Der Prophet Daniel und die Zeiten der Nationen

Daniel 6

Historische Ereignisse mit schattenbildlichem Charakter

In dieser Abfolge von geschichtlichen Bildern werden uns, wie wir uns sicherlich erinnern, die moralischen Eigenschaften gezeigt, die in den letzten Tagen die letzte Form heidnischer Regierung kennzeichnen werden. Wenn Belsazar also die Gottlosigkeit verkörperte, die es wagt, sich über den Herrn des Himmels zu erheben, so stellt Darius die Erhöhung des Menschen dar, und zwar das Setzen des Menschen an die Stelle Gottes als Gegenstand der Anbetung. Dies wird in keinster Weise dadurch geschmälert, dass er durch einen listigen Betrug in diese Stellung gelangte, oder dass er selbst ein Menschen mit einem liebenswürdigen Charakter war; denn es ist dennoch wahr, dass er den Erlass unterschrieb, dass jeder, der für die Dauer von dreißig Tagen eine Bitte an irgendeinen Gott oder Menschen stellte außer an ihn selbst, in die Löwengrube geworfen werden sollte (V. 7). Nicht wer er selbst war, sondern was er tat beinhaltet die prophetische Bedeutung. Es ist gut möglich, dass der, der sich in zukünftigen Tagen widersetzen und über alles erheben wird, was Gott genannt oder angebetet wird, und der im Tempel Gottes sitzen und sich als Gott großmachen wird (2. Thes 2,4), viele der Eigenschaften aufweisen wird, die die Bewunderung und Huldigung des Menschen hervorrufen werden. Als der Herr auf der Erde war, hatte Er keine Schönheit, dass man Ihn begehrt hätte. In Ihm war nichts, was dem natürlichen Menschen gefallen hätte. Doch wenn der Antichrist in Erscheinung tritt, wird dieser von genau den Merkmalen gekennzeichnet sein, die das Herz des natürlichen Menschen ansprechen. Die Welt ist von der Welt und wird das Eigene lieben; während Christus, der nicht von dieser Welt war, von ihr gehasst wurde. Gerade weil Darius natürlicherweise einen bewundernswerten Charakter hatte, passt er in dieser Hinsicht in das Schattenbild dieses zukünftigen Herrschers in seiner Selbsterhöhung und Vergöttlichung.

„Und Darius, der Meder, bekam das Königreich, als er ungefähr zweiundsechzig Jahre alt war. Es gefiel Darius, über das Königreich 120 Satrapen zu bestellen, die im ganzen Königreich sein sollten, und über sie drei Vorsteher, von denen Daniel einer war – damit jene Satrapen ihnen Rechenschaft gäben und der König keinen Schaden erlitte. Da übertraf dieser Daniel die Vorsteher und die Satrapen, weil ein außergewöhnlicher Geist in ihm war; und der König beabsichtigte, ihn über das ganze Königreich zu bestellen“ (6,1–4).

Die ersten vier Verse dieses Kapitels bilden dir Grundlage für das Darauffolgende. Sie schildern nämlich den Anlass für die Handlungen, die darin enden, dass Daniel in die Löwengrube geworfen wird. Als Darius den Thron Babylons einnahm, ordnete er die königlichen Angelegenheiten neu, und „es gefiel Darius, über das ganze Königreich 120 Satrapen zu bestellen ... und über sie drei Vorsteher, von denen Daniel einer war ... Da übertraf dieser Daniel die Vorsteher und die Satrapen, weil ein außergewöhnlicher Geist in ihm war; und der König beabsichtigte, ihn über das ganze Königreich zu bestellen“. Belsazar hatte am Abend vor der Einnahme seiner Stadt Daniel zum dritten Herrscher in seinem Königreich gemacht. Darius erhob ihn auf den ersten Platz nach ihm, wobei er ein Werkzeug Gottes zur Erfüllung seiner Absichten war. Daniel war kein unbekannter Mann, und er wurde sowohl als Jude als auch als ein wahrer Anbeter des Gottes des Himmels gehasst. Seine Erhöhung im Königreich reizte den Neid und die Eifersucht der Vornehmen, Vorsteher und Satrapen, über die er gesetzt worden war, nur noch mehr.

Daniels unbeflecktes Zeugnis und die List der Satrapen

„Sobald ihr den Klang des Horns, der Pfeife, der Zither, der Sambuke, der Laute, der Sackpfeife und aller Art von Musik hören werdet, sollt ihr niederfallen und das goldene Bild anbeten, das der König Nebukadnezar aufgerichtet hat. Und wer nicht niederfällt und anbetet, der soll sofort in den brennenden Feuerofen geworfen werden“ (3,5–6).

Ein Mann von unzerstörbarer Treue, der einzig und allein danach trachtete, Gott zu gefallen, konnte von Menschen mit verdorbenen und habsüchtigen Herzen nicht gemocht werden. Daher beschlossen sie, auf welche Weise auch immer, ihn seines Amtes zu entheben oder zu zerstören. Zuallererst versuchten sie, einen das Königtum betreffenden Anklagegrund gegen ihn zu finden – in Bezug auf seine Verwaltung der Regierung. Kein Mensch hat so scharfe Augen wie der boshafte Mensch, sodass nichts – ob bezüglich der Finanzen oder anderer Angelegenheiten dieses gewaltigen Königreiches – ihren Blicken entging. „Aber sie konnten keinen Anklagegrund und keine schlechte Handlung finden, weil er treu war und kein Vergehen und keine schlechte Handlung an ihm gefunden wurde.“ Was für ein Zeugnis der Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit dieses Knechtes Gottes! Und dieses ist noch umso größer, da, wie wir im nächsten Vers lesen, es ein Zeugnis war, das ihm von seinen Feinden ausgestellt wurde. Sie wussten nicht, dass Daniel vor den Augen dessen wandelte, der die Geheimnisse des Herzens kennt, und dass es die Freude seines Lebens war, im Wohlgefallen und Segen Gottes zu wandeln.

Nachdem ihre Absichten in dieser Hinsicht vereitelt worden waren, suchten sie nach dem Erfindungsreichtum des bösen Herzens einen anderen Angriffspunkt. „Diese Männer“ (eine Bezeichnung, die offenbar gewählt wurde, um ihre Ungerechtigkeit auszudrücken) sagten: „Wir werden gegen diesen Daniel keinen Anklagegrund finden, es sei denn, dass wir einen im Gesetz seines Gottes gegen ihn finden.“ Da sie alle Götzendiener waren, und einen Vorgesetzten hatten, der ebenfalls ein Götzendiener war, erschien es ihnen leicht, Daniel auf einem solchen Grund in ihrem Netz zu fangen. Doch Darius kann es schwerlich entgangen sein, was zwischen Daniel und Belsazar geschehen war, noch dass Daniel ein gottesfürchtiger Jude war; und dies erklärt die Art und Weise, die diese Fürsten und Satrapen wählten. Sie fingen nicht an, Daniel dafür anzuklagen, dass er seinen Gott anbetete; vielmehr beschlossen sie mit Scharfsinnigkeit, dem König zunächst zu schmeicheln, indem sie ihm den Platz absoluter Vorherrschaft anboten – Vorherrschaft sowohl über den Himmel als auch über die Erde – und Daniel dann in Konflikt mit sowie zum Ungehorsam gegenüber dem König zu bringen.

„Dann liefen diese Vorsteher und Satrapen eilig zum König und sprachen zu ihm so: König Darius, lebe ewig! Alle Vorsteher des Königreichs, die Befehlshaber und Satrapen, die Räte und Statthalter, haben beschlossen, dass der König eine Verordnung aufstellen und ein Verbot erlassen soll, dass jeder, der innerhalb von dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbittet außer von dir, o König, in die Löwengrube geworfen werden soll. Nun, o König, erlass das Verbot und lass eine Schrift aufzeichnen, die nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist, nicht abgeändert werden darf. Deshalb ließ der König Darius die Schrift und das Verbot aufzeichnen“ (6,7–10).

Von Satan inspiriert, war ihr Werk schlau ersonnen, und sie suchten es sofort auszuführen. Folglich „liefen diese Vorsteher und Satrapen eilig zum König und sprachen zu ihm so: König Darius, lebe ewig!“ Und sie setzten seine Majestät darüber in Kenntnis, dass sie nach entsprechender Beratung übereingekommen waren, „dass der König eine Verordnung aufstellen und ein Verbot erlassen soll, dass jeder, der innerhalb von dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbittet außer von dir, o König, in die Löwengrube geworfen werden soll“. Das einzige, was zur Sicherung der Gültigkeit des Erlasses nötig war, war die königliche Unterschrift, und dann konnte es nicht mehr geändert werden, „nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist“.

Der König, der sich durch die Würdigung und Unterwerfung der Vorsteher seiner neuen Herrschaftsgebiete wahrscheinlich geschmeichelt fühlte, trat sofort in die Falle, die sie ihm gestellt hatten. Er hielt nicht inne, um die furchtbare Stellung zu überdenken, die er in Anspruch nahm, eine Stellung, die Gott allein gehört, und ließ „die Schrift und das Verbot aufzeichnen“.

Nebukadnezar hatte ein Bild gemacht und seinen Fürsten befohlen, bei seiner Einweihung anwesend zu sein und es gemeinsam zu verehren; doch Darius nahm nun selbst den Platz Gottes ein und untersagte jedem seiner Untertanen für die Zeit eines ganzen Monats, ob privat oder öffentlich, vor irgendeinem „Gott“ niederzufallen, außer vor ihm. Es war die Vergötterung des Menschen, die, wie wir bereits hervorgehoben haben, seine Entsprechung in den letzten Tagen haben wird, und der die Menschheit schon heute mit eiligen Schritten entgegengeht. Die Verdrängung Gottes durch den Menschen ist selbst im Christentum zu beobachten. Wen wundert es daher, dass wenn die Gemeinde nicht mehr da ist und die Kraft Satans unbegrenzt und ungehindert sein wird, der Mensch öffentlich und erklärtermaßen den Platz Gottes einnimmt, sogar unter allgemeiner Zustimmung. Eine solche Vollendung wird nur schrittweise erreicht. Die Schritte in diese Richtung werden still und unwissentlich gegangen; denn die menschliche Gesinnung wird durch Lehren darauf vorbereitet, die als Frucht schließlich dazu führen werden, dass sie kaum verwundert sein werden, wenn ein Mensch, der durch irdische Weisheit und Macht ihre Ehrerbietung gewonnen hat, sich selbst zu Gott macht.

Daniel missachtet das Gebot des Königs

„Und als Daniel erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus. Und er hatte in seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie und betete und lobpries vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte. Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und flehend vor seinem Gott. Dann traten sie hinzu und sprachen vor dem König bezüglich des königlichen Verbots: Hast du nicht ein Verbot aufzeichnen lassen, dass jedermann, der innerhalb von dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbitten würde außer von dir, o König, in die Löwengrube geworfen werden sollte? Der König antwortete und sprach: Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist. Hierauf antworteten sie und sprachen vor dem König: Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, achtet weder auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal am Tag sein Gebet“ (6,11–14).

Doch was tut Daniel angesichts eines solchen Befehls? Wird er ihm gehorsam sein? Oder wird er sich, wie seine drei Freunde in der Gefangenschaft, dem königlichen Geboten widersetzen? Wer könnte bezweifeln, was er tun würde, wenn man betrachtet, wie treu er sowohl zu Nebukadnezar als auch zu Belsazar gesprochen hatte? Darüber hinaus liefert die Tatsache, dass er innerhalb des Bereiches seiner Verantwortung und Treue gegenüber seinem Herrscher so gut gedient hatte, dass selbst seine Feinde keinen Anklagegrund finden konnten, eine Garantie dafür, dass er als Diener des Gottes des Himmels nicht weniger gewissenhaft in dem Bereich sein würde, in dem Gott über ihm steht. Darius – wenn er auch überlistet worden war – war aus dem Bereich seiner Autorität herausgestiegen und war in dem Erlass dieses Befehls in den Kreis Gottes eingedrungen, in dem der Mensch weder ein Recht noch einen Platz hat. Wenn Daniel daher ein gutes Gewissen Gott gegenüber behalten wollte, so hatte er keine andere Wahl als die Unterwerfung unter das erlassene Gebot zu verweigern. Daher, „als Daniel erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus. Und er hatte in seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie und betete, und lobpries vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte.“

Was für ein Schauspiel! Ein Mann aus einem anderen Volk, Zielscheibe der Bosheit der Chaldäer, der seine Erhöhung durch das Wohlgefallen des Königs genoss, fordert – koste es, was es wolle – die Macht des gesamten Königreiches heraus, weil er seinem Gott nicht untreu sein wollte! Und man beachte, dass der von ihm eingeschlagene Kurs keineswegs eine Zurschaustellung war. Er setzte seine Gewohnheit fort, „wie er vorher getan hatte“. Er hätte seine Fenster schließen und der Beobachtung entgehen können, doch wenn er dies getan hätte, so wäre es unter den gegebenen Umständen so gewesen, als würde er den Befehl des Königs beachten. Seine Fenster waren immer offen nach Jerusalem gewesen, und sie mussten es weiterhin sein. Daniel betete also durch die Gnade Gottes ungeachtet der Konsequenzen zu dem Herrn – morgens, mittags und abends – „wie er vorher getan hatte“.

Es gab einen Grund dafür, dass die Fenster nach Jerusalem geöffnet waren. Bei der Einweihung des Tempels hatte Salomo in Bezug auf das Volk gebetet für den Fall, dass es in die Gefangenschaft geführt werden sollte in das Land des Feindes, nah oder fern: Und wenn sie umkehren „zu dir mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele in dem Land ihrer Feinde, die sie gefangen weggeführt haben, und sie beten zu dir nach ihrem Land hin, das du ihren Vätern gegeben, nach der Stadt, die du erwählt hast, und dem Haus, das ich deinem Namen gebaut habe: so höre im Himmel, der Stätte deiner Wohnung, ihr Gebet und ihr Flehen, und führe ihr Recht aus“ (1. Kön 8,48–49). Daniel stützte sich also auf das sichere Wort Gottes, indem er so betete, der der Herr hatte zu Salomo gesagt: „Ich habe dein Gebet und dein Flehen gehört, das du vor mir gefleht hast“ (1. Kön 9,3).

Daniel war kein „geheimer Nachfolger“. Seine Gebetsgewohnheiten waren bekannt, und folglich wussten seine Feinde, wie sie herausfinden konnten, ob er dem Befehl gehorchen würde oder nicht. „Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und flehend vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte“. Die Bezeichnung „jene Männer“ wird zweifelsohne erneut (wie in V. 6; siehe auch die Verse 16 und 25) verwendet, um die göttliche Beurteilung ihres boshaften Verhaltens auszudrücken. Doch sie hatten ihr Ziel erreicht. Ihr böser Plan hatte bis hierhin gefruchtet, und während sie sich über ihren Erfolg freuten, „nahten sie und sprachen vor dem König bezüglich des königlichen Verbots“. Hatte nicht seine Majestät, so erkundigten sie sich, den Befehl unterzeichnet? Der König antwortete: „Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist.“ Ach! Der König war in den Händen dieser skrupellosen Männer. Er hatte ihre Schmeichelei angenommen, und nun war er ihr hilfloser Sklave geworden. Er selbst legte sich unverhofft seine eigenen Ketten an. Nachdem sie den Herrscher in ihrem Vorhaben befestigt hatten, fuhren sie damit fort, die Absicht ihrer bösen Herzen zu offenbaren, und die von ihnen verwendeten Worte verrieten die Tiefe ihrer Gräueltat. Sie sprachen vor dem König: „Daniel, einer der Weggeführten von Juda, achtet nicht auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal des Tages sein Gebet.“

Daniel in der Löwengrube

„Da wurde der König, als er die Sache hörte, sehr betrübt, und er sann darauf, Daniel zu retten; und bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich, ihn zu befreien. Da liefen jene Männer eilig zum König und sprachen zum König: Wisse, o König, dass die Meder und Perser ein Gesetz haben, dass kein Verbot und keine Verordnung, die der König aufgestellt hat, abgeändert werden darf. Dann befahl der König, und man brachte Daniel und warf ihn in die Löwengrube. Der König hob an und sprach zu Daniel: Dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, er möge dich retten! Und ein Stein wurde gebracht und auf die Öffnung der Grube gelegt; und der König versiegelte ihn mit seinem Siegelring und mit dem Siegelring seiner Gewaltigen, damit in Bezug auf Daniel nichts verändert würde“ (6,15–18).

Ihre persönliche Feindschaft gegen Daniel und sein Volk, zusammen mit ihrem Neid auf seine Stellung, werden deutlich offenbart, genauso wie die Tatsache, dass sie den König in ihrem vorgeblichen Wunsch seiner absoluten Vorherrschaft nur benutzt hatten, um die Vernichtung Danieles zu erreichen. Der König wurde auf diese Weise Auge in Auge mit der Frucht seiner eigenen Taten konfrontiert, und konnte das wahre Ziel des von ihm unterzeichneten Schreibens nicht länger vor sich verbergen. Wie oft sind auch wir blind für die Natur unserer Taten, bis wir ihre unwiderruflichen Folgen erfahren! So war es auch bei Darius, und als er die Anklage gegen Daniel hörte, wurde er auf schmerzliche Weise über sich selbst betrübt und versuchte, Daniel zu befreien: „Bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich, ihn zu befreien.“ Seine Bemühungen waren sowohl ein Zeugnis seiner Wertschätzung für Daniel als auch der Güte seines Herzens; doch er war nicht länger sein eigener Herr. Er selbst hatte den unabänderlichen Charakter der Gesetze der Meder und Perser erklärt. Daniels Feinde waren nicht träge darin, aus diesem Erlass ihren Vorteil zu ziehen, denn wieder „liefen jene Männer eilig zum König und sprachen zum König: Wisse, o König, dass die Meder und Perser ein Gesetz haben, dass kein Verbot und keine Verordnung, die der König aufgestellt hat, abgeändert werden darf“. Sie machten ihre Macht geltend, und ihre Sprache – „Wisse, o König“ – offenbart ihre Absicht, sie um jeden Preis zu erhalten, sodass Darius es nicht wagte, weiter mit einflussreichsten Fürsten seines Königreiches zu lamentieren, denn sie hatten durch seine eigene Torheit das Gesetz auf ihrer Seite. Daher „befahl der König, und man brachte Daniel und warf ihn in die Löwengrube“.

Die Tat war vollzogen, und jene Männer triumphierten sowohl über Daniel als auch über Darius. Doch es war noch ein anderer auf ihrer Seite, mit dem Daniels Feinde nicht gerechnet hatten, und wie wir in der folgenden Erzählung sehen werden, war ihr kurzlebiger Sieg nur der Auftakt ihres eigenen Niedergangs und ihrer Vernichtung. Wenn Gott auf der Seite seiner Leute ist, kann niemand erfolgreich gegen sie sein, wie auch immer es im Augenblick erscheinen mag. Selbst Darius hatte auf die eine oder andere Art die Überzeugung, dass Daniel nicht umkommen würde. „Dein Gott“, sagte er, „dem du ohne Unterlass dienst, er möge dich retten!“ Und doch war er noch immer unter der Macht seiner Diener und war verpflichtet, seinen Befehl bis zum bitteren Ende auszuführen, denn „ein Stein wurde gebracht und auf die Öffnung der Grube gelegt; und der König versiegelte ihn mit seinem Siegelring und mit dem Siegelring seiner Gewaltigen, damit hinsichtlich Daniels nichts verändert würde“.

Bevor wir weitergehen, sei eine Bemerkung erlaubt bezüglich der Ähnlichkeit zwischen der Handlung Darius' und seiner Fürsten und der der Hohenpriester und Pharisäer, wie sie im Matthäusevangelium aufgezeichnet ist. Diesen war es von Gott erlaubt worden, die Kreuzigung des Herrn Jesus zu erreichen, und nach seinem Tod wurde Er in der Gruft verwahrt. Sie waren mit dem Erreichen ihres Ziels noch nicht zufrieden, sondern erhielten die Erlaubnis von Pilatus „und sicherten, nachdem sie den Stein versiegelt hatten, das Grab mit der Wache“. In beiden Fällen glaubte der Mensch, sein Ziel sichern zu können, indem er ein Einschreiten und eine Befreiung unmöglich machte. Doch Gott hatte in ihren Gedanken keinen Platz – und was kann der Mensch tun, wenn er es wagt, Gott entgegenzutreten?

Daniels Befreiung

„Dann ging der König in seinen Palast, und er übernachtete fastend und ließ keine Nebenfrauen zu sich hereinführen; und sein Schlaf floh von ihm. Dann stand der König bei der Morgenröte, sobald es hell wurde, auf und ging schnell zur Löwengrube“ (6,19–20).

Dass das Herz Darius' nicht mit dem mitgehen konnte, was passierte, kann deutlich gesehen werden. Nun, da die Tat vollzogen war, war er trotz der von ihm ausgedrückten Überzeugung, dass Gott Daniel retten würde, von Reue erfüllt. Er verbrachte die folgende Nacht fastend, verzichtete auf seine gewohnte Musik und der Schlaf floh vor ihm. Als er früh morgens aufstand, lief er eilig zur Löwengrube. All seine Gedanken waren in diesem Moment auf Daniel gerichtet.

„Und als er sich der Grube näherte, rief er mit trauriger Stimme nach Daniel. Der König hob an und sprach zu Daniel: Daniel, Knecht des lebendigen Gottes, hat dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, vermocht, dich von den Löwen zu retten?“ (6,21).

Gott hatte seinen Knecht nicht vergessen; und obwohl Daniel der ganzen Entfaltung der Macht Satans ausgesetzt worden war1, war und konnte er nicht verletzt sein, denn er stand unter dem allgegenwärtigen Schutz des lebendigen Gottes. Er war daher in der Lage, dem König nach der üblichen hoheitlichen Anrede zu antworten:

„Da sprach Daniel zum König: O König, lebe ewig! Mein Gott hat seinen Engel gesandt und hat den Rachen der Löwen verschlossen, dass sie mich nicht verletzt haben, weil vor ihm Unschuld an mir gefunden wurde; und auch vor dir, o König, habe ich kein Verbrechen begangen. Da freute sich der König sehr, und er befahl, Daniel aus der Grube herauszuholen. Und Daniel wurde aus der Grube herausgeholt; und keine Verletzung wurde an ihm gefunden, weil er auf seinen Gott vertraut hatte“ (6,22–24).

Es war noch immer wahr, dass der Engel des Herrn die umlagert, die Ihn fürchten, und sie befreit (Ps 34,8). Es sollte dennoch bemerkt werden, dass Daniel behauptete, dass vor Gott „Unschuld“ an ihm gefunden worden war. Die Lektion ist hier, dass wir nicht bewusst unter dem Schutz Gottes stehen, noch in Anspruch nehmen oder erwarten können, dass Er uns beisteht, wenn wir kein reines Gewissen in seinen Augen haben. Daniel war vor dem König genauso klar wie vor Gott; wie der Apostel hatte er ein Gewissen, das frei von Anstoß sowohl vor Gott als auch vor Menschen war; und später griff Gott ein und verteidigte seinen Knecht, indem Er ihn, wie auch Paulus (2. Tim 4,17), aus dem Rachen des Löwen rettete.

Nachdem der Erlass ausgeführt worden war (denn die Strafe seiner Verletzung hieß nur, dass der Übertreter in die Löwengrube geworfen werden sollte, nicht jedoch, dass er von den Löwen getötet werden musste), war der König frei von den Netzen seiner Fürsten. Der Befehl war ausgeführt worden, und Daniel hatte seine Strafe erlitten. Darius konnte daher, ohne die unabänderlichen Gesetze der Meder und Perser zu verletzten, seine Vorrechte nutzen und befehlen, dass Daniel aus der Grube herausgeholt werden sollte. Als er heraufgeholt wurde, wurde „keine Verletzung an ihm gefunden, weil er auf seinen Gott vertraut hatte“. Hier wird das ganze Geheimnis seiner Bewahrung und Befreiung offenbart. Vertrauen, das in seiner Seele göttlich gewirkt war, brachte Gott ins Spiel, der seinen Diener vor der Bosheit seiner Feinde beschirmte, indem Er die natürlichen gefräßigen Instinkte der Löwen unterdrückte. Der Apostel denkt an Daniel, als er von den Propheten spricht, „die durch den Glauben ... der Löwen Rachen verstopften“ (Heb 11,33.34). Es war einer der Glaubenssiege, die das Volk Gottes ermutigen sollten, Ihm immer zu vertrauen und mit Ihm zu rechnen und daran zu denken, dass, während mit Gott alle Dinge möglich sind, auch dem alle Dinge möglich sind, der glaubt. Von dieser wunderbaren Wahrheit ist Daniel hier ein Beispiel.

„Und der König befahl, und man brachte jene Männer, die Daniel angezeigt hatten, und man warf sie in die Löwengrube, sie, ihre Kinder und ihre Frauen; und ehe sie noch auf dem Boden der Grube angekommen waren, bemächtigten sich ihrer die Löwen und zermalmten alle ihre Gebeine“ (6,25).

Das Werk des Königs war mit der Befreiung Daniels noch nicht vollendet. Nachdem er durch die Geschehnisse die Größe der Untreue seiner Vorsteher und Fürsten vollständig durchschaut hatte, befahl er in gerechter Entrüstung, „und man brachte jene Männer, die Daniel angezeigt hatten, und man warf sie in die Löwengrube, sie, ihre Kinder und ihre Frauen; und ehe sie noch auf den Boden der Grube gekommen waren, bemächtigten sich ihrer die Löwen und zermalmten alle ihre Gebeine“. „Jene Männer“ fielen in die Grube, die ihre eigenen Hände gegraben hatten und kamen mit ihren Füßen in die Falle, die sie Daniel gelegt hatten. Auf diese Weise verteidigte Gott seinen Diener und führte über seine Feinde das Gericht aus.

Der neue Erlass des Königs

Die Geschehnisse, die Darius gesehen hatte, hatten einen tiefen Eindruck auf Darius gemacht, und er erließ einen Erlass in seinem ganzen Königriech an die verschiedenen Völker:

„Darauf schrieb der König Darius an alle Völker, Völkerschaften und Sprachen, die auf der ganzen Erde wohnten: Friede euch in Fülle!“ (6,26).

Inwieweit er in die Wahrheit der von ihm zu schreiben veranlassten Worten eindrang, wird nicht offenbart. Wie auch immer es gewesen sein mag, es war kein schlechtes Zeugnis, das er Gott und seiner Souveränität widmete. Er ging deutlich weiter als Nebukadnezar in Kapitel 3. Der Monarch gab sich damit zufrieden, seinen Untertanen unter Androhung äußerster Strafen zu verbieten, irgendetwas gegen den Gott Sadrachs, Mesachs und Abednegos zu sagen. Darius befahl, dass in all seinen Königreichen die Menschen den Gott Daniels fürchten und vor Ihm zittern sollten, weil Er der lebendige Gott ist und sein Königreich ewig besteht. Auf solch wunderbare Weise sorgte Gott dafür, dass der Zorn des Menschen zu seiner Ehre dient, und der Versuch, das Licht seines Zeugnisses in Babylon für immer auszulöschen, wurde zum Mittel, um es auf der ganzen Erde zu entfachen.

Daniel als Vorbild des treuen Überrestes

Zu Beginn dieses Kapitels sahen wir, dass Darius, indem er den Platz annahm, dem seine Berater ihm anboten, ein Bild des zukünftigen Hauptes der letzten Form der heidnischen Herrschaft ist, die göttliche Ehren annehmen wird, und seine Vergötterung von seinen Untertanen erzwingt (Off 13,8–12). Die Befreiung Daniels ist ebenfalls ein Vorbild. Er symbolisiert der Überrest, Gottes treuen Überrest, der in Jerusalem und im Land während der Tage der furchtbaren Gewalt des Antichristen gefunden werden wird. Er wird durch die Intrigen seiner Feinde wie damals in die Löwengrube geworfen, von allen Seiten umgeben von den verschiedenen Erscheinungsformen der Macht Satans, und seine Vernichtung wird dem menschlichen Auge unmittelbar bevorstehend und unausweichlich erscheinen. Doch Gott selbst wird ihn bewahren, und indem Er durch das Erscheinen Christi zu seiner Errettung eingreift, wird Er auf die Feinde genau das Gericht bringen, welches sie für sein Volk ersonnen hatten.

Diese Situation des Überrestes kurz vor der Erscheinung Christi in Herrlichkeit ist in den Propheten und den Psalmen häufig dargestellt. Ein Zitat aus den Psalmen wird dies deutlich machen: „Mitten unter Löwen“, sagt der Psalmist, als er als Sprachrohr des Geistes Christi in diesem Überrest spricht, „ist meine Seele, unter Flammensprühenden liege ich, unter Menschenkindern, deren Zähne Speere und Pfeile, und deren Zunge ein scharfes Schwert ist“ Ps 57,5). Und dann, indem er sich nach oben wendet, ruft er: „Erhebe dich über die Himmel, o Gott! Über der ganzen Erde sei deine Herrlichkeit!“ Er weiß, dass bei der Entfaltung der Herrlichkeit Gottes bei der Erscheinung Christi der Zeitpunkt der Erlösung des Überrestes erreicht sein wird. Genauso sagt er es im vorhergehenden Vers: „Vom Himmel wird er senden ... seine Güte und seine Wahrheit.“ Doch erneut sagt er in Verbindung mit dem prophetischen Charakter der Befreiung Daniels: „Ein Netz haben sie meinen Schritten bereitet, es beugte sich nieder3 meine Seele; eine Grube haben sie vor mir gegraben, sie sind mitten hineingefallen.“ Dieser Psalm wurde mindestens 500 Jahre vor der Zeit Daniels geschrieben, und doch ist sein Zutreffen auf seine Erfahrung so augenscheinlich, dass sie die Aufmerksamkeit jedes gottesfürchtigen Lesers der Schrift auf sich zieht. Die Erklärung hierfür ist, dass die Umstände Davids, die die Gelegenheit zur Niederschrift des Psalms gaben, genauso wie die Daniels gleichermaßen prophetisch auf den Überrest der letzten Tage hinweisen.

Es sollte für die jüngeren Erforscher der Schrift auch hier darauf hingewiesen werden, dass sehr wenige der biblischen Erzählungen einfach nur historisch sind. Als Geschichten sind sie zwar von höchstem Interesse und bieten moralische Lektionen von größtem Wert, doch sie sind häufig auch vorbildlich und prophetisch. David ist beispielsweise eine historische Persönlichkeit, und aus seinem Leben und Verhalten kann viel Belehrung gezogen werden – Belehrung, die sowohl Ermutigung als auch Warnungen enthält. Doch in all seiner Verwerfung und Verfolgung vor der Besteigung des Throns finden wir in ihm auch ein Vorbild auf Christus, als Er in das Seine kam und die Seinen Ihn nicht aufnahmen. Genauso verkörpert er später in seinem Königtum Christus in seiner Gerechtigkeit, während Salomo, sein Sohn, den Messias als König des Friedens vorschaltet. Darüber hinaus war David, wie wir durch die Autorität des Apostels Paulus wissen (Apg 2,30), ein Prophet, und demnach sind, wie auch in dem oben zitierten Psalm, viele seiner Schriften Beschreibungen der Zukunft, ob nun bezüglich der Position und des Zustands des Überrestes oder bezüglich der Segnungen und der Herrlichkeit der Herrschaft des Messias in seinem Königreich. Es erhöht unser Interesse an der Schrift ungemein, dies zu bedenken, und es ermöglicht uns gleichzeitig, ihren tiefgreifenden Charakter und Gottes Absicht mit den besonderen ausgezeichneten Ereignissen.

Es bleibt nur noch zu sagen, dass Darius' Bekenntnis des Gottes Daniels als den lebendigen Gott ebenso schattenbildlich ist, denn es schattet die Belehrung der Heiden vor, die auf das Eintreten des HERRN zur Rettung seines Volkes und zum Gericht seiner Feinde folgt. In Psalm 18 lesen wird demnach, folgend auf Beschreibung des Sieges des Messias über Seine Feinde: „Du errettetest mich aus den Streitigkeiten des Volkes; du setztest mich zum Haupt der Nationen; ein Volk, das ich nicht kannte, dient mir. Sowie ihr Ohr hörte, gehorchten sie mir; die Söhne der Fremde unterwarfen sich mir mit Schmeichelei“ (Psalm 18,44.45). Und weiter: „Der mich errettete von meinen Feinden. Ja, du erhöhtest mich über die, die gegen mich aufstanden; von dem Mann der Gewalttat befreitest du mich. Darum, HERR, will ich dich preisen unter den Nationen, und Psalmen singen deinem Namen“ (Psalm 18,49.50). Wir lernen daher, wie in allen prophetischen Schriften, dass der Herr sein Volk durch schonungslose Gerichte retten wird, und dass Er, nachdem Er ihre Unterdrücker in seinem Zorn heimgesucht hat, seinen Thorn aufrichten wird, und dann werden alle Könige vor Ihm niederfallen und alle Nationen Ihm dienen.

Fußnoten

  • 1 Es war natürlich eine wahrhaftige Löwengrube, in die Daniel geworfen worden war, doch wir sehen keinen Grund, von der üblichen Bedeutung des Löwen in der Schrift abzuweichen.
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