, dass all dies geschah, „bis er erkannte, dass der höchste Gott über das Königtum der Menschen herrscht, und darüber bestellt wen er will“. Dann fuhr er damit fort, sich an den zitternden Herrscher vor ihm zu wenden – mit ernsten, aber glaubensvollen Worten:

„Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dies alles gewusst hast. Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben; und man hat die Gefäße seines Hauses vor dich gebracht, und du und deine Gewaltigen, deine Frauen und deine Nebenfrauen, ihr habt Wein daraus getrunken. Und du hast die Götter aus Silber und Gold, aus Kupfer, Eisen, Holz und Stein gerühmt, die nicht sehen und nicht hören und nicht wahrnehmen; aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt. Da wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift gezeichnet“ (5,22–24).

Wenn Gott in Begriff stand, zu zerschlagen, so wollte Er die Gründe seines Handelns erklärt haben. In der Tat ist es ein auffallendes Merkmal in seinen Wegen, insbesondere aufgezeichnet im Alten Testament, dass Er, bevor Er im Gericht handelt, sorgfältig die Gründe dafür angibt, damit Er in seinem Reden klar und in seinem Gericht gerecht sein würde (siehe z. B. 2. Chr 36,11–21). So stellte Daniel hier die Anklage gegen den König vor, zeigte ihm, dass er alle Warnungen der Vergangenheit übergangen hatte, gegen Licht und Erkenntnis gesündigt hatte, und dass er sich schließlich gegen den Herrn des Himmels erhoben und die heiligen Gefäße seines Hauses verunreinigt hatte. Dies zeigt klar die Bedeutung der Handlung des Königs, indem er befohlen hatte, dass diese Gefäße geholt werden sollten; dass es sich nicht einfach um eine zügellose Laune unter dem Rausch des Weines handelte, sondern um eine bewusste und gezielte Beleidigung Gottes. Daher wollte Daniel dem König verständlich machen, dass „diese Hand“ von Gott gesandt worden war, um in Bezug auf ebendiese Tat an die Wand zu schreiben. In einem solch feierlichen Moment durfte er in keinem Fall missverstanden werden, und so klagte er den König vor dem Gerichtshof Gottes an, bevor er das Geschriebene erklärte.3

„Da wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift gezeichnet“ (5,24).

Es waren vier Worte: MENE, MENE, TEKEL UPHARSIN. Als nächstes finden wir Daniels zuverlässige Deutung.

Bevor wir uns ihr zuwenden, sollte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt werden, dass Daniel die geschriebenen Worte nicht einfach übersetzt, sondern die Gedanken Gottes angibt, die dadurch übermittelt werden sollten. Dies konnte nicht getan werden, bis er selbst eine direkte Weisung empfangen hatte. Die Worte selbst, wenn sie nach ihrer Bedeutung wiedergegeben werden, sind „gezählt“, „gewogen“, und „zerteilt“. Doch kein menschlicher Scharfsinn hätte ihre göttliche Bedeutung entdecken können, und diese ist es, die Daniel erklärt. Das erste Wort wurde zweimal genannt. Der Grund hierfür kann zweifellos in den Worten Josephs an den Pharao gefunden werden: „Und was die zweimalige Wiederholung des Traumes an den Pharao anlangt, es bedeutet, dass die Sache vonseiten Gottes fest beschlossen ist und dass Gott eilt, sie zu tun“ (1. Mo 41,32).

„Dies ist die Deutung der Sache: Mene – Gott hat dein Königtum gezählt und hat ihm ein Ende gemacht. Tekel – du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden. Peres – dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben worden“ (5,26–28).

„Dies“, spricht Daniel, „ist die Deutung der Sache: Mene – Gott hat dein Königtum gezählt und macht ihm ein Ende“. Als er Nebukadnezars Gesicht des großen Bildes erklärt hatte, hatte Daniel zu ihm gesagt: „Du bist das Haupt aus Gold.“ Da Babylon durch das Medo-Persische Reich gefolgt werden sollte, ist offensichtlich, dass Nebukadnezars Herrscherperiode einbezogen und Belsazar der letzte Zugehörige dieser Periode war. Gott selbst hatte die Herrschaft der Erde in die Verantwortung Nebukadnezars gegeben, und Er allein bestimmte die Dauer seines Königreiches. Als Daniel daher zu Belsazar sagte: „Gott hat dein Königtum gezählt und macht ihm eine Ende“, so meinte er, dass nach der göttlichen Bestimmung das Ende der babylonischen Herrschaft erreicht worden war, indem die Tage gezählt und zu Ende gekommen waren.

Der Grund für diese Verkündigung kann im folgenden Vers gefunden werden: „TEKEL – du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden.“ Wenn Gott die Herrschaft über die Erde Nebukadnezar und seinen Nachfolgern zur Erfüllung seiner Absichten und Wege mit seinem Volk anvertraut hatte, dann zog Er sie auch dafür zur Rechenschaft, wie sie mit dem ihnen Anvertrauten umgegangen waren. Nun wird das Urteil über Belsazar verkündet. Auch Nebukadnezar hatte versagt, wenn auch nicht in gleichem Ausmaß; doch unter der Züchtigung Gottes hatte er sich selbst gedemütigt, Ihn als die Quelle seiner Autorität anerkannt, als den allmächtigen Herrscher im Himmel und auf der Erde, und hatte Ihn als den König des Himmels gerühmt und verherrlicht. Belsazar hatte, blind für alle Belehrungen der Vergangenheit, noch schwerer gesündigt, indem er seine Götzen über den Gott erhoben hatte, in dessen Hand sein Atem lag, und hatte sich so selbst über den Herrn des Himmels erhoben. Seine Bewährungszeit war nun zu Ende, und Daniel verkündete ihm das Ergebnis, das in dem geheimnisvollen Wort „Tekel“ zu Tage tritt, nämlich dass er, gewogen auf der unfehlbaren Waage Gottes, für mangelhaft befunden worden war.

Das Gericht ist im nächsten Wort enthalten: PERES4, das öffentliche Gericht über das Versagen Belsazars im Umgang mit der Macht, die ihm in der Regierung der Erde anvertraut worden war: „Dein Königreich wird zerteilt und den Medern und Persern gegeben.“ Die Langmut Gottes gegen das „Haupt aus Gold“ war zu Ende; und daher gibt es keinen Aufruf zur Buße, sondern nichts als die Ankündigung des Ergebnisses des göttlichen Urteiles, zusammen mit dem begleitenden Gericht. Insgesamt, wie einmal richtig gesagt wurde, „zeigt uns diese Erzählung den letztendlichen Charakter der Ungerechtigkeit der unumschränkten Macht der Nationen, die sich gegen den Gott Israels auflehnen, und das Gericht, das in der Folge über die Regierung fällt, dessen Haupt Babylon war, und dem Babylon seinen eigentümlichen Charakter verliehen hatte“.

Das Ende des Babylonischen Reiches und seine prophetische Bedeutung

„Darauf befahl Belsazar, und man bekleidete Daniel mit Purpur, mit einer goldenen Kette um seinen Hals; und man rief über ihn aus, dass er der dritte Herrscher im Königreich sein solle.

In derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet“ (5,29–30).

Es wird uns nichts über die Wirkung dieser schrecklichen Deutung mitgeteilt. Mit dem verkündeten Gericht hatte Gott, bis auf die Ausführung des Gerichtsurteils, mit dem Mann gehandelt, der auf anmaßende Art und Weise seine Macht entehrt hatte. Dennoch wird eine Sache hinzugefügt, und zwar Belsazars letzte königliche Handlung. Wie auch Daniels Haltung dazu sein mochte, er konnte nicht zulassen, dass sein öffentliches Versprechen der Belohnung für den Deuter zu Boden fiel. Menschen, die Gott gegenüber lügnerisch sind, verhalten sich in ihrer Selbstsucht oft wahrhaftig im Umgang miteinander. Daher gab Belsazar Befehl, „und man bekleidete Daniel mit Purpur, mit einer goldenen Kette um seinen Hals; und man rief über ihn aus, dass er der dritte Herrscher im Königreich sein solle“. Wenn er der Deutung glaubte, so ist es offensichtlich, dass er keine Vorstellung von der rasch auf ihn zukommenden Ausführung des gehörten Urteils hatte. Doch „in derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet. Und Darius, der Meder, bekam das Königreich, als er ungefähr zweiundsechzig Jahre alt war“.

Gott richtete somit das erste der Königreiche der Nationen, nämlich das Königtum Babylon. Dieses Ereignis war historisch gesehen von höchster Bedeutung, und nicht weniger aus prophetischer Sicht, denn die moralischen Eigenschaften, die die Herrschaft Belsazars kennzeichneten, werden im zukünftigen Babylon wieder auftreten, von dem in der Offenbarung gesprochen wird.

Dort wird es unter zweierlei Aspekten betrachtet – als eine Frau und als eine Stadt5. Der moralische Charakter des ersteren wird mit diesen Worten beschrieben: „Geheimnis, Babylon, die große, die Mutter der Huren und der Gräuel der Erde“ (Off 17,5). Von dem Herrscher, der den Thron von Satan empfangen hatte, lesen wir: „Und es öffnete seinen Mund zu Lästerungen gegen Gott, seinen Namen zu lästern und seine Hütte und die, die ihre Hütte in dem Himmel haben“ (Off 13,6). Darüber hinaus wird über das Gericht Babylons gesagt: „Darum werden ihre Plagen an einem Tag kommen: Tod und Traurigkeit und Hungersnot“ (Off 18,8). Und so wird es geschehen, denn von jenen, die ihre Zerstörung beklagen, wird gesagt, dass sie ausrufen. „Wehe, wehe! Die große Stadt, Babylon, die starke Stadt! Denn in einer Stunde ist dein Gericht gekommen“ (Off 18,10). Dies sollte genügen, um die Genauigkeit der Übereinstimmung und die prophetische Natur dieser historischen Berichterstattungen zu zeigen (vgl. auch Jer 50,35–46; Jer 51,24–64).

Einige Worte sollten vielleicht noch zur der Frage des geschichtlichen Ereignisses verloren werden, auf das in dem plötzlichen Umkommen Belsazars angespielt wird.  Es wird davon ausgegangen, dass Jesaja sich in Jesaja 45,1.2 auf die Gefangennahme Babylons durch Kores bezieht; und in Jesaja 47 spricht er ausdrücklich von der plötzlichen Zerstörung Babylons (Jes 47,11–15; siehe auch Jes 21,1–9). Auch Jeremia prophezeit noch detaillierter die überraschende Einnahme Babylons, und zwar in Verbindung mit den Medern (Jer 51,28–32). Von diesen beiden Prophezeiungen bezieht sich Letztere wohl eher auf das in diesem Kapitel beschriebene Ereignis. Es gibt solche, die in hoffnungsloser Verwirrung über die vorgegebenen geschichtlichen Ereignisse die Person des Darius mit der des Kores gleichzusetzen versuchen, doch die Aufzeichnung der Schrift ist deutlich darin, dass Darius das Königreich übernahm und Kores nachfolgend in seinen Besitz kam. Lasst uns nicht vergessen, dass die Bedeutung des Berichtes in seiner moralischen und prophetischen Belehrung liegt. Glücklich sind die, die in unumschränktem Vertrauen in das Wort Gottes ihre Herzen bereiten und öffnen, um seine Belehrung zu empfangen.

Fußnoten

  • 1 Die Chronologie der Nachfolger Nebukadnezars kann nicht eindeutig bestimmt werden, doch es scheint außer Frage, dass Belsazar nicht sein Sohn gewesen sein kann. Möglicherweise war es sein Enkel, wenngleich aus dies nicht belegt werden kann. Der Ausdruck „Vater“ wird daher, wie häufig in den Schriften, im Sinne eines Vorfahrens gebraucht. In welcher genauen Beziehung er jedoch auch zu Nebukadnezar stand, er kann nicht weit von dem Monarchen entfernt gewesen sein, denn wir sehen, dass er mit dem Gericht, das über ihn gefallen war, gut vertraut war.
  • 2 Dies kann schwerlich die Frau Belsazars gewesen sein (siehe V. 3); höchstwahrscheinlich war es die Königin-Mutter, oder, um es in heutiger Sprache auszudrücken, die Königswitwe.
  • 3 Da die Schrift in chaldäischer Sprache verfasst war, war es nicht so, dass die Weisen des Königs die Worte nicht verstanden. Es war der Bezug, die Anwendung und Deutung, die sie nicht angeben konnten. So viele einzelne Worte müssen ihnen, die völlig ahnungslos waren, zusammenhangs- und bedeutungslos vorgekommen sein.
  • 4 Peres ist eine andere Form des Wortes Upharsin. Ersteres ist das Partizip Passiv, letzteres das Partizip Aktiv des Verbes Pʼras (zerteilen).
  • 5 Für eine Erklärung dieser beiden Aspekte siehe The Visions of John in Patmos.
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