Der Prophet Daniel und seine Botschaft
alter Titel: Notizen zum Buch Daniel

Kapitel 9 - Die Fürbitte Daniels und Gottes Antwort

Der Prophet Daniel und seine Botschaft

Im ersten Teil des Buches war Daniel Empfänger prophetischer Mitteilungen durch Ereignisse im Babylonischen Reich gewesen. In den Kapiteln 7 und 8 sahen wir Daniel als Empfänger prophetischer Mitteilungen unmittelbar durch Gott. Es fällt auf, dass es in diesen beiden Kapiteln wiederholt heißt: „Ich sah“. Es ist darüber hinaus mehrfach von einem „Gesicht“ die Rede. Am Ende von Kapitel 9 setzt sich das fort. Doch zunächst lernt Daniel zu Beginn des Kapitels die Gedanken Gottes durch das Studium des Propheten Jeremia kennen. Im Licht dessen, was er liest, erkennt er, dass die Gefangenschaft bald zu einem Ende kommen wird. Diese Erkenntnis bringt ihn ins Gebet. Als Antwort auf dieses außergewöhnliche Gebet gibt Gott ihm eine Offenbarung, die ebenfalls außergewöhnlich ist. Kapitel 9 zeigt Daniel als einen ernsthaften Forscher und Beter. Damit ist er für uns ein Vorbild.

Ein wichtiges Kapitel zum Verständnis biblischer Prophetie

Der Schwerpunkt in Kapitel 9 ist erkennbar anders als in den Kapiteln 7 und 8. Auch dort ging es primär um Israel, jedoch mehr in Verbindung mit den Reichen der Nationen. In Kapitel 9 hingegen geht es um die Sünde des Volkes Gottes sowie um die Verwüstung Jerusalems und des Tempels. W. Kelly schreibt: „Es muss für jeden aufmerksamen Leser dieses Kapitels augenscheinlich sein, dass der Hauptgegenstand die Zukunft Jerusalems und der zukünftige Platz des (irdischen) Volkes Gottes ist.“1 Vordergründig geht es um die Zeit, in der Daniel lebte, prophetisch liegt darin jedoch eindeutig ein Hinweis auf die Zeit des Endes. Es gibt eine unübersehbare Verbindung zwischen der Rückführung in der Zeit Daniels und der Wiederherstellung des Volkes Israel am Ende. Damals lag das Gericht Gottes über der Stadt und dem Volk und auch in Zukunft werden Jerusalem und das Volk unter dem göttlichen Gericht sein. Ebenso wie damals die Verwüstung ein Ende fand, wird es in der Zukunft auch sein. Die teilweise Wiederherstellung und Rückkehr der Juden in das Land ist ein Bild von der künftigen Sammlung Israels vor der Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches. Es gibt für Israel – obwohl sie den Messias gekreuzigt haben – eine Hoffnung und eine Zukunft. Allerdings wird am Ende des Kapitels ebenfalls klar, dass die Zukunft Israels nicht von den „Zeiten der Nationen“ (dem großen Thema des Buches Daniel) getrennt werden kann. Die Mächte, die wir in den Kapiteln 7 und 8 gesehen haben, werden in der Zukunft Israels und Jerusalems eine wichtige Rolle spielen.

Daniel erfährt aus dem Propheten Jeremia, dass einige Juden nach Palästina zurückkehren werden, um die Stadt und den Tempel wieder zu bauen. Dieses Ereignis wird allerdings die Zeiten der Nationen nicht beenden. Die Herrschaft wird bis auf Weiteres bei den Nationen verbleiben. Es wird eine große Drangsal und Trübsal geben, bevor das Ende wirklich erreicht ist. Jerusalem wird noch einmal verwüstet werden. Die Weissagung Jesajas – die Daniel möglicherweise ebenfalls kannte – würde durch das Ende des Exils in Babylon noch nicht in Erfüllung gehen: „Deine Augen werden Jerusalem sehen, eine ruhige Wohnstätte, ein Zelt, das nicht wandern wird, dessen Pflöcke niemals herausgezogen werden und von dessen Seilen keins je losgerissen werden wird“ (Jes 33,20). Bis dahin muss noch sehr viel geschehen.

Das Kapitel teilt sich in zwei große Teile auf:

  1. Das Gebet Daniels (Verse 1–19)
  2. Die Antwort Gottes auf das Gebet (Verse 20–27)

Teil 1: Das Gebet Daniels

Wir haben Daniel bereits als Mann des Gebets kennengelernt. Sein Gebet in Kapitel 9 zeigt seine hohe emotionale Bindung an das Volk und die Stadt seines Gottes. Israel war zwar nicht mehr das offiziell anerkannte Volk Gottes, trotzdem sah Daniel es so und liebte es. Er hörte nicht auf, von der Stadt, dem Tempel, dem Berg und dem Volk Gottes zu reden. Die Zucht Gottes und das Gericht sah er geradezu als Beweis an, dass das Volk Gott gehörte und Er sich immer noch darum kümmerte.

Daniel wird uns als jemand gezeigt, der für das Volk Fürbitte tut. Er zeigt den „Geist der Gnade und des Flehens“ (Sach 12,10). Fürbitte zu tun ist eine der großen Aufgaben und Merkmale eines Propheten. Jeremia sagt von den falschen Propheten: „Wenn sie aber Propheten sind und wenn das Wort des Herrn bei ihnen ist, so mögen sie doch bei dem Herrn der Heerscharen Fürbitte tun“ (Jer 27,18). Ein Prophet redet nicht nur im Auftrag Gottes zu dem Volk, sondern er verwendet sich gleichzeitig für das Volk bei Gott. Wir finden das ausgeprägt im Leben Samuels (vgl. z. B. 1. Sam 12,23). Für uns liegt darin ein praktischer Hinweis. Wir können weder den Dienst der Weissagung noch die Beschäftigung mit dem prophetischen Wort vom Gebet trennen. Das Wort Gottes ist immer mit Gebet verbunden und führt zum Gebet.

Das Gebet Daniels erinnert an andere Gebete in der Bibel, etwa an das Gebet Moses in 2. Mose 32, als das Volk das goldene Kalb gemacht hatte. Augenscheinlich sind die Parallelen zu den Gebeten in Esra 9 und Nehemia 9. Dort war das Volk aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, befand sich allerdings erneut im Abfall und im Niedergang.

Es ist bemerkenswert, dass Daniel sich in seinem Gebet nicht auf die Verheißungen Gottes an Abraham stützt. F. B. Hole schreibt dazu: „Daniel spielte nicht auf den Verheißungsbund an, den Gott mit Abraham machte, sondern stellte sich selbst vor Gott auf den Boden des Gesetzesbundes durch Mose und den darauf folgenden Dienst der Propheten. In dieser Hinsicht bekannte er den völligen Zusammenbruch und das Unglück, obgleich er selbst weniger als irgendein anderer in seinen Tagen an diesem Fall beteiligt war.“2

Daniels Fürbitte ist besonders durch zwei Dinge gekennzeichnet:

  1. Große Liebe zu dem Ort, wo Gott gewohnt hatte. Er hatte den Tempel in Jerusalem nicht vergessen, auch wenn er schon seit langem in Trümmern lag.
  2. Tiefe Zuneigung für das Volk, das er immer noch das Volk Gottes nennt und mit dessen Sünde er sich in seinem Gebet voll und ganz identifiziert.

Wir wissen nicht, wer in Babel Psalm 137 verfasst hat. Es könnte sehr gut Daniel gewesen sein: „Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so vergesse mich meine Rechte! Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich mich nicht an dich erinnere, wenn ich Jerusalem nicht erhebe über die höchste meiner Freuden!“ (Ps 137,5.6). Daniel litt darunter, dass die Stadt und der Tempel zerstört waren. Er litt darunter, dass sich das Volk Gottes in der Gefangenschaft befand. Nur ein geistlicher Mensch hat solche Empfindungen, wie Daniel sie hatte.

An dieser Stelle sei auf einen Kontrast zu Kapitel 4 hingewiesen. Wir sahen schon, dass es zwischen den Kapiteln 2 und 7 gewisse Parallelen gibt. Gleiches gilt für die Kapitel 3 und 8. In Daniel 4 finden wir den Stolz und Hochmut Nebukadnezars in Verbindung mit Babel. Er hatte gesagt: „Ist das nicht das große Babel, das ich zum königlichen Wohnsitz erbaut habe durch die Stärke meiner Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?“ (Dan 4,27). In Kapitel 9 finden wir die Demut Daniels im Blick auf Jerusalem. Nebukadnezar lebte in Babel und für Babel. Er kannte nichts anderes. Sein Herz schlug für diese Stadt. Daniel lebte zwar in Babel, sein Herz schlug jedoch für Jerusalem, die Stadt seines Gottes. Der Kontrast zwischen diesen beiden Städten könnte nicht größer sein. Wir finden ihn sowohl im ersten Buch der Bibel als auch im letzten Buch der Bibel. Im 1. Buch Mose ist Babel ein Synonym für Macht und Hochmut. Abraham hingegen erwartet eine Stadt, „die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Heb 11,10). In der Offenbarung ist Babylon „die große Hure“ (Off 17,1; 19,2), die dem „neuen“ und „himmlischen“ Jerusalem völlig entgegengesetzt ist.

Wenn wir an uns denken, so lernen wir von Daniel, dass Zuneigung und Liebe zu der Versammlung Gottes, die Er sich „durch das Blut seines Eigenen“ erworben hat (Apg 20,28), einen hohen Stellenwert hat. So wie damals die Stadt und der Tempel in Trümmer lagen, ist die Versammlung – vom Standpunkt unserer Verantwortung aus gesehen – ebenfalls ein Trümmerhaufen. Die Schuld tragen wir. In den Augen Gottes bleibt die Versammlung eine „kostbare Perle“ (Mt 13,46), die Er schätzt. Gleichzeitig lernen wir von Daniel, uns mit der Schuld des Volkes Gottes zu identifizieren und um das Erbarmen Gottes zu bitten. Gerade in Zeiten der Zerrissenheit im Volk Gottes brauchen wir Beter, die in der Gesinnung von Daniel ihre Not vor Gott ausbreiten.

Das Gebet offenbart Daniels geistlichen Zustand. Das wird immer so sein. Obwohl Daniel in Kapitel 9 ein alter Mann ist, hat er nichts von seiner Ehrfurcht vor der Größe und Herrlichkeit Gottes und seiner Abhängigkeit Ihm gegenüber verloren. Er kannte Gott, weil er Ihn erlebt hatte. Daran hatte sich nichts geändert und selbst seine hohe berufliche Position war ihm kein Hindernis. Davon können wir lernen. Große Lebenserfahrungen und vielleicht eine hohe gesellschaftliche oder berufliche Position können unser geistliches Leben leicht behindern und schwächen. Das Beispiel Daniels zeigt, dass das nicht so sein muss. Sein Leben war in der Tat „wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe“ (Spr 4,18).

Unter dem Blickwinkel menschlicher Verantwortung wäre die Gefangenschaft in Babel nicht zu einem Ende gekommen, hätte Daniel dieses Gebet nicht gesprochen. Natürlich war es der Wille und Ratschluss Gottes, dass nach 70 Jahren die Gefangenschaft zu Ende gehen sollte. Jeremia hatte das vorausgesagt, und Jesaja hatte bereits von Kores gesprochen, der den Erlass zur Rückkehr geben würde (vgl. Jes 44,28). Gott war es, der den Geist des Kores erweckte (vgl. Esra 1,1.2), und Kores ließ sich erwecken. Trotzdem war das Gebet Daniels erforderlich. Selbst wenn es niemand in Babel wahrgenommen haben sollte, war es doch der „Auslöser“ für das Handeln Gottes mit Kores. Gott hatte darauf gewartet, dass jemand aus dem Volk die Schuld anerkannte und bekannte. Für uns lernen wir daraus, dass das Gebet im Hintergrund eine große Macht hat.

Wir folgen bei der Auslegung des Gebets folgender Struktur:

  • Der Anlass zum Gebet (Verse 1–3)
  • Das Bekenntnis Daniels (Verse 4–6)
  • Die gerechten Wege Gottes (Verse 7–14)
  • Die Fürbitte Daniels (Verse 15–19)

Das Gebet lehrt uns einige wesentliche Merkmale des Gottesmannes Daniel:

  1. Er nimmt die Aussagen Gottes über das Gericht und die Gnade ernst.
  2. Er ist gottesfürchtig und erkennt Gottes Souveränität und Herrschaftsanspruch an.
  3. Er hat ein tiefes Bewusstsein von der Schuld seines Volkes.
  4. Er bekennt das Fehlverhalten des Volkes als konkrete Sünde. Er schämt sich und erkennt an, was das Volk Gott durch seine Sünde angetan hat.
  5. Er identifiziert sich als Teil des Volkes mit dessen Sünde und ist nicht selbstgerecht.
  6. Er erkennt an, dass Gott auch im Gericht gerecht gehandelt hat.
  7. Er appelliert bei allem Versagen an die Güte und Barmherzigkeit Gottes.

Teil 2: Die Antwort Gottes und das Gesicht über die 70 Jahrwochen

Die Antwort Gottes auf das Gebet Daniels beinhaltet die Weissagung über die 70 Jahrwochen. Für das Verständnis biblischer Prophetie sind diese Verse sehr wichtig. Leider gibt es viele Missverständnisse darüber, so dass es gut sein wird, die Details mit Sorgfalt zu erklären und zu betrachten.

Die Erläuterungen des Engels Gabriel sind die Antwort auf das Gebet Daniels. Es ging Daniel besonders um das Volk Gottes, um die Stadt Jerusalem und das Heiligtum (den Tempel). Alle drei Themenbereiche werden in der Antwort behandelt. In dem Gesicht sieht Daniel, dass es noch sehr lange dauern wird, bis es zu einer völligen Wiederherstellung kommen kann. Die 70 Jahre Gefangenschaft werden zwar zu Ende gehen, dennoch wird es noch eine weitere Zeit dauern, bis Gott mit den Juden wirklich zu seinem Ziel kommt. Dieses Ziel wird am Anfang des Abschnitts vorgestellt. Der Tag kommt, wo Sünde und Ungerechtigkeit ein Ende haben und Gerechtigkeit herrschen wird. Das wird die herrliche Zeit des kommenden Reiches sein, in der alle Weissagungen des Alten Testamentes darüber in Erfüllung gehen. Das Reich des Sohnes des Menschen wird auf der Erde aufgerichtet und die Heiligen der höchsten Örter werden es empfangen und besitzen. Dann wird sich erfüllen, was am großen Sühnungstag (3. Mose 16) prophetisch vorgebildet wird. Der Hohepriester kommt aus dem Heiligtum, um die Sünden des Volkes auf den zweiten Bock zu legen und ihn in die Wüste zu schicken.

In der Erläuterung werden die 70 Wochen in drei Perioden aufgeteilt. Die erste Periode von 7 Jahrwochen (49 Jahre) diente zum Aufbau der Stadt Jerusalem. Damit war die Frage Daniels eigentlich beantwortet, aber nun lernt er, dass dieser Wiederaufbau nicht die endgültige Wiederherstellung sein würde. Für Daniel muss das ein großer Schock gewesen sein, denn er liebte diese Stadt über alles. Es folgen weitere 62 Jahrwochen (434 Jahre), in denen Jerusalem durch schwere Drangsal gehen würde. Am Ende kommt zwar der ersehnte Messias, allerdings wird Er nichts haben. Sein Kommen wird (noch) nicht die Weissagung aus Haggai 2 erfüllen, wo der Tempel Gottes mit Herrlichkeit erfüllt wird. Statt Herrlichkeit und Herrschaft wird die Stadt noch einmal durch ein fremdes Volk zerstört werden. Und dann folgt noch die letzte Jahrwoche (7Jahre), in der ein weiterer Verwüster auftreten wird. Erst danach kann die Wiederherstellung für das Volk, für Jerusalem und für den Tempel kommen. All das wird eine lange Zeit in Anspruch nehmen.

In seiner Antwort geht der Engel weit über das hinaus, was Daniel erbeten hatte und was ihn so sehr bewegte. Das ist oft die Weise Gottes. Er gibt mehr, als Menschen von Ihm erbitten. In wenigen Versen bekommt Daniel einen Überblick über die Geschichte des Volkes der Juden von dem Zeitpunkt der Rückkehr aus dem Exil bis in das Tausendjährige Reich hinein. Es geht um den Wiederaufbau der Stadt in einer schweren Zeit, um das Kommen des Messias und um seinen Tod, um die erneute Zerstörung des Tempels durch die Römer, um Wirren durch Kriege und vor allem um die Zeit der großen Drangsal ganz am Ende.


Die Einteilung der Verse ist wie folgt:

  • Der Engel Gabriel (Verse 20–23)
  • Das Gesicht über die 70 Jahrwochen (Verse 24–27)
     - Überblick und Einleitung über das Gesicht (Vers 24)
     - Die ersten 69 Jahrwochen (Vers 25)
     - Die Zeit vor der letzten Jahrwoche (Vers 26)
     - Die letzte Jahrwoche (Vers 27)

Verse 1–3: Der Anlass zum Gebet

Im ersten Jahr Darius'

Wir befinden uns ca. im Jahr 538 v. Chr..3 Fast 70 Jahre waren vorbei, seit Daniel als junger Mann den Fall Jerusalems erlebt hatte. Inzwischen hatte er viel erlebt und war ein alter Mann von deutlich über 80 Jahren. Er hatte Erfahrungen mit seinem Gott gemacht und dessen Gnade erlebt. Prüfungen waren ihm nicht erspart geblieben, weder in jungen Jahren noch im Alter. Er war dabei, als Babylon sich als Weltmacht etablierte und dann die Macht verlor. Der Meder Darius regierte nun in Babylon. Es ist derselbe Darius, der in Daniel 5 (am Ende) und 6 erwähnt wird. Daniel bekleidete unter ihm eine hohe Position, doch weder sein Alter noch seine gesellschaftliche Stellung hinderten ihn daran, an seinen Gott, an Jerusalem und an sein Volk zu denken und mit ihm zu leiden.4 Daniel hatte seinen Charakter nicht verändert.

Daniel liest die Schriften

Wir haben Daniel bereits als Mann des Gebets kennengelernt. In diesem Kapitel finden wir ihn wieder so. Und nicht nur das: Daniel war gleichzeitig jemand, der die Schriften las und das Wort Gottes kannte. Das Wort „Schrift“ kommt hier – jedenfalls in diesem Sinn als das Wort Gottes – zum ersten Mal in der Bibel vor.5 Wir wissen nicht genau, welche Schriftrollen – gemeint sind die damals vorliegenden Schriften des Alten Testamentes6 – das im Einzelnen waren und auf welchem Weg sie zu Daniel gekommen waren. Jedenfalls war der Prophet Jeremia dabei. Jeremia hatte am Ende der Zeit der Könige von Juda geweissagt, also kurz bevor Jerusalem endgültig zerstört wurde. Er war nach diesem Ereignis gegen seinen Willen aus Jerusalem verschleppt worden und in Ägypten gestorben. Was er im Auftrag Gottes geschrieben hatte, war zunächst von dem König Jojakim von Juda vernichtet worden (Jer 36,23). Jeremia hatte es dann neu aufgeschrieben (Jer 36,28), und Daniel muss die Rolle – oder eine Abschrift (Kopie) davon – besessen haben. Darin las er. Das Erstaunen über das, was er las, lässt den Rückschluss zu, dass er diesen Text tatsächlich erst im Alter zur Kenntnis nahm, ganz sicher ist das allerdings nicht.

Das Geheimnis der geistlichen Kraft Daniels lag nicht nur in seiner Ehrfurcht vor Gott und in seinem Herzensentschluss, Ihm treu zu bleiben. Hinzu kamen das regelmäßige Gebet und das sorgfältige Studium der heiligen Schriften. Schon in Kapitel 1 lieferte er den Beweis seiner Kenntnis der Schriften, indem er die Speisevorschriften des Alten Testamentes kannte.7 Der Inhalt seines Gebets macht ebenfalls klar, dass er nicht nur den Propheten Jeremia kannte. Offensichtlich war ihm der Inhalt des Gebets von Salomo anlässlich der Einweihung des Tempels ebenfalls bekannt (1. Kön 8). Obwohl er selbst ein Prophet war, der große Offenbarungen bekommen hatte, lernte er aus den Schriften, die andere vor ihm geschrieben hatten. Die Offenbarungen, die er bereits bekommen hatte, hielten ihn nicht davon ab.

Wir lernen, dass sich unser Leben unbedingt auf diese beiden Säulen des Gebets und des Wortes Gottes abstützen muss. Auf diese Weise können wir die Gemeinschaft mit Gott lebendig erhalten. In seinem Wort redet Gott zu uns. Im Gebet reden wir mit Ihm und zu Ihm. Wir sollen uns immer bewusst sein, dass das Wort Gottes lebendig und wirksam ist. Wir tun gut daran, uns dem Einfluss dieses Wortes täglich auszusetzen, um den Willen Gottes zu kennen und geistliche Kraft zu haben. Gerade in Tagen von Verfall und Niedergang im Volk Gottes gibt uns dieses Wort die nötige Ausrichtung für unser Leben.

Daniel las nicht nur die Schriften und nahm das Gelesene zur Kenntnis, sondern er verstand, was er las. Es ist wichtig, dass wir nicht nur lesen, sondern verstehen (vgl. Apg 8,30). Kenntnis des Wortes Gottes allein reicht nicht, wir müssen es geistlich verstehen und in der Lage sein, es auf unsere Zeitverhältnisse anzuwenden. Daniel lernte hier nicht durch ein Gesicht oder einen Traum, sondern durch die Lektüre des inspirierten Wortes Gottes. Das war es, was dem Volk gefehlt hatte (Jes 1,3). In Kapitel 1,17 hatte Daniel Verständnis für Träume und Gesichte, hier hat er Verständnis für das Wort Gottes. Paulus schreibt an Timotheus: „Bedenke, was ich sage; denn der Herr wird dir Verständnis geben in allen Dingen“ (2. Tim 2,7). Das Lesen der Bibel soll nicht die intellektuelle Kenntnis vermehren, sondern zu geistlichem Verständnis führen.

Die Vollendung der Verwüstung Jerusalems

Daniel war beim Lesen des Propheten Jeremia zu Kapitel 25 gekommen. Dieses Kapitel liefert nicht nur einige interessante Details, die zum Erstellen einer gewissen Chronologie in Verbindung mit der Deportation der Juden nach Babel relevant sind, sondern es zeigt uns, dass Gott die Zeit der Gefangenschaft auf 70 Jahre beschränkt hatte.8 Jeremia hatte Folgendes geschrieben: „Und dieses ganze Land wird zur Einöde, zur Wüste werden; und diese Nationen werden dem König von Babel dienen siebzig Jahre. Und es wird geschehen, wenn siebzig Jahre voll sind, werde ich an dem König von Babel und an jenem Volk, spricht der Herr, ihre Schuld heimsuchen“ (Jer 25,11.12). In Kapitel 29 lesen wir: „Denn so spricht der Herr: Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort an euch erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen. Denn ich weiß ja die Gedanken, die ich über euch denke, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht zum Unglück, um euch Ausgang und Hoffnung zu gewähren. ... Ich werde eure Gefangenschaft wenden ... und ich werde euch an den Ort zurückbringen, von wo ich euch weggeführt habe“ (Jer 29,10–14).9 Ganz am Ende des 2. Buches der Chronika, nachdem Juda bereits weggeführt war, erinnert der Chronist an diesen Ausspruch Jeremias: „... damit erfüllt würde das Wort des Herrn durch den Mund Jeremias, bis das Land seine Sabbate nachgeholt hätte. Alle Tage seiner Verwüstung hatte es Ruhe, bis siebzig Jahre voll waren“ (2. Chr 36,21).10

Zwei Dinge fallen besonders auf:

  1. Jeremia hatte zwei Dinge vorausgesagt: Erstens das Ende des babylonischen Weltreiches, das zu seinen Lebzeiten gerade begonnen hatte. Diese Weissagung hatte sich, als Daniel diesen Text las, gerade erfüllt. Belsazar war tot und Darius hatte die Regierung in Babel übernommen. Zweitens sprach Jeremia von der Rückkehr der Juden nach Jerusalem. Gott wollte die Gefangenschaft wenden und sie in ihr Land zurückbringen. Das hatte sich noch nicht erfüllt. Dennoch hatte Daniel das volle Glaubensvertrauen in Gott, dass Er diesen Teil der Weissagung ebenso wahr machen würde. Wenn wir heute das prophetische Wort lesen, finden wir eine Vielzahl von Voraussagen, die sich bereits erfüllt haben. Wir können sicher sein, dass sich das, was noch nicht erfüllt ist, ebenso sicher erfüllen wird. Dabei ruht unser Vertrauen auf dem, was Gott sagt, und nicht auf dem, was sich bereits erfüllt hat.
  2. Jeremia hatte von dem Gericht Babels und dem Ende der Gefangenschaft gesprochen. Was Daniel jedoch verstand, war etwas anders. Der Text in Daniel 9 greift gerade den Punkt auf, den der Chronist in 2. Chronika 36,21 anspricht, nämlich die Verwüstung11 Jerusalems. Daniel verstand die Worte Jeremias so, dass die „70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“. Man gewinnt den Eindruck, dass es Daniel nicht so sehr um die Befreiung der Juden und das Ende des Exils ging, sondern vielmehr darum, dass die Verwüstung Jerusalems ein Ende haben würde. Es ging ihm um die geliebte Stadt und das Heiligtum, das sich dort befunden hatte. Daniel sieht nicht primär seine eigenen Interessen und die des Volkes, sondern es geht ihm um die Stadt, die Gott sich erwählt hatte, seinen Namen darin wohnen zu lassen. Diese Haltung ist für uns sehr lehrreich. Wir denken häufig an uns selbst und an unsere eigenen Interessen. Wir sollten jedoch mehr versuchen, die Dinge mit den Augen Gottes zu sehen und ein Interesse für das zu haben, was Gott wichtig ist und wodurch seine Ehre wiederhergestellt werden kann. Eine ähnliche Haltung finden wir bei dem Hohenpriester Eli. Als das Volk Israel eine bittere – allerdings selbst verschuldete – Niederlage erlitt und seine beiden Söhne in Folge ihrer Bosheiten gestorben waren, galt sein Interesse nicht seiner Familie und seinem Volk, sondern der Bundeslade – ein Bild der Gegenwart Gottes bei seinem Volk (vgl. 1. Sam 3,18).

Was Daniel aus der Lektüre des Propheten Jeremia nicht unmittelbar entnehmen konnte, war die Tatsache, dass mit dem Ende der damaligen Verwüstung Jerusalems die „Zeiten der Nationen“ noch lange nicht zu Ende gehen würden. Die Verwüstung Jerusalems sollte zwar zu einem vorläufigen Ende kommen, doch gerade das Gesicht über die 70 Jahrwochen am Ende des Kapitels macht klar, dass es in der Zukunft eine weitere Verwüstung Jerusalems geben wird, bevor dann der Sohn des Menschen diesen „Zeiten der Nationen“ eine Ende macht.

Vertrauen in das prophetische Wort

Es gab zu Beginn der Regierung Darius‘ wohl kaum äußere Anzeichen dafür, dass Jerusalem bald wieder aufgebaut werden würde. Dennoch hatte Daniel Vertrauen in das, was er gelesen hatte. Er zweifelte nicht daran, selbst wenn es keine äußeren Anzeichen gab, dass diese Zeit nun nahe gekommen war. Was gab ihm diese Zuversicht? Daniel vertraute nicht auf die Zeichen der Zeit, sondern auf das Wort Gottes. Es genügte ihm, dass Gott durch den Propheten Jeremia geredet hatte.

Darin liegt für uns eine wichtige Lektion. Gewiss freuen wir uns darüber, dass Gott viele seiner Voraussagen bereits erfüllt hat. Bereits erfüllte Prophetie biblischer Aussagen hat ihren Wert. Nur müssen wir bedenken, dass unsere Sicherheit nicht darin liegt. Noch viel weniger liegt sie in dem, was wir um uns her sehen. Viele Gläubige erliegen der Gefahr, zukünftige Geschehnisse sehr stark im Licht aktueller gesellschaftlicher und politischer Ereignisse zu beurteilen. Die Entwicklung um uns herum lässt uns natürlich nicht gleichgültig. Aktuelle Zeitgeschehnisse können tatsächlich Schatten zukünftiger Ereignisse sein (vgl. 2. Thes 2,7), nur sind diese Zeitzeichen keine zuverlässigen Indikatoren der kommenden Realität. Entscheidend ist, was die Bibel sagt. Das Wort Gottes gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der Prophetie – nicht irgendwelche Ereignisse. Die Lektüre des prophetischen Wortes ist der einzige Weg, um Einsicht in die Zeitverhältnisse zu bekommen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. „Und so besitzen wir das prophetische Wort umso fester, auf das zu achten ihr wohltut, als auf eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen“ (2. Pet 1,19). In unserer gegenwärtigen Zeit des Endes – einer Zeit von Verfall und Niedergang – brauchen wir das ganze Wort Gottes, um Orientierung zu bekommen.

Daniels Reaktion

Die Reaktion Daniels ist bemerkenswert. Wir hätten vielleicht erwartet, dass Daniel seine Erkenntnis so schnell wie möglich mit Begeisterung unter den Exiljuden in Babel verbreitet hätte. Er tut es nicht. Das Ergebnis der Erkenntnis aus Gottes Wort lässt ihn vielmehr zu Gott beten. Eine ähnliche Reaktion haben wir bereits in Kapitel 2 gefunden. Als Gott Daniel den Traum Nebukadnezars offenbart hatte, betete er ebenfalls zu Gott. Dennoch ist der Unterschied auffallend. In Kapitel 2,19 lesen wir, dass Daniel den Gott des Himmels pries. Hier hat das Gebet einen ganz anderen Charakter. Er kommt in Demut zu Gott, um Ihm erstens die Sünde des Volkes zu bekennen, und zweitens, um Barmherzigkeit zu erbitten.

Daniel war ein geistlicher Mann, der Einsicht in Gottes Gedanken hatte. Deshalb ist seine Reaktion hier nicht Freude, sondern Bekenntnis. Er sah den Zustand der Juden in Babel und vor allem die Ursachen dafür, dass sie dort waren. Es war ihre Untreue gewesen. Natürlich wusste er um die Zusage Gottes, der Verwüstung Jerusalems ein Ende zu machen, allerdings wusste er ebenso, dass die notwendige Voraussetzung aufseiten der Juden ein rückhaltloses Bekenntnis ihrer Schuld war. Diese beiden Seiten sind immer gut zu unterscheiden. Auf der einen Seite ist Gott souverän und führt seinen Ratschluss aus. Auf der anderen Seite steht die Verantwortung von uns Menschen. Nur wenn wir dieser Verantwortung nachkommen, kann Gott Barmherzigkeit zeigen. Daniel sah den moralischen und geistlichen Zustand des Volkes und kam zu dem Urteil, dass Gott seine Zusagen diesem Volk gegenüber nicht einfach erfüllen konnte. Die geistliche Grundlage fehlte. Deshalb war er bedrückt und suchte die Gegenwart Gottes auf. Gebet und Bekenntnis sind Kennzeichen wirklichen Glaubens.

Es fällt auf, dass Daniel in seinem Gebet nicht direkt über die Rückkehr und Befreiung spricht. Der Grund mag darin liegen, dass Daniel beim Lesen des Propheten Jeremia ebenfalls erkannt hatte, wie sehr das Volk Gott verunehrt und wie weit sie sich innerlich und äußerlich von Ihm entfernt hatten. Er sah in der babylonischen Gefangenschaft und der Verwüstung Jerusalems die Hand Gottes in seiner Regierung. Das war Grund genug, sich zu demütigen.

W. Kelly macht dazu folgende Anmerkung: „Wenn das Studium der Prophetie nicht das Ergebnis hervorbringt, uns ein tieferes Empfinden von dem Versagen des Volkes Gottes auf der Erde zu geben, so haben wir – das ist meine tiefe Überzeugung – den wichtigsten praktischen Nutzen davon verloren. Eben weil wir dieses Empfinden so wenig haben, ist das Studium der Prophetie im Allgemeinen so nutzlos.“12

Daniel war klar, dass es zuerst ein Werk in den Herzen und Gewissen der Juden geben musste, bevor Gott sein Wort wahr machen konnte. So war es bei Mose und ebenso bei Esra. Auch heute brauchen wir solche „Fürbitter“ im Volk Gottes, die in der Gesinnung von Daniel leben, göttlich unterwiesen und mit dem Heiligen Geist erfüllt sind. Nur die Liebe zu Gott und zu seinem Volk lässt solche Fürbitter heranreifen, die sich nicht von dem Volk distanzieren, sondern sich damit identifizieren.

Daniels Gebetshaltung

Daniel bereitete sich auf das Gebet vor. Erstens richtete er sein Angesicht zu Gott, um Ihn zu suchen. Zweitens tat er es in Fasten und Sacktuch und Asche – Zeichen für Trauer und Demut.

  1. Zum Gebet ist Konzentration auf das Wesentliche erforderlich: Daniel stand als alter Mann immer noch im Dienst des Königs und war wahrscheinlich ein viel beschäftigter Mensch. Dennoch nahm er sich Zeit zum Beten und ließ dabei die Dinge des Alltags hinter sich. Das Leben mancher Gläubiger ist heute durch eine Vielzahl von Aktivitäten und Notwendigkeiten geprägt. Das Beispiel von Daniel macht uns Mut, die Dinge des Alltags immer wieder hinter uns zu lassen und uns auf das Gebet zu konzentrieren.
  2. Gott suchen: Wer Gott sucht, erwartet Antwort und Hilfe von Ihm. Daniel wandte sich nicht an irgendwen, sondern erwartete alles von Gott. Daraus lernen wir, dass wir im Gebet durchaus eine „Erwartungshaltung“ an Gott haben können. Wir können sicher sein, dass Gott uns hört. Dann werden „Gebet und Flehen“ genannt. Gebet ist die Ansprache an Gott im Allgemeinen, während Flehen mit konkreten Anliegen zu tun hat, die intensiv vorgebracht werden.
  3. Fasten: Daniel verzichtete für eine Zeit bewusst auf alles, was ihn ablenken konnte. Fasten entsprach den damaligen Gebräuchen und war vordergründig ein äußeres Fasten. Mit dieser äußeren Handlung drückte Daniel jedoch seine innere Herzenshaltung aus. Wer fastet, lässt seinen Körper an den geistlichen Übungen teilhaben. Für uns gibt es im Neuen Testament keine Aufforderung zum Fasten, wohl aber das Beispiel von Paulus, der gefastet hat (2. Kor 6,5; 11,27). Schon im Alten Testament war Gott die innere Haltung wichtiger als das äußere Fasten.
  4. Sacktuch und Asche: Der Gebrauch von Sacktuch und Asche war im Nahen Osten eine Gewohnheit, wenn man trauerte oder etwas bereute (vgl. z. B. Est 4,3; Jes 58,5; Jer 6,26). Sacktuch war ein rauer schwarzer Stoff, der aus Ziegenhaar gewonnen wurde und normalerweise zur Produktion von Säcken und plumpen Kleidern genommen wurde. Asche war das traditionelle Zeichen von Trauer und Demut. Auf uns angewandt, geht es wiederum nicht so sehr um die äußere Form, sondern vielmehr um die Haltung des Herzens, die damit ausgedrückt wurde.

Daniel kannte die Schriften und die Geschichte des Volkes mit allem Versagen und aller Auflehnung gegen Gott. Die ganze Geschichte war eine einzige Rebellion gegen Gott (von wenigen kurzen Perioden abgesehen). Aus den Kapiteln 7 und 8 wusste er schon, dass es in der Zukunft wieder so sein würde, dass es wieder Auflehnung und Abfall geben würde. Er hatte gelernt, dass erst das Kommen des Sohnes des Menschen endgültige Befreiung bringen und dass erst dann das Reich gegründet werden würde. So war die Vergangenheit dunkel und die Zukunft würde es ebenso sein. Doch Daniel lernte noch etwas, nämlich dass es trotz allem Niedergangs und Verfalls so war, dass Gott vorübergehend eine gewisse Erleichterung geben wollte.

Die Anwendung für uns liegt auf der Hand. Im Christentum hat es von Anfang an Verfall und Niedergang gegeben und nur wenige Momente einer Besinnung und Erweckung. Es wird nicht besser werden (vgl. 2. Tim 2,13). Der Tag kommt, an dem Christus eine christuslose Christenheit aus seinem Mund ausspeien wird (Off 3,16). Erst das Kommen des Herrn Jesus wird der traurigen Geschichte der Christenheit ein Ende machen. Dennoch gibt es inmitten von Verfall und Niedergang Menschen, die in der Gesinnung Philadelphias (vgl. Off 3,7–13) leben möchten. Gott sucht Menschen, die sein Wort bewahren und seinen Namen nicht verleugnen.

Verse 4–6: Das Bekenntnis Daniels

Respekt und Vertrauen

Daniels Gebet ist von Respekt einerseits und Vertrauen andererseits geprägt. Er erkennt Ihn als den Herrn, d. h. denjenigen, der sich nicht verändert. Als der Herr (Jahwe) hatte Er sich besonders Mose gegenüber offenbart. Als dieser nach dem Namen Gottes fragte, antwortete Gott ihm: „Ich bin, der ich bin“ (2. Mo 3,14). Das bedeutet, dass Gott sich nicht verändert (vgl. Mal 3,16). Im Licht des Neuen Testamentes erkennen wir den, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit (Heb 13,8). Diesen Unveränderlichen nennt Daniel seinen Gott. Er hatte eine persönliche Beziehung zu Ihm, der gleichzeitig der allmächtige, allwissende und allgegenwärtige Gott ist. An Ihn wendet Daniel sich.

Daniel wusste, dass dieser Gott gleichzeitig ein großer und furchtbarer Gott ist, d. h. ein Gott, vor dem sich Respekt und Ehrfurcht gehört. Gerade daran hatte es das Volk Israel immer wieder fehlen lassen, obwohl Gott das Volk aufgefordert hatte, Ihn zu fürchten „alle Tage, die sie auf dem Erdboden leben“ (5. Mo 4,10). Daniel wusste gleichzeitig, dass dieser Gott zu seinem Wort steht. Er würde den Bund bewahren, den Er mit seinem Volk geschlossen hatte, und seine Güte fortdauern lassen. Gütig zu sein bedeutet nicht nur, dass jemand gut ist, sondern vielmehr, dass man anderen tatsächlich im Guten begegnet. Das ist es, was Gott tut. Seine Güte zeigt sich darin, dass Er seinem Volk Gutes tut. Voraussetzung dazu war allerdings, dass das Volk Ihn liebte und seine Gebote hielt. Genau das hatte das Volk Israel nicht getan und das wusste Daniel sehr wohl.

Nehemia hatte ein ähnliches Empfinden. Er betete: „Ach, Herr, Gott des Himmels, du großer und furchtbarer Gott, der den Bund und die Güte denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten“ (Neh 1,5). Damit spielte er auf 2. Mose 20,6 an, wo es bereits im Gesetz hieß: „... und der Güte erweist auf Tausende hin an denen, die mich lieben und meine Gebote halten“. Ähnliches lesen wir in 5. Mose 7,9: „So erkenne denn, dass der Herr, dein Gott, Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Güte auf tausend Geschlechter hin denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten.“ Beides war also bereits im Gesetz verankert. Gott ist einerseits groß und furchtbar, gleichzeitig bewahrt Er den Bund und die Güte.

Wir leben nicht in einer Bundesbeziehung zu Gott, sondern kennen Ihn in dem Herrn Jesus als unseren Vater, der uns liebt. Dennoch gehört es sich für uns ebenfalls, Ihn bei aller Nähe und allem Vertrauen mit Respekt anzureden. Petrus schreibt: „Und wenn ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk, so wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht“ (1. Pet 1,17). Darin findet sich beides. Erstens ist Gott unser Vater, zu dem wir immer kommen können. Zweitens bleibt Er der Gott, der ohne Ansehen der Person richtet. Das wollen wir nie vergessen. Er wird zu seinem Wort stehen und alle Zusagen in Gnade erfüllen. Auf diesem Boden der Gnade wollen wir Ihn gerne lieben und sein Wort halten.

Fehlverhalten auf der ganzen Linie

Was folgt, ist ein schonungsloses Bekenntnis. Daniel beschreibt mit klaren und unmissverständlichen Worten, worin das Fehlversagen des Volkes bestanden hatte. Er gebraucht dabei unterschiedliche Ausdrücke, die deutlich zeigen, wie verkehrt sich dieses Volk verhalten hatte.

  1. Wir haben gesündigt: Sündigen bedeutet falsch handeln, in die Irre gehen und das Ziel verfehlen. Sünde ist immer ein Abweichen von einem Ziel und zwar mit gravierenden Folgen. Es ist das, was jeden Menschen kennzeichnet, der ohne Gott lebt. Er ist ein Sünder und erreicht deshalb die Herrlichkeit Gottes nicht. Diese Aussage galt besonders für das Volk Israel. Sie waren auf einem falschen Weg und hatten ihre bösen Taten vor Gott aufgehäuft. Das erkennt Daniel an.
  2. Wir haben verkehrt gehandelt: Verkehrt handeln bedeutet ohne Gott handeln. In Esther 1,16 wird das Wort mit „sich vergehen“ übersetzt. Es enthält den Gedanken an etwas, das verbogen oder verdreht wird. Wer verkehrt handelt, handelt jedenfalls ohne Gott. Das gilt wiederum für jeden Menschen, und speziell galt es für das Volk Israel. Gott konnte an dem, was sie taten, keine Freude haben. Ihre Wege waren verdreht und verkehrt.
  3. Wir haben gottlos gehandelt: In ihrem Handeln spielte Gott keine Rolle. Auch wenn sie ein äußeres Bekenntnis zu Gott hatten, hatten sie sich von Ihm abgewandt. Sie handelten gemein und niederträchtig. Statt ihrem Gott die Ehre zu geben, verweigerten sie Ihm, was Ihm zustand, und wandten sich immer wieder fremden Göttern zu.13
  4. Wir haben uns empört: Empörung ist Rebellion, die sich hier nicht gegen Menschen, sondern gegen Gott richtete. Rebellion ist mehr als Ungehorsam, weil sie nicht nur „passiv“ ist (d. h. man tut etwas nicht, was man tun sollte), sondern Rebellion ist immer „aktiv“. Sie wendet sich direkt gegen Gott und versucht, Ihn an die Seite zu setzen.
  5. Wir sind von deinen Geboten und von deinen Rechten abgewichen: Abweichen besteht darin, dass man etwas aufgibt oder abschneidet. Es ist mehr als moralischer Niedergang, sondern beschreibt einen völligen Abfall (Apostasie). Die Gebote Gottes wurden weggetan und durch den eigenen Willen ersetzt.
  6. Wir haben nicht auf die Propheten gehört: Gott hatte sein Volk nicht einfach laufen lassen. Immer dann, wenn das Volk abwich, hatte Gott Propheten zu ihnen geschickt. Propheten sind Boten Gottes, die im Auftrag Gottes eine Botschaft an das Volk richten. Sie werden hier „deine Knechte“ genannt, die „in deinem Namen“ geredet haben. Gott hatte sie gesandt und ihnen eine Botschaft gegeben. Ihre Botschaft wurde jedoch ignoriert und nicht zur Kenntnis genommen. Selbst ganz am Ende, kurz bevor Nebukadnezar gegen Jerusalem zog, hatte Gott sich in dieser Weise um sein Volk bemüht. Der Chronist schreibt: „Und der Herr, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen durch seine Boten, früh sich aufmachend und sendend; denn er erbarmte sich seines Volkes und seiner Wohnung. Aber sie verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und verhöhnten seine Propheten, bis der Grimm des Herrn gegen sein Volk stieg, dass keine Heilung mehr war“ (2. Chr 36,15.16).

Die Anwendung auf die Zeit, in der wir leben, fällt nicht schwer. Die bekennende Christenheit verhält sich kaum anders als das Volk Israel damals. Sie ist von Degeneration und Abfall gekennzeichnet. Nicht nur in moralischer Hinsicht ist diese Welt ein „verdrehtes und verkehrtes Geschlecht“ (Phil 2,15), sondern auch in religiöser Hinsicht. Das Christentum gleicht einem „großen Haus“ (2. Tim 2,20), in dem jeder mehr oder weniger tut, was er für richtig hält und die Rechte Gottes mit Füßen tritt. Der zweite Timotheusbrief beschreibt an mehreren Stellen, wie Gott über diese degenerierte und abgefallene Christenheit denkt.

Kollektives Schuldbekenntnis

Drei Dinge fallen besonders auf:

  1. Daniel sieht die Ursache der Gefangenschaft nicht in der Aggression der Babylonier. Er spricht nicht davon, dass Nebukadnezar sie in die Gefangenschaft geführt hatte, obwohl das historisch so gewesen war. Daniel sieht vielmehr die eigentliche Ursache des Problems da, wo sie war: bei dem Volk Israel.
  2. Daniel geht in seinem Bekenntnis nicht auf Distanz zu dem Volk, das sich so verhalten hatte. Er spricht nicht vom dem massiven Fehlverhalten und der Sünde der letzten Könige von Juda, die das Fass tatsächlich zum Überlaufen gebracht hatten. Nein, sein Bekenntnis ist rückhaltlos. Er beschönigt und rechtfertigt nichts. Er ist der Schuld gegenüber nicht gleichgültig und schiebt sie nicht auf andere ab. Er spricht nicht von „dem Volk“, sondern gebraucht immer wieder die Worte „wir“ und „uns“. Daniel war damals ein Teil des Volkes, das sich so verhalten hatte, wie er es beschreibt. Wir sind heute ein Teil der Christenheit. Wir befinden uns in diesem „großen Haus“ und können nicht hinausgehen.14
  3. Daniel fühlt sich nicht besser als andere und klagt das Volk nicht an. Er war ein Teil dieses Volkes und das erkennt er an. Darin unterscheidet sich Daniel von dem selbstgerechten Pharisäer, der meinte, Gott dafür danken zu müssen, dass er nicht so war wie die anderen Menschen (Lk 18,11). Darin unterscheidet Daniel sich auch von Elia, der meinte, allein übrig geblieben zu sein (vgl. Röm 11,2.3). Daniel hätte vielleicht mehr Grund als Elia gehabt, so etwas anzunehmen. Aber davon lesen wir kein Wort. Er sah sich als Teil des Volkes, das schuldig geworden war.

Sünden (Fehlverhalten) müssen bekannt werden. 1. Johannes 1,9 zeigt diesen wichtigen Grundsatz. Doch hatte Daniel gesündigt? Es ist bemerkenswert, dass Gott uns jedes Fehlverhalten im Leben Daniels verschweigt. Das bedeutet nicht, dass Daniel ohne Fehler war,15 wohl aber, dass Gott darüber nicht spricht. Es ist bemerkenswert, dass sein Leben von Jugend an ein Leben der Hingabe an Gott war. Daniel selbst war völlig integer. Von ihm wird im Gegensatz zu anderen Gottesmännern wie Abraham, Mose und David keine einzige Sünde berichtet.16 Dem göttlichen Bericht zufolge war er „vollkommen“. Darauf hätte er pochen können, doch er tat es nicht. Er war seinem Gott treu, wusste sich als Teil seines Volkes und bekannte die Sünde, die auf ihnen lag.

Daniel trug also keine persönliche Schuld an dem Fehlverhalten des Volkes, das die Gefangenschaft als Konsequenz nach sich gezogen hatte. Er war noch ein junger Mann, als er ins Exil gebracht wurde, so dass man ihm die Sünden, die er jetzt bekannte, nicht anlasten konnte. Doch weder die Abwesenheit persönlicher Ungerechtigkeit noch die lange Zeit, die seitdem vergangen war, verhinderten dieses Bekenntnis Daniels für Sünden, die er nicht persönlich begangen hatte, sondern das Volk, von dem er ein Teil war. Er identifiziert sich mit diesen Sünden und beweist damit tiefe geistliche Einsicht. Wir finden diese Haltung ebenso bei anderen Männern Gottes wie z. B. Mose, Esra oder Nehemia, die wie Daniel die Sünde des Volkes zu ihrer eigenen Sünde machten und sie vor Gott bekannten. Der uns unbekannte Dichter von Psalm 106 handelte ebenso. Dieser bemerkenswerte Psalm beginnt mit einem Lobpreis Gottes für seine Güte und Treue. Doch dann folgt ab Vers 6 ein ebenso schonungsloses Bekenntnis, wie wir es bei Daniel finden. Dieses Bekenntnis beginnt mit den Worten: „Wir haben gesündigt samt unseren Vätern, haben unrecht getan, haben gottlos gehandelt“ (Ps 106,6).

E. Dennett schreibt: „Durch die Gnade und die Kraft des Heiligen Geistes müssen wir uns moralisch in die Umstände derjenigen versetzen, deren Anliegen wir vor Gott bringen möchten. Der Zustand des Volkes erforderte das Gebet und die Fürbitte, und zwar mit Fasten, Sacktuch und Asche. Der Prophet, als einer von ihnen, verstand ihren Zustand und nahm diese Stellung in der Gegenwart Gottes ein.“17 Daniel offenbart damit etwas, das wir später vollkommen im Leben des Herrn Jesus finden. Er selbst hat das so getan und ist darin das vollkommene Beispiel für uns. In Psalm 69,6 lesen wir prophetisch: „Du, o Gott, weißt um meine Torheit, und meine Vergehungen sind dir nicht verborgen.“ Bei Ihm ging diese Identifikation noch viel weiter, denn Er hat am Kreuz Sühnung für die Sünden des Volkes getan. „Er aber hat die Sünde vieler getragen und für die Übertreter Fürbitte getan“ (Jes 53,12).18 Das konnte Daniel nicht.

Dabei verkennt Daniel nicht, wer eine besondere Verantwortung trug. Er spricht zuerst von „unseren Königen“, dann von „unseren Fürsten“, von „unseren Vätern“ und schließlich von „allem Volk“. Daniel war keiner der Könige, Fürsten oder Väter gewesen, aber gehörte zu dem Volk. Je höher die gesellschaftliche Position, umso größer die Verantwortung. Doch letztlich konnte sich niemand freisprechen. Alle trugen Schuld.

Wenn wir das auf uns anwenden, könnte die Frage aufkommen: Haben wir Anteil an dem Verfall innerhalb des Christentums? Vielleicht fühlen wir uns persönlich völlig schuldlos daran und sind es auch. Dennoch sind wir ein Teil dieser Christenheit. Es mag sein, dass wir keinen persönlichen Anteil daran haben, dass die Christen sich in einer Art „Wegführung“ befinden – zerstreut und zersplittert in Tausende von Gruppen und Richtungen. Dennoch ist es gut, wenn wir uns wie Daniel angesichts des Fehlverhaltens beugen, denn wir sind und bleiben ein Teil der Christenheit. Es handelt sich um ein kollektives Fehlverhalten. Daniel gebraucht in seinem Bekenntnis Worte, auf die Gott wartete. In seinem bemerkenswerten Gebet zur Tempelweihe hatte Salomo davon gesprochen, mit welchen Worten das Volk zu Ihm zurückkehren sollte (vgl. 2. Chr 6,36–38). Das Volk fand diese Worte nicht, wohl aber Daniel als Einzelperson. Er tat das, was Gott von dem ganzen Volk erwartete. Er stellte sich unter das Gericht Gottes und kam mit einem schonungslosen Bekenntnis zu Ihm.

Wir sollten uns ein Bewusstsein dafür erhalten, dass wir nicht nur für unsere persönlichen Sünden verantwortlich sind, sondern auch für die Sünden des Volkes Gottes, dem wir angehören. Wir sollten uns nicht einseitig über die Schuld, die Untreue, die Weltlichkeit und das Abweichen anderer beklagen, sondern daran denken, dass wir selbst darin gesündigt und verkehrt gehandelt haben. Das gilt auch in der Übertragung auf eine örtliche Versammlung. Was dort geschieht, kann und darf uns nicht gleichgültig lassen. Die Schuld eines Einzelnen wird zur Schuld der Gesamtheit. Als Achan gesündigt hatte, sagte Gott: „Israel hat gesündigt.“ Der Vorwurf war nicht pauschal, sondern Gott sagt sehr detailliert: „... und auch haben sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe; und auch haben sie von dem Verbannten genommen und auch gestohlen und es auch verheimlicht und es auch unter ihre Geräte gelegt“ (Jos 7,11). Was Achan getan hatte, wurde dem gesamten Volk zu Last gelegt.

Diese Identifikation mit der gemeinsamen Schuld ist notwendig, wenn wir für das Volk Gottes Fürbitte tun wollen. Auf diese Weise tragen wir einer die Last des anderen und erfüllen so das Gesetz des Christus (Gal 6,2).

Wir mögen uns die Frage stellen, wie Daniel zu dieser Erkenntnis der Schuld kam, zu der andere offensichtlich nicht kamen. Die Antwort liegt darin, dass er Gemeinschaft mit Gott hatte und sich vom Bösen trennte. Je mehr er sich im Licht befand, umso mehr wurde ihm klar, wie sehr das Volk schuldig geworden war. Je mehr er Gott kennenlernte in seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit, umso mehr erkannte er, wie hässlich und groß die Sünde gegen Ihn war. Das ist bis heute nicht anders. W. Kelly schreibt: „Ich bin so kühn zu sagen, dass das Empfinden für das Böse zunimmt, je mehr sich jemand vom Bösen trennt. Es ist wie mit einer Person, die ins Licht flieht und umso mehr Empfinden für die Finsternis hat, die sie verlassen hat.“19

Verse 7–14: Die gerechten Wege Gottes

Die Beschämung des Angesichts

Obwohl es in diesem Abschnitt vornehmlich darum geht, dass Daniel die gerechten Wege Gottes mit dem Volk anerkennt, spricht er erneut auch von der Schuld des Volkes. Dieser Gedanke durchzieht das ganze Gebet von Anfang bis zu Ende. Das Volk hatte in der Tat allen Grund, sich zu schämen. Daniel wiederholt zum Teil, was er vorher bereits gesagt hatte. Sie hatten gesündigt (Verse 8.11). Sie hatten sich gegen Gott empört (Vers 9). Sie hatten der Stimme Gottes nicht gehorcht (Verse 10.11.14). Sie hatten das Gesetz Gottes übertreten und waren davon abgewichen (Vers 11).

Dann fügt Daniel drei weitere Elemente des Fehlverhaltens hinzu:

  1. Das Volk war treulos gegen Gott (Vers 7). Saul – der erste König Israels – starb, weil er untreu war. „Und so starb Saul wegen seiner Treulosigkeit, die er gegen den Herrn begangen hatte“ (1. Chr 10,13). Am Ende der Geschichte der Könige von Juda war es wieder Untreue, die zum Gericht führte: „Auch alle Obersten der Priester und das Volk häuften die Treulosigkeiten, nach allen Gräueln der Nationen, und verunreinigten das Haus des Herrn, das er in Jerusalem geheiligt hatte“ (2. Chr 36,14). Von Beginn an hatte Gott diese Treulosigkeit gesehen, aber auch, dass sie einmal bekannt werden würde. „Und sie werden ihre Ungerechtigkeit bekennen und die Ungerechtigkeit ihrer Väter infolge ihrer Treulosigkeit, die sie gegen mich begangen haben, und besonders deshalb, weil sie mir widerstanden haben“ (3. Mo 26,40). Daniel mochte diesen Vers gekannt haben, als er so betete.
  2. Das Volk hatte das Gesetz übertreten (Vers 11). Der erste Übertreter eines Gebotes war Adam, der die ausdrückliche Anweisung Gottes missachtete (vgl. Röm 5,14). Übertretung ist nur möglich, wo es ein Gesetz gibt. Das Gesetz durch Mose war noch nicht gegeben, da war es schon vom Volk Israel zum ersten Mal gebrochen worden. Durch Jeremia ließ Gott über die Juden sagen: „... denn ihre Übertretungen sind viele, zahlreich ihre Abtrünnigkeiten“ (Jer 5,6).
  3. Das Volk handelte ungerecht (Vers 13). Ungerecht ist alles, was nicht mit dem offenbarten Wesen und Willen Gottes in Übereinstimmung ist. Dieses Merkmal kennzeichnete das Volk Israel ebenfalls von Anfang an bis zum Ende. Esra greift diesen Punkt in seinem Bekenntnis ebenfalls auf. Er spricht davon, dass die Ungerechtigkeiten ihnen über das Haupt gewachsen waren und die Schuld groß geworden war bis an den Himmel (vgl. Esra 9,6.7.13).

Die Aufzählung macht klar, dass sich jegliches Fehlverhalten gegen Gott richtete. Zweimal heißt es „gegen dich“ und zweimal heißt es „gegen ihn“ (Verse 7.8.9.11). Jede Sünde, selbst wenn sie sich vordergründig gegen einen Menschen richten sollte, ist eine Sünde gegen Gott (vgl. Ps 51,6). Das gibt der Sünde so einen schwerwiegenden Charakter. Sie richtet sich immer gegen Gott selbst.

In ihrem bemerkenswerten Gebet hatte Hanna, die Mutter Samuels, gewarnt: „Häuft nicht Worte des Stolzes, noch gehe Freches aus eurem Mund hervor; denn ein Gott des Wissens ist der Herr, und von ihm werden die Handlungen gewogen“ (1. Sam 2,3). Genau das hatten sie getan. Durch Jeremia hatte Gott zweimal sagen lassen: „Sie werden beschämt werden, weil sie Gräuel verübt haben. Ja, sie schämen sich keineswegs, ja, Beschämung kennen sie nicht“ (Jer 6,15; 8,12). Nun waren sie beschämt worden und Daniel erkannte und fühlte diese Beschämung (Verse 7.8).

Erneut spricht Daniel das aus, was andere ebenso betraf. Es waren die „Männer von Juda“, die „Bewohner von Jerusalem“, und das „ganze Israel“, die „Nahen“ und die „Fernen“.20 Natürlich waren die Männer von Juda und die Bewohner von Jerusalem besonders betroffen, denn gegen sie war Nebukadnezar in den Krieg gezogen, um sie in die Gefangenschaft zu bringen. Doch Daniel sieht sich als Teil von „ganz Israel“. Der Glaube sieht weiter. Er schließt das ganze Volk Gottes sein – auch dann, wenn es um die Verantwortung geht. In Vers 11 wiederholt Daniel, dass „ganz Israel“ das Gesetz Gottes übertreten hat und davon abgewichen ist.

Die Stimme Gottes

Daniel weist insgesamt drei Mal darauf hin, dass das Volk der Stimme Gottes nicht gehorcht hatte (Verse 10.11.14). Einerseits hatte Israel das Gesetz nicht gehalten, andererseits hatten sie nicht auf die Stimme Gottes gehört. Das Gesetz war die Summe der Anweisungen Gottes, die sie übertreten hatten. Doch mehr noch: Gott hatte durch die Propheten konkret zu ihnen geredet und sie hatten nicht hören wollen.

Wenn wir an uns denken, freuen wir uns darüber, das Wort Gottes als Ganzes in unseren Händen zu haben. In seinem Wort finden wir die Gedanken Gottes und es ist unsere Verantwortung, dieses Wort zu halten und unser Leben danach auszurichten. Gott richtet sich ganz konkret an uns. Wenn wir die Bibel lesen oder etwas daraus hören, gleicht das immer einer ganz konkreten Ansprache an uns. Wir haben das Wort Gottes, das wir studieren, verstehen und auslegen. Aber es ist mehr: Gott verbindet damit immer eine ganz konkrete Botschaft an uns. In seinem Wort hören wir Gott zu uns reden. In einer Zeit, in der viele Stimmen an unser Ohr kommen, ist es gut, die Stimme Gottes besonders zu beachten.

Die Gerechtigkeit Gottes

Der Beschämung des Angesichts wegen ihrer Untreue wird nun zuerst die Gerechtigkeit Gottes gegenüber gestellt. Gott selbst kann nie treulos handeln. „Wenn wir untreu sind – er bleibt treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2. Tim 2,13). Gerade darin zeigt sich seine Gerechtigkeit. Gott kann nicht anders, als in Übereinstimmung mit dem zu sein und zu handeln, was Er ist. Gott ist immer gerecht und Er handelt gerecht. In Vers 14 sagt Daniel ausdrücklich, dass Gott nicht nur in seinem Wesen, sondern in seinen Taten gerecht ist. Es entspricht sozusagen dem Wesen Gottes, gerecht zu sein und Gerechtigkeit zu üben. Deshalb sagt Daniel nicht einfach, dass Gott „gerecht“ ist, sondern er betet: „Dein ist die Gerechtigkeit.“ Es ist untrennbar mit Gott verbunden, gerecht zu sein und so zu handeln.

Gott war gerecht, indem Er Israel strafte. Die Vertreibung aus Palästina war eine Folge des jahrhundertelangen Abfalls und Niedergangs des Volkes. Daniel rechtfertigt Gott, dass Er das Gericht gebracht hat. Er beklagt sich nicht. Er lehnt sich nicht auf. Er findet keine fadenscheinigen Entschuldigungen. Er wusste, dass es so richtig war. In Vers 11 spricht er von dem Fluch und dem Schwur, der sich über sie ergossen hatte – und zwar so, wie es im Gesetz geschrieben stand. Im Gesetz hatte Gott vom Segen gesprochen, dabei den Fluch aber nicht verschwiegen (vgl. z. B. 5. Mo 11; 5. Mo 27 und 28). Gott hatte wiederholt in allem Ernst an das Volk appelliert. Es musste ihnen klar sein, was passieren würde, wenn sie das Gesetz übertraten und der Stimme Gottes nicht gehorchten. Dieser Zeitpunkt war gekommen und der Fluch hatte sich über sie ergossen. Gott hatte sein Wort erfüllt, so wie Er es immer tun wird. „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge, noch ein Menschensohn, dass er bereue. Sollte er sprechen und es nicht tun, und reden und es nicht aufrechterhalten?“ (4. Mo 23,19). Die Strafe fiel so aus, wie sie angekündigt worden war. Es war ein „großes Unglück“. Es gab unter dem ganzen Himmel nichts, was mit diesem Unglück über Jerusalem zu vergleichen gewesen wäre. Insgesamt spricht Daniel dreimal von einem „Unglück“ (Verse 12.13.14). Es war jedoch nicht etwas, das „unglücklicherweise“ (zufällig) passierte, sondern etwas, das passieren musste. Es handelte sich um Zucht und Gericht. Gott hatte es vorausgesagt und das Volk hatte nicht gehört. Und doch ist das Unglück, von dem Daniel spricht, nur ein Schatten dessen, was in Zukunft über die Stadt kommen wird, bevor der Messias sein Reich auf dieser Erde gründet. Jerusalem wird einmal eine „Taumelschale für alle Völker ringsum“ werden, und es ist Gott, der dafür in seiner Regierung sorgen wird (Sach 12,2).

Wenn wir an uns denken und daran, dass die züchtigende Hand Gottes auf uns liegt und wir zerstreut sind, so ist das ohne Frage unsere Schuld, weil wir treulos gesündigt haben. Deshalb handelt Gott in seiner Regierung in Gerechtigkeit mit uns. Das Gericht, das der Herr z. B. in den sieben Briefen in Offenbarung 2 und 3 ankündigt, ist zum Teil bereits eingetroffen, und der Rest wird sich zuverlässig erfüllen. Wir müssen die Regierungswege Gottes anerkennen, anstatt uns dagegen aufzulehnen. Als das Volk Israel durch die Sünde von Salomo und seinem Sohn geteilt war und sie in den Bruderkrieg ziehen wollten, sagte Gott ausdrücklich: „Ihr sollt nicht hinaufziehen und nicht mit euren Brüdern, den Kindern Israel, kämpfen; kehrt um, jeder in sein Haus, denn von mir aus ist diese Sache geschehen“ (1. Kön 12,24). Es ist bitter und hoffentlich heilsam, wenn Gott in seiner Gerechtigkeit und Regierung aufgrund unseres Fehlverhaltens handeln muss.

Einige Jahre später rechtfertigte Nehemia ebenfalls das Handeln Gottes. Er sagte zu Gott: „Gedenke doch des Wortes, das du deinem Knecht Mose geboten hast, indem du sprachst: Werdet ihr treulos handeln, so werde ich euch unter die Völker zerstreuen“ (Neh 1,8). Gott hatte das angekündigt und führte es aus. Er steht zu seinem Wort. Daniel sagt nicht, dass Gott es „erlaubt“ oder „zugelassen“ hätte, sondern dass Er es so „getan“ hat. Es entspricht Gottes Gerechtigkeit. In der Gegenwart Gottes – wenn wir sein Wort lesen und zu Ihm beten – begreifen wir, dass Gott heilig und gerecht ist. Es geht nicht darum, wie Menschen sich Gott vorstellen, sondern wie Er wirklich ist. Das lernen wir nur, wenn wir in seiner Gegenwart sind.

Erbarmungen und Vergebungen

Daniel bleibt nicht bei der Gerechtigkeit Gottes stehen. Wäre Gott nur gerecht, könnten wir verzweifeln. Die Erkenntnis seiner Gerechtigkeit brachte Daniel zu einem Bekenntnis. Das Bewusstsein der Barmherzigkeit und Vergebung Gottes gab ihm hingegen das Vertrauen, gerade darum zu beten. Es war die Grundlage für seine Fürbitte. Daniel kannte nicht nur das Gesetz, sondern er kannte seinen Gott. Hätte er nur das Gesetz gekannt, hätte er vielleicht keinen Mut zu diesem Gebet gehabt. Doch Daniel kannte gewiss die Aussage aus 2. Mose 34,6.7: „Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt – aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und an der vierten Generation.“ Beides ist wahr, und Daniel wusste beides. Nehemia drückt das in seinem Gebt ähnlich aus: „Und sie weigerten sich zu gehorchen und erinnerten sich nicht an deine Wunder, die du an ihnen getan hattest; sie verhärteten ihren Nacken und setzten sich in ihrer Widerspenstigkeit ein Haupt, um zu ihrer Knechtschaft zurückzukehren. Du aber bist ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn und groß an Güte, und du verließest sie nicht“ (Neh 9,17). Es ist geradezu kennzeichnend für Gott, dass Er barmherzig und voll Vergebung ist. Daniel wusste: „Des Herrn, unseres Gottes, sind die Erbarmungen und die Vergebungen.“

Wenn ein Mensch zu Gott umkehrt, lernt er Gott so kennen. Durch Jesaja hatte Gott sagen lassen: „Der Gottlose verlasse seinen Weg und der Mann des Frevels seine Gedanken; und er kehre um zu dem Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn er ist reich an Vergebung“ (Jes 55,7). Schon im Alten Testament lesen wir sechs Mal, dass Gott „langsam zum Zorn und groß an Güte“ ist (2. Mo 34,6; 4. Mo 14,18; Neh 9,17; Ps 103,8; Ps 145,8; Joel 2,13). Der Psalmdichter sagt: „Wenn du, Jah, auf die Ungerechtigkeiten achtest: Herr, wer wird bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit du gefürchtet werdest“ (Ps 130,3.4).

Daniel spricht von den Erbarmungen und Vergebungen Gottes. Beides steht in der Mehrzahl. Jeder menschlichen Not stehen Gottes Erbarmungen gegenüber, jeder Sündhaftigkeit seine Vergebungen. Das Elend des Menschen ist Gott nicht gleichgültig. Er hat Mitleid mit uns, selbst wenn wir unsere Not selbst verschuldet haben. Vergebung bedeutet, dass Gott Schuld, die bekannt wird, auslöscht und sie nicht mehr vorhält. Daniel hat das tiefe Bewusstsein, dass die Gefangenschaft nicht einfach deshalb zu Ende gehen würde, weil Gott es durch Jeremia vorausgesagt hatte, sondern vielmehr weil Gott ein Gott der Erbarmungen und Vergebungen ist. Deshalb appelliert er nicht an den Bund Gottes mit den Erzvätern, sondern an das Erbarmen und die Vergebungen. Wenn wir das auf uns anwenden, denken wir daran, dass der Herr Jesus bei seinem Kommen sein Versprechen einlöst, das Er uns gegeben hat (vgl. Joh 14,3; Off 3,11 u. a.). Doch nicht nur das: Sein Kommen ist gleichzeitig ein Beweis seiner Gnade und Barmherzigkeit. Er wird aller Not und allem Elend der Kinder Gottes auf der Erde ein Ende machen. Das wollen wir nicht vergessen.

Im Neuen Testament lesen wir, dass Gott reich ist an Barmherzigkeit wegen seiner vielen Liebe (Eph 2,4). So lernt der Sünder Ihn kennen, wenn er seine Heiligkeit und Gerechtigkeit anerkennt. Doch auch als Kinder Gottes brauchen wir dieses Bewusstsein. Wenn wir Gott in seiner Gerechtigkeit einerseits und seinem Erbarmen andererseits kennen, dann haben wir ein Empfinden für das, was Sünde ist. Zugleich haben wir das Vertrauen, dass Er uns barmherzig behandelt und vergibt.

Die Erbarmungen und Vergebungen Gottes werden damit „begründet“, dass das Volk sich gegen Ihn empört hat. In Vers 9 sagt Daniel: „... denn wir haben uns gegen ihn empört“. Nur da, wo Not und Elend ist, kann es Erbarmungen geben. Nur da, wo es Sünde gibt, kann es Vergebungen geben. Die Reihenfolge ist ebenfalls bemerkenswert. Zuerst erbarmt sich Gott über das Elend und dann – ein Bekenntnis vorausgesetzt – vergibt Er.

Kein Wunsch zur Heilung

In Vers 13 fügt Daniel noch etwas hinzu, das uns zeigt, wie weit die Sünde des Volkes zum Ende der Könige von Juda ging. Das Volk betete nicht einmal zu Gott um Heilung und Einsicht. Selbst als das Unglück kam, gab es keine Umkehr und keine Buße. Sie wollten bei dem Bösen bleiben. Das zeigt eine extreme Gleichgültigkeit. Wir denken nur an die vergeblichen Appelle des Propheten Jeremia, der wie kaum ein anderer unter dem Zustand in den letzten Tagen der Könige gelitten hat und deshalb manchmal „der weinende Prophet“ genannt wird. Im Buch der Richter war das noch anders. Da schrie das Volk wiederholt zu Gott und jedes Mal half Er. Doch in der letzten Zeit der Könige von Juda gab es nicht einmal mehr das. Sie wollten nichts von Gott wissen und hören und drehten Ihm demonstrativ den Rücken zu.

Der Ernst dieser Aussage legt sich auf uns. Wir wissen sehr wohl um das Versagen und das Böse – sowohl in der Christenheit allgemein als auch bei denen, die bekennen, nach Gottes Gedanken leben zu wollen. Dennoch sind wir oft nicht bereit, uns vor Gott zu demütigen und zeigen oft kein wirkliches Empfinden für die eigentlichen Ursachen des Verfalls. Wir besitzen keine Einsicht. Wir mögen die Wahrheit kennen und können sie vielleicht sogar vermitteln. Aber haben wir Einsicht in die Wahrheit? Sind wir bereit, unsere Wege und Verhaltensweisen zu verändern? Das sind Fragen, denen wir beim Studium des Gebetes von Daniel nicht ausweichen wollen. Wir sollten in dieser Sache wie Daniel geübt sein und nicht gleichgültig oder resigniert darüber hinweggehen.

Die Hand des Herrn

Daniel fasst diesen Teil in Vers 14 zusammen. Er betont noch einmal die Gerechtigkeit Gottes in seinen Taten und spricht von dem Ungehorsam des Volkes Israel. Er leitet dieses kleine Resümee mit den Worten ein: „Und so hat der Herr über das Unglück gewacht und es über uns kommen lassen.“ Er erkennt die Hand Gottes in dem an, was geschehen ist.

Wir denken gerne daran, dass der Herr zum Guten über uns wacht, um uns zu beschützen. „Siehe, der Hüter Israels, er schlummert nicht und schläft nicht“ (Ps 121,4). Doch hier ist es anders. Gott wacht ebenso zum Unglück, weil Er gerecht ist. Seine Augen sind immer offen. Daniel zeigt, dass Gott gerecht ist, wenn Er so handelt. So oder so gilt, dass Gott über sein Wort wacht, es auszuführen (Jer 1,12). „Siehe, ich wache über sie zum Bösen und nicht zum Guten; und alle Männer von Juda, die im Land Ägypten sind, sollen durch Schwert und durch Hunger aufgerieben werden, bis sie vernichtet sind“ (Jer 44,27).

Daniel betont mehrfach, dass es Gott ist, der im Gericht mit dem Volk handeln musste (Verse 7.12.14). Solange wir das nicht erkennen, ist keine Wiederherstellung möglich. Wenn wir es allerdings tun, können wir – wie Daniel – ebenfalls an die Barmherzigkeit Gottes appellieren. „Der Herr baut Jerusalem, die Vertriebenen Israels sammelt er; der da heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und ihre Wunden verbindet“ (Ps 147,2). „Und es wird geschehen, wie ich über sie gewacht habe, um auszureißen und abzubrechen und niederzureißen und zu zerstören und zu verderben, so werde ich über sie wachen, um zu bauen und zu pflanzen, spricht der Herr“ (Jer 31,28). „Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt, und seine Hände heilen“ (Hiob 5,18). Es ist besonders schön zu sehen, dass Daniel in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von „unserem Gott“ spricht (vgl. weiter Verse 15.17). So hatten wir es bereits in Kapitel 3,17 gefunden. Dort sind es die drei Freunde Daniels, die Ihn gemeinsam so bezeichnen. Hier ist es ein Einzelner, der jedoch das ganze Volk im Auge hat. Das Auge des Glaubens sieht immer das Volk Gottes als Ganzes.

Wir sehen das im nächsten Teil ab Vers 15. Auf dieser Basis erfolgt die Fürbitte Daniels. Wenn wir es hingegen ablehnen zu sehen, dass Gott in seiner Regierung handelt, verschließen wir den Weg zu Heilung. Wenn wir nur das Unrecht anderer sehen, das sie uns getan haben mögen, kommen wir keinen Schritt weiter.

Namen Gottes

Im Übergang vom zweiten zum dritten Teil des Gebets möchte ich gerne auf einen Umstand hinweisen, der beim Nachdenken über das Gebet leicht übersehen werden kann. Daniel redet Gott nämlich auf eine dreifache Weise an:

  1. In den Versen 4–14 – also im ersten und zweiten Teil – spricht Daniel wiederholt den Herrn (Jahwe) an (fünfmal in den Versen 8.10.13.14). Er erinnert daran, dass Er derjenige ist, der sich nicht verändert (Mal 3,6). Gott hatte zu Mose gesagt: „Ich bin, der ich bin“ (2. Mo 3,14). Das ist die Bedeutung des Namens „Jahwe“ oder „Herr“.21 Daniel kannte Ihn so. Bei allem Wechsel, den er erlebt hatte, blieb eine Konstante: Sein Gott veränderte sich nicht. Er blieb unveränderlich derselbe.
  2. Im dritten Teil des Gebets wird der Name Herr nicht mehr erwähnt. Hier spricht Daniel wiederholt von dem Herrn (Adonai), was er allerdings vorher auch schon getan hat. Dieser Name wird in den Versen 3.4.7.9.15.16.17.19 etwa zehnmal gebraucht. Mit Adonai (oder Adon) redet man einen Herrn, einen Meister oder einen Fürsten an. Dieser Titel wurde ebenso für einen menschlichen „Oberherrn“ gebraucht (z. B. für einen König, einen Ehemann oder für den Herrn eines Sklaven). Es geht um Personen in Autorität, um Würde und Herrschaft. Der Ausdruck kommt in der Bibel oft in Verbindung mit anderen Namen Gottes vor, besonders mit dem Namen Jahwe (Herr). Indem Daniel Gott als Adonai anredet, erkennt er Gottes absolute Souveränität über allem an. Er ist der Herr, die höchste Autorität.
    Wenn es um die konkrete Fürbitte geht, appelliert Daniel also nicht an den, der sich nicht verändert, sondern an den, der die höchste Autorität hat. Das wird sein Charakter sein, wenn der Herr Jesus einmal zur Rettung seines Volkes erscheinen wird. Er ist der „Herr der Herren“ und der „König der Könige“ (Off 17,14; 19,16).
  3. Am häufigsten gebraucht Daniel die Namen Gottes El (in der Einzahl in Vers 4) und Elohim (in der Mehrzahl in den Versen 3.4.9.10.11.13.14.17.18.19). Diese Namen zeigen uns besonders die Größe Gottes in seiner Allmacht, seiner Allwissenheit und Allgegenwart. Besonders zu Herzen gehend ist es, dass Daniel nicht nur von „unserem Gott“ spricht, sondern Ihn in den Versen 18 und 19 „meinen Gott“ nennt. Das erinnert an Paulus, der in Philipper 4,19 sagt: „Mein Gott aber wird euch alles Nötige geben nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus.“ Daniel hatte eine persönliche Beziehung zu diesem Gott, und deshalb legt er Ihm seine Fürbitte in Demut und Vertrauen vor.

Wir kennen Gott auf eine andere Weise. Er ist in dem Herrn Jesus unser Vater (vgl. Joh 20,17). Dennoch bleibt es wahr, dass Er auch für uns derjenige ist, der sich nicht verändert (Heb 13,8), der die höchste Autorität besitzt (1. Tim 6,15) und dem alle Macht gegeben ist (Mt 28,18).

Noch etwas fällt auf. Daniel spricht in seinem Gebet manchmal direkt zu Gott, d. h. er spricht Ihn unmittelbar an, während er manchmal von Gott in der dritten Person spricht. Letzteres tut er besonders dann, wenn es um das Bekenntnis der Schuld seines Volkes geht. Das zeigt, dass Daniel zum einen ein vertrautes Verhältnis zu seinem Gott hatte – er spricht Ihn direkt an. Zum anderen wird erneut deutlich, dass Daniel das Gericht Gottes über das Volk anerkannte.

Verse 15–19: Die Fürbitte Daniels

Aus Ägypten erlöst

Mit Vers 15 beginnt der dritte Teil des Gebets, in dem Daniel konkret für das Volk bittet. Er wiederholt, dass das Volk vor Gott schuldig geworden ist, spricht jedoch zugleich von dem, was Gott in der Vergangenheit getan hat und bittet Gott indirekt darum, das zu wiederholen. Daniel schlägt eine Brücke zwischen der Sünde des Volkes einerseits und der Gnade Gottes andererseits. Man wird fast an Römer 5,20 erinnert, wo Paulus schreibt: „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden.“ Nur Gott kann zerbrochene Herzen heilen. „Kommt und lasst uns zu dem Herrn umkehren; denn er hat zerrissen und wird uns heilen, er hat geschlagen und wird uns verbinden“ (Hos 6,1). Der Schlag Gottes war gerecht und notwendig, doch nun kommt die Bitte um Heilung.

Daniel erinnert Gott daran, wie Er am Anfang das Volk aus Ägypten geführt hat, und zwar „mit starker Hand“. Die Erlösung aus Ägypten erinnert an vier Dinge:

  1. Sie war ein Beweis der Gnade, Barmherzigkeit und Liebe Gottes für sein Volk: Israel war in Ägypten ebenso schuldig wie die Ägypter: „Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der Herr sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen der Liebe des Herrn zu euch und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen hat, hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst“ (5. Mo 7,7.8). An dieses Erbarmen Gottes appelliert Daniel hier.
  2. Sie war ein Beweis der Kraft und Macht Gottes: Israel war nicht nur durch das Blut des Passahlammes erlöst worden, sondern am Roten Meer bewies Gott seine ganze Macht. Er rettete sein Volk und vernichtete zugleich die Feinde. Das war die starke Hand Gottes. „Deine Rechte, Herr, ist herrlich in Macht; deine Rechte, Herr, hat zerschmettert den Feind. Und in der Größe deiner Hoheit hast du niedergerissen, die sich gegen dich erhoben“ (2. Mo 15,6.7). An diese Kraft Gottes appelliert Daniel.
  3. Sie war ein Beweis dafür, dass Gott zu seinem Wort steht: „Und ich werde euch in das Land bringen, das Abraham, Isaak und Jakob zu geben ich meine Hand erhoben habe, und werde es euch zum Besitztum geben, ich, der Herr“ (2. Mo 6,8). Auch daran mag Daniel gedacht haben, als er Gott an die Rettung aus Ägypten erinnerte.
  4. Durch die Rettung aus Ägypten hatte Gott sich einen Namen unter den Nationen gemacht: „Die Völker hörten es, sie bebten; Angst ergriff die Bewohner Philistäas“ (2. Mo 15,14). Hierin verborgen liegt die Bitte Daniels, dass Gott erneut um seines großen Namens willen zugunsten seines Volkes eingreifen möge.

Dreimal wird Israel am Ende seiner Geschichte in das Land Kanaan gebracht worden sein. Zum ersten Mal, als sie aus Ägypten erlöst wurden. Zum zweiten Mal, als sie am Ende des siebzigjährigen Exils Babel verließen und zum dritten Mal wird es wahr werden, wenn Gott sein Volk am Ende der Zeit sammelt, um sie in den Segen des Reiches zu bringen. Erneut wird das ein Akt der Barmherzigkeit einerseits und ein Akt der Macht andererseits sein. Gott wird seine Zusagen erfüllen und wird wieder seinen Namen unter den Nationen groß machen.

Gerechtigkeit und Gnade

Bei alledem vergisst Daniel nicht, was geschehen ist. Obwohl das Volk durch Gnade und Macht erlöst worden war, hatte es dennoch gesündigt und gottlos gehandelt. Die Tatsache, dass sie erlöst waren, machte ihre Sünde umso hässlicher und abscheulicher. Das ist heute nicht anders.

Gott hatte sich zu seinem Volk bekannt und konnte nun erwarten, dass dieses Volk Ihm diente und gehorchte. Das Gegenteil war der Fall. Sie hatten gesündigt und Gott nicht das gegeben, was Ihm zustand. Durch die Sünde Israels war der Name Gottes verlästert worden. Einige Jahrzehnte später ließ Gott durch den Propheten Maleachi sagen: „Ein Sohn soll den Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre? Und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht?, spricht der Herr der Heerscharen zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet und doch sprecht: Womit haben wir deinen Namen verachtet?“ (Mal 1,6).

Wie schon im zweiten Teil des Gebets appelliert Daniel zuerst an Gottes Gerechtigkeit in seinem Handeln und dann an seine Gnade und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit beruht auf Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit kann es keine Gnade geben. Gott braucht eine gerechte Grundlage, wenn Er in Gnade handelt. Das wird im Neuen Testament im Evangelium besonders deutlich, ist jedoch schon im Alten Testament erkennbar. Daniel hatte daran erinnert, dass das Gericht gerecht war (Vers 14), jetzt appelliert er wieder an die Gerechtigkeit und verbindet damit die Gnade, damit der Zorn Gottes sich legt und abwendet. Daniel beweist echten Glauben. Bei einem Bekenntnis ist Gott nicht nur gnädig und barmherzig, sondern „treu und gerecht“ (1. Joh 1,9). „Nach deiner Gerechtigkeit“ bedeutet „gemäß deiner Gerechtigkeit“.22 Er sieht es als einen Beweis der Gerechtigkeit Gottes an, dass Er um seines Namens willen vergibt. Der Glaube sieht die große Ungerechtigkeit des Menschen und vertraut dann völlig auf die Gnade eines gerechten Gottes, der in Übereinstimmung mit seinem Wesen handelt.

Wir wissen, was Daniel noch nicht wissen konnte. Die gerechte Grundlage, die Gott gefunden hat, um Gnade üben zu können, hat Er letztlich in dem Werk des Herrn Jesus am Kreuz gefunden. Nur im Blick auf dieses Werk konnte Gott schon im Alten Testament gnädig und barmherzig sein, und nur auf dieser Grundlage wird es einmal eine Wiederherstellung Israels geben.

Die Ehre Gottes

Die Folgen des sündigen und gottlosen Handelns der Kinder Israel lagen auf der Hand. Doch Daniel spricht nicht von dem Leid und der Not der Exiljuden in Babel, sondern es geht um das, was das Volk direkt und indirekt Gott angetan hatte. Er erwähnt nur einmal mehr beiläufig „unsere Verwüstungen“ (Vers 18) und fährt dann fort, von den Namen Gottes und seinen Erbarmungen zu reden. Diese Gesinnung Daniels ist bemerkenswert und beispielhaft. Einerseits war Gott direkt beleidigt worden. Andererseits war das Volk Gottes den Nationen um sie herum zum Hohn geworden und das betraf letztlich wiederum die Ehre Gottes.

Es fällt auf, wie Daniel alles in Verbindung mit Gott bringt. Wir haben schon bemerkt, dass er mehrfach von dem „Volk Gottes“ spricht. Doch nicht nur das. Er erwähnt weiter:

  • Dein Volk (Verse 15.16.19)
  • Deine Gerechtigkeiten (Vers 16)
  • Dein Zorn (Vers 16)
  • Dein Grimm (Vers 16)
  • Deine Stadt (Verse 16.19)
  • Dein heiliger Berg (Vers 16)
  • Dein Knecht (Vers 17)
  • Dein Angesicht (Vers 17)
  • Dein Heiligtum (Vers 17)
  • Dein Ohr (Vers 18)
  • Deine Augen (Vers 18)
  • Dein Name (Verse 18.19)
  • Deine vielen Erbarmungen (Vers 18)

Wahre Demütigung hat immer die Ehre Gottes im Auge. Es geht nicht zuerst darum, dass wir unter den Folgen unserer Untreue leiden, sondern es geht um Ihn, um seine Ehre und um sein Zeugnis. Wenn wir durch unsere Untreue alles verdorben haben und zerstreut sind, dann betrifft das die Ehre und das Zeugnis Gottes. Daniel ist für uns ein Vorbild. Es geht ihm um den Namen, um die Herrlichkeit und um die Ehre Gottes. Hier haben wir den höchsten Charakter von Fürbitte: Man tritt für andere ein, damit die Ehre Gottes wiederhergestellt wird und die Interessen Gottes verwirklicht werden.

Wenn wir den Text aufmerksam lesen, fallen drei Dinge besonders ins Gewicht, die Daniel am Herzen lagen. Erstens das Volk Gottes, zweitens die Stadt Gottes und drittens das Heiligtum Gottes.

Dein Volk

Daniel hatte erstens eine besondere Zuneigung für das Volk Gottes. Er erwähnt es in seinem Gebet mehrfach. In Vers 6 spricht er von dem „Volk des Landes“. In seinem Appell an die Gnade Gottes nennt er es dreimal „dein Volk“ (das Volk Gottes in den Versen 15,16 und 19). Wenn es um die Schuld geht, spricht er zweimal von „ganz Israel“ (Verse 7 und 11), und wenn es um das Bekenntnis geht, sagt er: „mein Volk Israel“ (Vers 20). Das zeigt erneut seine geistliche Einsicht und sein geistliches Empfinden.

Gott nennt das Volk hier ausdrücklich nicht „mein Volk“, allerdings korrigiert Er Daniel nicht, der diese Formulierung eben doch gebraucht. Der moralische Zustand des Volkes machte es unmöglich, dass Gott das Volk als sein Volk anerkannte. Es ist ähnlich wie in 5. Mose 9. Dort sagt Gott zu Mose: „Mach dich auf, steige schnell von hier hinab! Denn dein Volk, das du aus Ägypten herausgeführt hast, hat sich verdorben“ (5. Mo 9,12). Gott nennt es „dein Volk“. Mose antwortet anders. Er erkennt das Volk nach wie vor als Gottes Volk an: „Sie sind ja dein Volk und dein Erbteil, das du herausgeführt hast mit deiner großen Kraft und mit deinem ausgestreckten Arm“ (5. Mo 9,29).

Für Gott ist das Volk Israel immer noch unter dem Gericht von „Lo-Ammi“, d. h. „nicht mein Volk“ (Hos 1,9). Erst mit dem Kommen des Herrn in Macht und Herrlichkeit und dem Ende der Zeiten der Nationen wird sich das ändern. Der Glaube spricht trotzdem anders. Der Glaube bittet nicht für sich selbst und für sein eigenes Volk, sondern für das Volk Gottes. Es geht immer um die Sache Gottes. Das Interesse Daniels bestand darin, dass Gott die Ehre bekam.

Wir wollen für uns daraus lernen, dass wir die Gläubigen mehr mit den Augen Gottes sehen. Auch wenn wir uns in dem „großen Haus“ des christlichen Bekenntnisses befinden und Echt und Unecht oft kaum unterscheiden können, wollen wir trotz aller Untreue nicht vergessen, dass Gott bis heute ein „Volk für seinen Namen“ hat (Apg 15,14). Das Volk Gottes ist und bleibt sein Volk, das einen hohen Wert für Ihn hat. Das wollen wir bei aller Zerrissenheit im Volk Gottes nicht vergessen.

Deine Stadt

Daniels besonderes Interesse gilt zweitens der Stadt Jerusalem. Er nennt sie „deine Stadt Jerusalem“ (Vers 16) und „die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist“ (Vers 18). Jerusalem war in der Tat die Stadt Gottes. Er hatte sie erwählt (1. Kö 11,32). Sie hatte in seinen Augen einen hohen Wert. Dort wollte Er seinen Namen wohnen lassen. Die Stadt war zerstört und lag in Trümmern. Dennoch hing Daniel mit großer Liebe gerade an dieser Stadt. Sie war für ihn nicht nur die „Stadt des großen Königs“, sondern sie war die Stadt, die nach dem Namen Gottes genannt wurde. Das unterschied Jerusalem von jeder anderen Stadt, und obwohl die Stadt in Schutt und Trümmern lag, sah Daniel sie mit den Augen Gottes. Jerusalem sollte eine heilige Stadt sein: Leider war das Gegenteil der Fall. Dennoch wird der Plan Gottes mit Jerusalem einmal erfüllt werden (Jes 52,1).

Wenn wir eine Anwendung für uns machen, so erkennen wir in der Stadt ein Bild der Versammlung Gottes. Vom Standpunkt der menschlichen Verantwortung gesehen erkennen wir heute nur Trümmer. Trotzdem sieht Gott sie mit anderen Augen. Es ist und bleibt „die Versammlung Gottes ..., die er sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen“ (Apg 20,28). Es ist und bleibt die kostbare Perle, für die Christus sein Leben gab. Wir wollen uns motivieren, diese Versammlung mehr mit den Augen Gottes zu sehen. Es ist nicht „unsere Versammlung“ oder eine „Brüderversammlung“, sondern die „Versammlung des lebendigen Gottes“ (1. Tim 3,15). H. Smith schreibt: „Ach, dass wir doch mehr von dem Geist Daniels kennen würden. Wären unsere Herzen doch mehr mit dem erfüllt, was dem Herzen Christi so nah und wertvoll ist, würden wir doch – indem wir uns über alle persönlichen und örtlichen Bedürfnisse erheben – zu Gott für seine Versammlung, seinen Namen, sein Haus und sein Volk beten, unser gemeinsames Versagen bekennen und die gemeinsame Not verspüren.“23

Dein Heiligtum

Daniels Interesse galt drittens dem Heiligtum, das auf dem „heiligen Berg“ stand. Die Psalmen und der Prophet Jesaja sprechen wiederholt von dem „heiligen Berg“. Sie verbinden diesen Berg erstens mit der Wohnung Gottes, dem Heiligtum (vgl. z. B. Ps 15,1; 43,3). Der „heilige Berg“ wird zweitens mit der Anbetung Gottes in Verbindung gebracht (Jes 27,13; 56,7; 66,20). Der „heilige Berg“ und die „heilige Wohnung“ sind nicht voneinander zu trennen.

Nun gab es zur Zeit Daniels kein Heiligtum mehr. Es gab noch den geographischen Ort Jerusalem, nur stand dort kein Heiligtum mehr. Seit vielen Jahrzehnten wurden keine Opfer mehr gebracht. Für Daniel war das ein großer Schmerz. Er erkannte an, dass das Heiligtum „verwüstet“ war (Vers 17). Gerade deshalb hatte er die Bitte, dass Gott sein Angesicht über dieses verwüstete Heiligtum leuchten lassen sollte. Er wünschte so sehr eine Wiederherstellung dieser Wohnung Gottes, damit Ihm dort die Opfer neu gebracht werden konnten. In den Psalmen wird das leuchtende Angesicht Gottes mehrfach mit der Rettung von Menschen verbunden (z. B. Ps 31,17; 80,4.8.20). Hier geht es um Gottes Heiligtum.

Der Wunsch Daniels sollte in Erfüllung gehen. Wenige Jahre später wurde zunächst der Altar an seiner Stätte aufgerichtet (Esra 3,3). Danach wurde der Tempel gebaut und vollendet (Esra 6,14). Die endgültige Erfüllung liegt allerdings noch in der Zukunft, wenn der Opferdienst im Tausendjährigen Reich wieder etabliert sein wird.

Damals wie heute erhebt sich der Glaube über das hinweg, was das Auge sieht, über den Verfall und den Niedergang im Volk Gottes. Wir wünschen, dass unserem Gott Ehre und Anbetung gebracht wird und dass es einen Gottesdienst nach Gottes Gedanken und Willen geben kann, und leiden gleichzeitig darunter, dass das so wenig der Fall ist.

Ein finaler Appell

Daniels Gebet neigt sich dem Ende und gleichzeitig dem Höhepunkt zu. Er bittet darum, dass Gott sein Ohr neigt und hört und seine Augen öffnet, um zu sehen. Salomo hatte gesagt: „Nun, mein Gott, lass doch deine Augen offen und deine Ohren aufmerksam sein auf das Gebet an diesem Ort“ (2. Chr 6,40). Der Psalmdichter schreibt: „Herr, höre auf meine Stimme! Lass deine Ohren aufmerksam sein auf die Stimme meines Flehens“ (Ps 130,2). Daniel wusste, dass der Gott des Himmels, im Gegensatz zu den stummen Götzen der Menschen, sowohl Ohren als Augen hat. Er hört alles und sieht alles. Seinem Auge und seinem Ohr entgeht nichts. „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte er nicht hören? Der das Auge gebildet hat, sollte er nicht sehen?“ (Ps 94,9).

Daniel führt drei Gründe an, auf die er seine Fürbitte abstützt:

  1. Nach allen deinen Gerechtigkeiten“ (Vers 16): Wir haben bereits gesehen, dass Gott in Gerechtigkeit handelt und zwar sowohl im Gericht als auch in der Wiederherstellung. Die Grundlage dafür ist das Werk seines Sohnes am Kreuz.
  2. „Um deiner vielen Erbarmungen willen“ (Vers 18): Das hat uns ebenfalls schon beschäftigt. Gott ist ein Gott des Mitempfindens und des Erbarmens. Daran appelliert Daniel.
  3. „Um des Herrn willen“ (Vers 17) bzw. „um deiner selbst willen“ (Vers 19): In diesem Hinweis erkennen wir, dass Daniel sich auf Gott selbst abstützt. Gott hatte gesagt: „Ich, ich bin es, der deine Übertretungen tilgt um meinetwillen“ (Jes 43,25). Daniel macht es wie Asaph, der betete: „Hilf uns, Gott unseres Heils, um der Herrlichkeit deines Namens willen; und errette uns und vergib unsere Sünden um deines Namens willen“ (Ps 79,9).

Die finale Bitte Daniels lautet: „Herr, höre! Herr, vergib! Herr, merke auf und handle; zögere nicht, um deiner selbst willen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt.“ Daniels Bitte ist konkret und eindeutig. Gott möge hören und vergeben. Er möge aufmerken und handeln und nicht zögern. Dieses Gebet war Gott wohlgefällig. Seine Ohren waren offen. Er war zur Vergebung bereit. Er würde aufmerken und handeln. Er würde sich in dem verherrlichen, was Er im Begriff stand zu tun.

Verse 20–23: Der Engel Gabriel

Gottes Antwort

Daniels Fürbitte hatte ganz konkret dem Volk, der Stadt und dem Heiligtum Gottes gegolten, und auf alle drei Bitten bekommt er nun eine Antwort. Gott macht ihm in einem Gesicht klar, welches die Zukunft Jerusalems, des Volkes und des Tempels sein würde. Ab Vers 24 werden wir alle drei Bereiche finden.

Die Antwort Gottes ließ nicht auf sich warten. Gott hatte das Bekenntnis Daniels und sein Flehen gehört. Er nahm die demütige Haltung Daniels und seine Liebe zu dem Volk Gottes, der Stadt Gottes und dem Heiligtum wahr. Daniel hatte das, was ihn so bedrückte, vor Gott „niedergelegt“. Er tat das, wozu Paulus später die Philipper aufforderte, nämlich die Anliegen vor Gott „kundwerden“ zu lassen (Phil 4,6). Petrus schreibt: „... indem ihr all eure Sorge auf ihn werft“ (1. Pet 5,7). Ein solches Gebet kann Gott nicht ohne Antwort lassen und in diesem Fall kam die Antwort Gottes unmittelbar, d. h. noch während Daniel im Gebet war. Bereits am Anfang des Flehens wusste Gotte das Ende und ein Wort war ausgegangen. Gott kannte das Herz Daniels und so begann Er bereits zu Beginn des Gebets zu handeln. David hatte Ähnliches erlebt: „An dem Tag, als ich rief, antwortetest du mir; du hast mich ermutigt: In meiner Seele war Kraft“ (Ps 138,3). Und mehr noch: „Und es wird geschehen: Ehe sie rufen, werde ich antworten; während sie noch reden, werde ich hören“ (Jes 65,24).

Gott gab dem Engel Gabriel den Auftrag, dem Propheten eine Antwort zu geben, und Gabriel beeilte sich, den Auftrag zu erfüllen, noch bevor Daniel das Gebet beendet hatte. J. N. Darby übersetzt, dass Gabriel veranlasst wurde, „schnell zu fliegen“, um Daniel während des Abendspeisopfers zu berühren.24 Das zeigt, dass Gott daran gelegen war, Daniel nicht nur eine Antwort zu geben, sondern ihn durch die persönliche Berührung durch Gabriel besonders zu trösten. Wo Herzen für Gott geöffnet sind, antwortet Er.

Gott ist souverän, wie und wann Er Gebet erhört. In jedem Fall können wir sicher sein, dass Gottes Ohren immer offen sind, d.h. dass Er hört. Das gibt uns Zuversicht, Ihm im Gebet alles vorzulegen. Die Erfahrung der schnellen Erhörung haben zahllose Gläubige gemacht. Daniel hatte nach dem Willen und den Gedanken Gottes und in Gemeinschaft mit Ihm gebetet und das erlebt, was Jakobus später in die Worte kleidete: „Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen“ (Jak 4,8). Wenn wir mit Gott in Tagen von Versagen und Niedergang über den Zustand seines Volkes und seiner Versammlung im Gebet sprechen, werden wir eine ähnliche Erfahrung machen. Wir wissen sehr wohl, dass Vollkommenheit erst beim Kommen des Herrn da sein wird. Doch wir wissen ebenso, dass der Herr sich bei aller Not bis zum Ende einen Überrest erhalten wird. Es wird keine zweite Erweckung wie in Philadelphia (vgl. Off 3,7–13) geben, wenn wir jedoch persönlich treu sind und die Gesinnung Daniels beweisen, wird Er sein Werk beleben. Wir wollen Ihm vertrauen und, wie Daniel, persönlich treu sein und in Glaubenszuversicht zu Ihm beten.

Der Mann Gabriel

Der Mann Gabriel, der nun zu Daniel kommt, ist niemand anderes als der Engel, von dem er bereits in Kapitel 8 gesprochen hatte. Im Buch Daniel finden wir sowohl Gabriel als auch den Erzengel Michael. Beide hatten unterschiedliche Aufgaben. Während Gabriel dafür Sorge trägt, dass Daniel Einsicht bekommt, ist es Michaels Aufgabe, für die Sicherheit der Nation zu sorgen (vgl. Dan 10,13.21; 12,1).

Gabriel wird hier ein „Mann“ genannt. Das bedeutet nicht, dass er kein Engel gewesen wäre. Der Ausdruck macht vielmehr klar, dass es sich um denselben Engel handelt wie in Kapitel 8,15.16. Dort heißt es, dass er „die Gestalt eines Mannes“ hatte. In Lukas 1,19.26 wird klar gesagt, dass es sich um einen Engel handelt. Das hebräische Wort „Mann“ kann auch mit „Diener“ übersetzt werden. Wir sahen bereits in Kapitel 8, dass Gabriel mit „Mann Gottes“ oder „Kraft Gottes“ übersetzt werden kann. Die Formulierung der „Mann Gabriel“ kann deshalb ebenfalls übersetzt werden: „der Diener, der Starke des starken Gottes“. Dass Daniel ihn „am Anfang gesehen hatte“, nimmt Bezug auf Kapitel 8.

Gabriel gibt Daniel Verständnis, obwohl Daniel gar nicht darum gebeten hatte. Sein Gebetsinhalt war ein anderer gewesen. Doch Gott sah tiefer. Er wusste, wie sehr Daniel an dem Volk Gottes, der Stadt und dem Heiligtum hing. Er wusste, wie sehr er nach Einsicht begehrte, um weitere Einzelheiten zu erfahren, die ihm bisher weder durch seine eigenen Gesichte noch durch das Studium des Propheten Jeremia klar geworden waren. Das, was Gabriel zu sagen hat, ist äußerst kurz und präzise und gibt uns in wenigen Worten einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Zukunft Israels im Allgemeinen und der Stadt Jerusalem im Speziellen.

Zur Zeit des Abendopfers

Es ist nicht von ungefähr, dass Daniel zur Zeit des Abendopfers gebetet hatte und Antwort bekam. In 4. Mose 28,3–8 hatte Gott die Vorschrift gegeben, dass Tag für Tag – und zwar am Morgen und zwischen den zwei Abenden – ein beständiges Brandopfer dargebracht werden sollte, und zwar in Verbindung mit einem Speisopfer und einem Trankopfer. Es sollte ein „Feueropfer lieblichen Geruchs dem Herrn“ sein. Auf diese Vorschrift wird hier angespielt. „Zwischen den zwei Abenden“ war die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Einbruch der Dunkelheit. Es war – nach jüdischer Zeitrechnung – um die neunte Stunde, d. h. nach unserer Zeitrechnung gegen 15 Uhr am Nachmittag. Bemerkenswert ist, dass andere Gottesmänner ebenfalls um diese Zeit gebetet haben. Elia betete zur Zeit des Speisopfers und bekam eine unmittelbare Antwort von Gott. Esra bekannte – ähnlich wie Daniel – ebenfalls um diese Zeit (Esra 9,5) die Sünden des Volkes vor Gott. Im Neuen Testament haben wir das Beispiel von Kornelius. Es war um die neunte Stunde des Tages, als der Engel Gottes zu ihm kam und ihm sagte: „Deine Gebete und deine Almosen sind hinaufgestiegen zum Gedächtnis vor Gott“ (Apg 10,3.4).

Im Leben Samuels war die Fürbitte für das Volk ebenfalls mit einem Opfer verbunden (ohne dass dort ausdrücklich die neunte Stunde erwähnt wird). In 1. Samuel 7,9 lesen wir: „Und Samuel nahm ein Milchlamm und opferte es ganz als Brandopfer dem Herrn; und Samuel schrie zu dem Herrn für Israel, und der Herr erhörte ihn.“25

Für uns liegt darin zweierlei enthalten:

  1. Jede Annahme unserer Gebete gründet sich auf das Opfer des Herrn Jesus. Das Abendopfer spricht von seinem Werk und der Freude, die Gott daran hat. Er hat „durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert“ (Heb 9,14), um das Gewissen der Gläubigen von toten Werken zu reinigen. Als Er am Kreuz hing, schrie Er um die neunte Stunde mit lauter Stimme: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Auf diesen Ruf gab es keine Antwort. Der Himmel schwieg. Und gerade deshalb kann Gott jetzt auf die Gebete der Gläubigen hören. Unser Gebet wird aufgrund der Wirksamkeit des Brandopfers, das den ganzen Wert seiner Hingabe zeigt, beantwortet. Wir ruhen ganz und gar in dem, was Christus für Gott ist, und stehen in der Wirksamkeit und Akzeptanz seines Opfers vor Gott.
  2. Die Fürbitte der Gläubigen selbst kann mit einem Opfer verglichen werden. David sagt in Psalm 141,2: „Lass als Räucherwerk vor dir bestehen mein Gebet, das Erheben meiner Hände als Abendopfer.“ Das Gebet Daniels glich einem solchen Räucherwerk und war angenehm für Gott. Gewiss litt Daniel darunter, dass Gott die Opfer vorenthalten wurden. Umso mehr nahm Gott das, was Daniel vor Ihn brachte, als ein angenehmes Opfer an.

Jede Segnung Gottes und jede Wiederherstellung ist gegründet auf das Opfer des Herrn Jesus. Das gilt auch für die Wiederherstellung Israels und Jerusalems. Die Gerechtigkeit Gottes fordert ein solches Werk, damit Er Barmherzigkeit üben kann. Daniel hatte von der Gerechtigkeit und von dem Erbarmen Gottes gesprochen. Er wusste nicht, wie Gott Gnade üben kann, ohne dabei nicht gerecht zu sein. Wir kennen die Antwort. Sie liegt in dem Opfer des Herrn Jesus am Kreuz begründet.

Verständnis für Daniel

Daniel war ein äußerst weiser und verständiger Mann (vgl. Hes 28,3). Gott hatte ihm bereits in jungen Jahren Verständnis für alle Gesichte und Träume gegeben (Dan 1,17). Doch die Quelle der Weisheit und Einsicht lag nicht in ihm selbst. Gott hatte ihn damit ausgerüstet. Daniel war und blieb darin abhängig von Gott. In Kapitel 8 sahen wir, wie Daniel Verständnis suchte (Dan 8,15). Hier nun kommt Gabriel und gibt Daniel Verständnis, ohne dass er direkt darum gebeten hatte. In Kapitel 10 ist noch einmal die Rede von dem Verständnis Daniels. Dort suchte er wieder Verständnis und bekam es (Dan 10,1.12). Daniel wusste nur zu gut, dass es letztlich Gott ist, der den Weisen Weisheit und den Verständigen Verstand gibt (vgl. Dan 2,21).

Verständnis zu haben ist mehr als eine Offenbarung zu bekommen. Gott wollte Daniel nicht nur etwas zeigen, sondern er sollte es verstehen und Nutzen davon haben. Im Neuen Testament sehen wir, dass Gott sich nicht nur offenbart hat, sondern dass Er den Aposteln Verständnis für das gab, was Er ihnen offenbarte. Für uns gilt, dass wir die Aussagen Gottes in seinem Wort nicht nur intellektuell aufnehmen, sondern sie wirklich mit dem Herzen verstehen. Wenn wir das Wort Gottes aufrichtig lesen, wird der Herr uns Verständnis geben (vgl. 2. Tim 2,7). Dazu brauchen wir Zeit und Gebet. Dann wird es uns wie den Jüngern ergehen, die nach Emmaus gingen. Zuerst öffnete der Herr ihnen die Schriften und dann das Verständnis. Das Ergebnis war, dass ihre Herzen brennend wurden (Lk 24,32.45).

Dieses Verständnis brauchte Daniel, um die folgende Weissagung über die Zukunft des Volkes Gottes, Jerusalems und des Tempels zu verstehen. Wir brauchen ebenfalls geistliche Einsicht, um diese Weissagung über die 70 Jahrwochen richtig zu verstehen. Viele Missverständnisse darüber beruhen darauf, dass man sie ohne wirkliches geistliches Verständnis zu interpretieren versucht.

Ein Vielgeliebter

Daniel hatte sich mit der Sünde seines Volkes eins gemacht. Jetzt wird ihm versichert, dass er ein „Vielgeliebter“ ist. Diese Aussage wird in Kapitel 10,11.19 wiederholt. Es ist eine dreifache Auszeichnung, die in dieser Form in der Bibel einmalig ist. Wir denken an Abraham, der dadurch ausgezeichnet wird, dass er dreimal Freund Gottes genannt wird (2. Chr 20,7; Jes 41,8; Jak 2,23). Wir denken an Johannes, den Schreiber der Offenbarung, der die Nähe zu seinem Herrn besonders genoss und sich gerne als den Jünger bezeichnete, „den Jesus liebte“.

Das Wort, das hier mit „vielgeliebt“ übersetzt wird, kommt im Buch Daniel fünf Mal vor (Kap 9,23; 10,3.11.19; 11,43). Ansonsten wird es nur noch einmal in 2. Chronika 20,25 gebraucht. Es kann alternativ mit „kostbar“ oder „schön“ wiedergegeben werden. Nicht nur das Gebet Daniels war kostbar und angenehm für Gott, sondern der Beter selbst hatte in den Augen Gottes einen hohen Wert. Gott sah diesen alten Mann in seiner demütigen und fürbittenden Gesinnung am Ende seines Lebens, und Er schätzte ihn wert und zeichnete ihn aus. Wir denken dabei an die Worte unseres Herrn: „Wer aber sich selbst erhöhen wird, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigen wird, wird erhöht werden“ (Mt 23,12). Das erlebt Daniel hier. Er hatte sich gedemütigt und bekommt nun diese Auszeichnung und diesen Ehrentitel.

Dieser „Vielgeliebte“ sollte nun aufmerksam zuhören und das Gesicht verstehen. Nicht Daniels Weisheit und Intelligenz waren die Voraussetzung zum Verständnis, sondern die Tatsache, dass er ein „Vielgeliebter“ war.

Verse 24–27: Die 70 Jahrwochen Daniels – Einleitung

Das Gesicht über die 70 Jahrwochen Daniels ist zu Recht als „Rückgrat biblischer Prophetie“ bezeichnet worden. Es ist eine der wichtigsten Weissagungen im Alten Testament im Blick auf die Zukunft Israels. Für das Studium biblischer Prophetie ist es unerlässlich, diese Verse gut zu verstehen. Der Text gibt vor allem wichtige Hinweise, was in der kurzen Zeitspanne unmittelbar vor dem Beginn des Tausendjährigen Reiches (die Zeit der großen Drangsal) geschieht. Dabei stehen besonders die Stadt Jerusalem und das Schicksal der Juden im Fokus.

Zum richtigen Verständnis ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass es eindeutig um die Zukunft des irdischen Volkes Gottes geht. Am Anfang wird gezeigt, wie herrlich das Ende sein wird. Der Weg dorthin wird allerdings ein sehr schwerer Weg für die Juden sein. Die Weissagung über die 70 Jahrwochen hat nicht die Zukunft der Nationen26 im Blickfeld. Wir haben in diesen Versen keine Beschreibung der Weltgeschichte, sondern es geht um die Geschichte und die Zukunft der Juden und Jerusalems. In den Kapiteln 2 und 7 war das anders. Dort ging es im Schwerpunkt um die vier Weltreiche und deren Zukunft. Hier geht es um das irdische Volk Gottes.

Die Weissagung über die 70 Jahrwochen ist ebenfalls keine Kirchengeschichte. Sie beschreibt nicht die Zukunft der Versammlung (Gemeinde).27 Wenn es hier um Jerusalem geht, so ist die irdische Stadt Jerusalem gemeint und nicht das „himmlische Jerusalem“ oder das „neue Jerusalem“, von dem wir im Neuen Testament lesen (Heb 12,22; Off 21,2). Das Neue Testament macht sehr klar, dass wir Christen hier auf der Erde keine bleibende Stadt haben, auf deren Wiederaufbau wir warten. Wenn einige Ausleger hier tatsächlich an das himmlische Jerusalem denken, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, wann dieses himmlische Jerusalem je zerstört wurde und wann es wieder aufgebaut werden wird. Nein, es geht eindeutig um die irdische Stadt Jerusalem, die Hauptstadt Israels und den Ort, wo der Tempel stand und einmal stehen wird.28

Ein weiterer entscheidender Punkt zum richtigen Verständnis ist die Tatsache, dass sich ein Teil der Weissagung über die 70 Jahrwochen bereits erfüllt hat, während ein anderer Teil noch erfüllt werden muss. Die ersten 69 Jahrwochen sind Vergangenheit, die letzte Jahrwoche wartet noch auf ihre Erfüllung – nämlich in den letzten 7 Jahren, bevor das Reich auf dieser Erde gegründet wird. Nach den ersten 69 Jahrwochen erfolgt eine Unterbrechung auf unbestimmte Zeit. Wenn wir das nicht klar unterscheiden, werden wir zu falschen Schlussfolgerungen kommen.

Leider hat es in der Interpretation des Gesichtes viele Erklärungen gegeben, die wenig hilfreich sind und in die Irre führen. Es ist im Rahmen dieser Arbeit müßig, diese Irrwege im Detail zu benennen und zu widerlegen. Auf einen Punkt sei jedoch hingewiesen:

Es gibt Ausleger, die nicht erkennen, dass die 70 Jahrwochen nach 69 Wochen unterbrochen werden und die letzte Woche noch zukünftig ist. Für sie hat sich die gesamte Weissagung bereits erfüllt. Einige dieser Ausleger verlegen deshalb den Beginn der beschriebenen Zeit deutlich nach vorn und verbinden ihn mit der endgültigen Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. Als „Beweis“ wird Jeremia 29,10 zitiert, wo Gott ankündigt, dass die Zeit der Gefangenschaft 70 Jahre dauern wird. Dieser Vers hat jedoch nichts mit dem Erlass des Perserkönigs zu tun, Jerusalem wieder zu bauen, sondern zeigt lediglich, dass es von Anfang an Gottes Plan war, das Volk wieder in ihr Land zu bringen. Dieser Auslegung folgend ist der Messias (der Gesalbte) nicht Jesus, sondern der König Kores, der in Jesaja 45,1 allerdings der „Gesalbte“ des Herrn genannt wird. Wir werden bei der Auslegung noch sehen, dass sich dieser Ausdruck hier in unserem Abschnitt nicht auf Kores beziehen kann. Wieder andere legen die endgültige Erfüllung in die Zeit der Makkabäer.

Andere Ausleger sehen durchaus, dass es sich bei dem Gesalbten um den im Alten Testament angekündigten König des Volkes handelt, d. h. um den Herrn Jesus. Sie sehen die Erfüllung der 70 Wochen jedoch nicht am Ende der Zeiten, sondern in dem ersten Kommen des Herrn Jesus auf diese Erde. Die letzte Jahrwoche beginnt nach dieser Auffassung mit dem öffentlichen Auftreten des Herrn Jesus und endet entweder mit seinem Tod oder 3 ½ Jahre später.29 Der in Vers 27 genannte „feste Bund“ soll dann der von Gott gemachte neue Bund auf der Grundlage des Werkes des Herrn Jesus sein. Durch diesen Bund entfallen die Opfer im Tempel. In dem genannten „Verwüster“ sieht man ein Bild der Nationen, die Christus gekreuzigt haben und dafür gerichtet werden. Das „Allerheiligste“ in Vers 24, das gesalbt wird, ist für sie nicht der Tempel, sondern der Herr Jesus selbst. Nun ist es in der Tat so, dass Jesus von Gott gesalbt wurde, allerdings werden wir im Lauf der Auslegung sehen, dass sich das „Allerheiligste“ nur auf den Tempel im kommenden Tausendjährigen Reich beziehen kann. Die Auslegung der Details wird zeigen, dass die genannten Erklärungen haltlos sind und keinen vernünftigen Sinn ergeben.

Vers 24: Überblick und Einleitung

70 Wochen über das Volk und die Stadt

Unter den meisten Auslegern besteht kein Zweifel, dass es sich bei den genannten 70 Wochen nicht um gewöhnliche Kalenderwochen, sondern um sogenannte „Jahrwochen“ handelt. In normalen Kalenderwochen hätten die genannten Ereignisse gar nicht stattfinden können, und es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass sie lediglich symbolisch zu verstehen sind.30 Für die Juden war es nicht ungewöhnlich, Zeit in Abschnitten von Jahrwochen zu erfassen. Als Europäer sind wir es anders gewohnt. Wir denken und rechnen in Zehner- oder Dezimalschritten (also Jahrzehnt, Jahrhundert, Jahrtausend). Die Juden hingegen dachten vielmehr in Siebenerschritten (sogenannten Heptaden = Summe von sieben). Das Wort „Wochen“ steht im Grundtext nicht.31 Das hebräische Wort meint etwas, das in eine Gruppe von Sieben aufgeteilt ist. Man kann auch übersetzen „siebzig Siebener“, wobei sprachlich offen bleibt, worauf sich die Angabe konkret bezieht. Im dritten Buch Mose gab Gott Vorschriften zum Sabbatjahr (3. Mo 25,1–7). Jedes siebte Jahr war ein Sabbat der Ruhe. Sieben solcher Sabbatjahre (siebenmal sieben Jahre) war dann ein „Jubeljahr“. Siebzig Siebener entsprechen demnach einer Zeit von 490 Jahren.

Nun ist jedem Bibelleser unmittelbar klar, dass es insgesamt länger als 490 Jahre dauert, bis die in Vers 24 beschriebenen Ereignisse eingetroffen sein werden. In der Tat handelt es sich um eine Aussage, die heute – nach weit über 2.000 Jahren – immer noch nicht vollständig in Erfüllung gegangen ist. Das macht schon klar, dass es in der Beschreibung der 70 Jahrwochen eine Unterbrechung geben muss. Wir kommen darauf zurück. Daniel konnte das aus seiner Perspektive nicht unmittelbar erkennen. Was er aber sehr wohl erkannte war dies, dass es erneut Übertretung und Sünden und Ungerechtigkeit geben würde, bis schließlich eine ewige Gerechtigkeit eingeführt werden würde. Er musste lernen, dass Stadt und Heiligtum noch einmal zerstört werden würden, bevor es dann – am Ende – eine endgültige Wiederherstellung geben kann. Das Volk würde nicht nur in erneuten Götzendienst verfallen, sondern sie würden den angekündigten Messias ablehnen und umbringen.

In einem gewissen Sinn distanziert Gott sich von dem Volk. Er spricht zu Daniel ausdrücklich von „deinem Volk“ und „deiner Stadt“. Dennoch hält Gott die Geschehnisse dieses Volkes und der Stadt fest in seiner Hand. Die 70 Jahrwochen waren von Gott bestimmt und nicht von den Herrschern in den Zeiten der Nationen. Obwohl Er das Volk offiziell nicht mehr als sein Volk anerkennt, bestimmt Er dennoch alles, was ihm widerfährt. Die Zukunft liegt immer in Gottes Händen. Andererseits erkennen wir in der Formulierung auch, wie sehr Gott die innere Haltung und Einstellung Daniels wertschätzte. Es war in der Tat „sein Volk“ und „seine Stadt“, obwohl es ein schuldiges Volk und eine schuldige Stadt war.

Sechs Voraussetzungen

Zum richtigen Verständnis der Antwort Gabriels ist es wichtig zu sehen, wann diese 70 Wochen beginnen und wann sie aufhören. Wenn wir das gut verstanden haben, sind viele Probleme der Auslegung bereits gelöst. Interessanterweise beginnt Gott mit dem Ende dieser Zeit, bevor Er dann über den Anfang und den Verlauf spricht.

Unser Vers nennt insgesamt sechs Punkte, die wir als Voraussetzungen für das Ende dieser Zeit ansehen können.32 Sie sind gleichzeitig das Ziel, in das diese 70 Jahrwochen hineinmünden. Mit anderen Worten: Es wird siebzig Jahrwochen dauern, bis das, was jetzt beschrieben wird, erfüllt sein wird. Dabei ist es offenkundig, dass in diesen sechs Punkten das Reich des Sohnes des Menschen beschrieben wird. Zum einen wird dann das Problem der Schuldhaftigkeit und Sünde des Volkes gelöst sein. Zum anderen wird der Sohn des Menschen in Gerechtigkeit regieren. Die sechs Punkte teilen sich in zweimal drei Punkte auf. Die ersten drei Punkte sind gewissermaßen „negativ“, dass nämlich etwas nicht mehr sein wird. Es geht um den notwendigen geistlichen und moralischen Zustand der Juden, um in das Reich einzugehen. Die zweiten drei Punkte sind gewissermaßen „positiv“, weil gezeigt wird, wodurch das Reich geprägt sein wird. Sie sprechen von der Verwirklichung der Gerechtigkeit auf dieser Erde. Grundlage für alles ist das Werk des Herrn Jesus am Kreuz. Es ist völlig klar, dass alle sechs Punkte sich zu Lebzeiten des Herrn Jesus als Mensch auf dieser Erde nicht erfüllt haben und selbst bis heute nicht erfüllt sind.

  1. Die Übertretung zum Abschluss bringen: Etwas zum Abschluss zu bringen bedeutet, es zu seinem Ende zu bringen. In Vers 11 hatte Daniel bekannt, dass ganz Israel das Gesetz Gottes übertreten hatte und abgewichen war. Hier ist die Antwort Gottes. Der Tag wird kommen, wo diese Übertretung abgeschlossen sein wird. Bis zu diesem Moment reiht sich eine Übertretung an die andere. Erst wenn Christus als Messias kommt, werden die Juden zu Ihm umkehren und Ihn als Retter und Erlöser annehmen. Dann wird das Gesetz nicht mehr übertreten, sondern Gott sagt: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben; und ich werde ihr Gott, und sie werden mein Volk sein“ (Jer 31,33). Israels Geschichte war von Anfang an von Übertretung der Gesetze Gottes gekennzeichnet. Das wird dann ein Ende haben.
  2. Den Sünden ein Ende machen: In Vers 5 hatte Daniel davon gesprochen, dass das Volk gesündigt hatte. In Vers 9 hatte er dieses Bekenntnis wiederholt. Nun gibt Gott ihm die Antwort. Den Sünden würde ein Ende gemacht werden. Der Grundtext gebraucht hier ein Wort, das auch „versiegeln“ bedeutet. Deshalb übersetzen andere: „die Sünden zu versiegeln“ oder: „die Sünde zu beseitigen“. Gemeint ist, dass etwas im Blick auf die Strafe abgeschlossen (versiegelt) wird. Es ist wie mit einer Person, die in einem Gefängnis sicher eingeschlossen ist. In 5. Mose 32,34 lesen wir: „Ist dies nicht bei mir verborgen, versiegelt in meinen Schatzkammern?“ Das ist der Gedanke. Hiob sagt: „Meine Übertretung ist versiegelt in einem Bündel“ (Hiob 14,17). Die bis dahin ungestrafte Sünde Israels hat ihre Strafe am Kreuz des Herrn Jesus gefunden. Er starb als Stellvertreter. Aber ohne Schuldbekenntnis ist eine endgültige Versiegelung und damit Vergebung unmöglich. Deshalb wird es bis zu diesem Augenblick dauern, bevor das Volk in den Segen des „Endes“ der Sünden kommt. „Und sie werden sich nicht mehr verunreinigen durch ihre Götzen und durch ihre Scheusale und durch alle ihre Übertretungen; und ich werde sie retten aus allen ihren Wohnsitzen, in denen sie gesündigt haben, und werde sie reinigen; und sie werden mein Volk, und ich werde ihr Gott sein“ (Hes 37,23). „Redet zum Herzen Jerusalems, und ruft ihr zu, dass ihre Mühsal vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist, dass sie von der Hand des Herrn Zweifaches empfangen hat für alle ihre Sünden“ (Jes 40,2).
  3. Die Ungerechtigkeit sühnen: In den Versen 13 und 16 hatte Daniel von der Ungerechtigkeit des Volkes gesprochen und sie vor Gott bekannt. Jetzt gibt Gott ihm die Zusage, dass diese Ungerechtigkeit einmal gesühnt werden wird. Ungerechtigkeit ist Missetat oder Schuld. Sühnung ist nicht mit Versöhnung zu verwechseln, wie wir sie in der vollen Bedeutung des Wortes nur im Neuen Testament finden. Sühnung bedeutet im Alten Testament, dass etwas „bedeckt“, „ausgewischt“ oder „wieder gut gemacht“ wird. Die Ungerechtigkeit wird „unwirksam“ oder „nicht existent“ gemacht. Sie wird aus den Augen Gottes weggenommen. Er sieht sie nicht mehr. Elihu sagte zu Hiob: „... so wird er sich seiner erbarmen und sprechen: Erlöse ihn, dass er nicht in die Grube hinabfahre; ich habe eine Sühnung gefunden“ (Hiob 33,24). Gott hat eine gerechte Grundlage gefunden, um mit dem schuldigen Volk in Gnade zu handeln. Das Blut des Opfers befindet sich auf dem Sühndeckel (3. Mose 16,14) und spricht von dem Blut des Lammes Gottes. Nur auf dieser Grundlage ist Sühnung und Vergebung möglich.

Für Israel werden diese drei Punkte Realität werden wenn das, was der große Sühnungstag in 3. Mose 16 prophetisch aussagt, in Erfüllung geht. Die Grundlage für diesen Segen ist mit dem Werk des Herrn am Kreuz gelegt, aber der Segen ist für Israel noch nicht gekommen.

Es ist wichtig zu sehen, dass es hier um die segensreichen Folgen des Werkes des Herrn Jesus für Israel geht und nicht für uns. Natürlich hat das Werk unseres Herrn herrliche Segensfolgen für uns. Wir nehmen die Segnungen des neuen Bundes – der ja mit Israel geschlossen wird – sozusagen vorweg, aber hier geht es ganz konkret um Israel und nicht um uns. Der Hohepriester Kajaphas hatte geweissagt, „dass Jesus für die Nation sterben sollte; und nicht für die Nation allein, sondern damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte“ (Joh 11,51.52). In dieser Aussage werden zwei Gründe für den Tod des Herrn Jesus angegeben. Erstens starb Er für die Nation (Israel) und zweitens im Blick auf uns. Es geht um dieselbe Grundlage, aber dennoch um voneinander getrennte Folgen.33

Voraussetzung für die Wirksamkeit im Blick auf Israel ist, was Daniel in seinem Gebet persönlich getan hat, nämlich ein Bekenntnis in Umkehr und Buße. Das wird sich erfüllen, wenn die 70 Jahrwochen vorüber sind: „Und ich werde über das Haus David und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen gleich der Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt“ (Sach 12,10). Es ist bemerkenswert, dass der Überrest in Jesaja 53 im Rückblick auf den Knecht des Herrn sowohl von den Übertretungen, den Sünden und der Ungerechtigkeit spricht und anerkennt, dass der Messias dafür sterben musste. In Vers 5 erkennen sie, dass Er um ihrer Übertretungen willen verwundet und um ihrer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen wurde. In Vers 12 sprechen sie von der „Sünde vieler“, die Er getragen hat.

Nun folgen drei weitere Ergebnisse, die mit dem zu tun haben, was der Messias dann zustande bringen wird:

  1. Eine ewige Gerechtigkeit einführen (zu bringen): Diese Aussage bezieht sich eindeutig auf das kommende Reich, die „Fülle der Zeiten“34 (Eph 1,10). Es geht um den Zeitpunkt, auf den im prophetischen Kalender Gottes alles hinausläuft. Die „ewige Gerechtigkeit“ meint eine „Gerechtigkeit der Zeitalter“. Es geht nicht um den „ewigen Zustand“ (die Ewigkeit nach der Zeit), wo einmal Gerechtigkeit wohnen wird (2. Pet 3,13), sondern um das Tausendjährige Reich, wo Gerechtigkeit herrscht. Dann wird Jerusalem – die „Gründung des Friedens“ – „Stadt der Gerechtigkeit“ genannt werden (Jes 1,26). Es wird eine wunderbare Zeit sein.35 Davon sprechen die Propheten an manchen Stellen. Dazu drei Beispiele:
    - „Siehe, Tage kommen, spricht der Herr, da ich das gute Wort erfüllen werde, das ich über das Haus Israel und über das Haus Juda geredet habe. In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich David einen Spross der Gerechtigkeit hervorsprossen lassen, und er wird Recht und Gerechtigkeit üben im Land. In jenen Tagen wird Juda gerettet werden und Jerusalem in Sicherheit wohnen; und dies wird der Name sein, womit man es benennen wird: Der Herr, unsere Gerechtigkeit“ (Jer 33,14.15; vgl. Jer 23,5).
    - „Aber meine Rettung wird in Ewigkeit sein, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerschmettert werden. Hört auf mich, die ihr Gerechtigkeit kennt, du Volk, in dessen Herzen mein Gesetz ist ... meine Gerechtigkeit wird in Ewigkeit sein und meine Rettung durch alle Geschlechter hindurch (Jes 51,6–8)
    - „Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, sie, ein Spross meiner Pflanzungen, ein Werk meiner Hände, zu meiner Verherrlichung“ (Jes 60,21).
  2. Gesicht und Propheten versiegeln: Versiegeln bedeutet hier, wie schon vorher, „ein Ende machen“. Darin liegt zweierlei: Erstens werden dann alle Prophezeiungen des Alten Testamentes in Erfüllung gegangen sein.36 Gott wird das erfüllen, was Er vorausgesagt hat. Das schließt die Zusagen des Neuen Bundes mit ein. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das nicht der Fall, d. h. die Weissagungen in ihrer Gesamtheit sind noch nicht zu einem Ende gekommen und erfüllt worden. Zweitens lernen wir, dass es im Tausendjährigen Reich keine Notwendigkeit mehr gibt, durch Gesichte und Offenbarungen zu reden. Der Dienst der Propheten – so nötig er im Alten Testament war – wird dann nicht mehr erforderlich sein. In diesem Sinn werden Gesicht und Propheten versiegelt sein.
  3. Ein Allerheiligstes salben: Etwas zu salben bedeutet, es einzuweihen. Im Alten Testament wurden Gegenstände oder Personen (besonders Priester, Könige und Propheten) gesalbt. Auch das Zelt der Zusammenkunft in der Wüste war gesalbt worden (2. Mo 30,26). So ist es auch hier. Es geht um den Tempel bzw. das Allerheiligste. Es gibt Ausleger, die hier an den Messias (den Gesalbten) denken. Im Textzusammenhang macht das jedoch wenig Sinn. Es ist wahr, dass der Messias heilig ist. Es ist wahr, dass Er zu Beginn seines Dienstes hier auf der Erde gesalbt wurde. Trotzdem kann das hier nicht die Bedeutung sein. Es geht offensichtlich um das Allerheiligste im Tempel, der im Tausendjährigen Reich in Jerusalem stehen wird.37 Die Salbung bezieht sich somit auf die Einweihung des Allerheiligsten im Tempel des Millenniums. Darüber spricht der Prophet Hesekiel in seiner Weissagung ausführlich (vgl. Hes 41–46). Das ganze Haus des Herrn wird wieder ein hochheiliger Ort sein, an dem man Gott die Opfer bringt (Hes 43,12). Dann geht die herrliche Weissagung durch Haggai in Erfüllung: „Die letzte Herrlichkeit dieses Hauses wird größer sein als die erste, spricht der Herr der Heerscharen; und an diesem Ort will ich Frieden geben“ (Hag 2,9).

Vers 25: Die ersten 69 Jahrwochen

Wissen und verstehen

Etwas zu wissen bedeutet, es zu erkennen oder es von etwas zu unterscheiden. Aber das genügte nicht. Daniel sollte es verstehen, d. h. auf seine Situation und Zeitverhältnisse anwenden. Er sollte auf das achten, was ihm jetzt gesagt wurde, weil es von großer Bedeutung sein würde im Blick auf die Fragen, die er hatte. Der Hinweis des Engels ist dabei wohl eher als Aufforderung denn als Feststellung zu verstehen. Daniel besaß große Erkenntnis und Einsicht. Dennoch überstieg das, was ihm hier offenbart wurde, seine Einsicht (vgl. Dan 12,8). In der Anwendung auf uns ist klar, dass wir nicht nur intellektuelles, sondern wirkliches geistliches Verständnis brauchen, um diese – und jede andere – Weissagung richtig zu verstehen und einzuordnen.

Drei Teile

Es ist offenkundig, dass die gesamte Periode von 70 Jahrwochen (490 Jahre) in drei Teile eingeteilt ist. Zunächst ist die Rede von 7 Wochen (49 Jahre), dann von 62 Wochen (484 Jahre), und dann folgt die letzte Jahrwoche (7 Jahre). Der erste Teil bezieht sich auf den Aufbau Jerusalems nach der Rückkehr der Juden aus Babel. Diese Rückkehr fand in verschiedenen Etappen statt.

  1. 536 v. Chr. unter Serubbabel und Josua: Im Mittelpunkt dieser Rückkehr standen der Altar und der Tempel (Esra 1).
  2. 458 v. Chr. unter Esra (Esra 7): Im Mittelpunkt dieser Rückkehr stand das Wort Gottes.
  3. 445 v. Chr. unter Nehemia (Nehemia 2): Im Mittelpunkt dieser Rückkehr standen die Mauer und die Tore der Stadt.

Der Bau der Mauer ging verhältnismäßig schnell voran und dauerte nur 52 Tage (Neh 6,15). Für den Wiederaufbau der Stadt hingegen musste sehr viel mehr Zeit investiert werden. Das geschah in den Jahren 445–395 v. Chr. Danach begann die relativ lange Zeit von 62 Jahrwochen, die bis auf den Messias ging. Schließlich folgt – offensichtlich mit einer Unterbrechung in der Beschreibung – die letzte Jahrwoche, die in den nächsten Versen behandelt wird. Der Text zeigt, dass die ersten 69 Jahrwochen zwar unterteilt sind, aber dennoch eine Einheit bilden, während die letzte Jahrwoche offensichtlich davon separat zu betrachten ist.

Der Beginn der 70 Jahrwochen

Viele Unklarheiten und Fehlinterpretationen in der Auslegung des gesamten Abschnittes beginnen damit, dass man den richtigen Startpunkt der 70 Wochen nicht erkennt. Dabei ist der Text eindeutig. Die 70 Wochen beginnen mit dem Ausgehen des Wortes, Jerusalem wieder aufzubauen. Einige Ausleger, die gerne die komplette Erfüllung der Weissagung bereits in die Zeit der Makkabäer legen wollen, unterstellen hier, dass der Engel auf die Aussage des Propheten Jeremia Bezug nimmt, der bereits vor dem babylonischen Exil davon gesprochen hatte, dass dieses nach 70 Jahren zu Ende sein sollte. Sie beziehen das „Ausgehen des Wortes“ auf dieses Prophetenwort durch Gott. Diese Erklärung wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortet, z. B. was dann die ersten 7 Wochen bedeuten sollen und inwieweit sie sich von den 62 Wochen und der letzten Woche abgrenzen.

Nein, das „Ausgehen des Wortes, Jerusalem zu bauen“ bezieht sich offenkundig auf den königlichen Erlass des Perserkönigs, der es den Juden erlaubte, ihre Stadt Jerusalem wieder zu bauen. Beim Lesen der entsprechenden Bibeltexte müssen wir verschiedene Erlasse unterscheiden:

  1. Der Erlass von Kores (Kyros) 535 v. Chr. (vgl. 2. Chr 36,22.23; Esra 1,1–4; Esra 5,13). Mit diesem Erlass wurde es den Juden erlaubt, den Tempel zu bauen.
  2. Der Erlass von Darius I. 512 v. Chr. (vgl. Esra 6,1.6–12). Dieser Erlass bestätigte den ersten Erlass von Kores. Gegenstand dieser Genehmigung war erneut der Bau des Tempels.
  3. Der Erlass von Artasasta (Artaxerxes Longimanus38 457 v. Chr. (Esra 7,11–26). In diesem Erlass ging es speziell um die Finanzierung des Opferdienstes im Tempel. Das war im siebten Jahr dieses Königs.

    Alle drei Erlasse sagen nichts über den Bau der Stadt. Das ist nicht ohne Bedeutung, denn damit waren diese Erlasse ohne große politische Relevanz. Eine Stadt ohne Stadtmauern war keine wirkliche militärische Bedrohung.
  4. Der vierte Erlass war erneut von Artasasta (Artaxerxes Longimanus) und erfolgte im zwanzigsten Jahr seiner Regierung. Im Allgemeinen gehen Historiker davon aus, dass das im März (Nisan) des Jahres 445 v. Chr. war.39 Der Hintergrund zu dem Erlass ist in Nehemia 2,1–8 nachzulesen. Nehemia hatte den Wunsch, nach Palästina gesandt zu werden, um die Stadt der „Begräbnisse seiner Väter“ wieder aufzubauen (Neh 2,5). Diese Bitte wurde ihm gewährt. Auf diesen vierten Erlass bezieht sich der Text in Daniel 9. Die 70 Jahrwochen nehmen hier ihren Anfang. Das ist fast 100 Jahre später als der erste Erlass von Kyros in 538 v. Chr.

Der Messias

Die ersten 69 Wochen (aufgeteilt in 7 plus 62 Wochen) gehen „bis auf den Messias, den Fürsten“. Diese Zeit hat sich aus unserer Sicht heute komplett erfüllt, d. h. sie ist Vergangenheit. In den ersten 7 Wochen (49 Jahre) wurde Jerusalem neu gebaut, und danach dauerte es 62 Wochen (434 Jahre), bis der Messias kam.

Es kann keinen Zweifel daran geben, wer dieser Messias ist, der hier „Fürst“ genannt wird. Messias bedeutet übersetzt „der Gesalbte“.40 Die Juden waren mit dem Gedanken vertraut, dass bestimmte Personen für eine bestimmte Aufgabe gesalbt oder geweiht wurden. Wie wir schon gesehen haben, spricht das Alte Testament davon, dass Priester, Propheten und Könige gesalbt wurden. Doch es gibt nur einen, der den Titel „der Gesalbte“ verdient, und das ist der Herr Jesus selbst. So war Er in den prophetischen Schriften angekündigt. Hanna erwähnt in ihrem Gebet das „Horn seines Gesalbten“ (1. Sam 2,10). David spricht von dem „Herrn und seinem Gesalbten“ (Ps 2,2). Jesaja sagt, dass der Herr seinen Knecht „gesalbt“ hat (Jes 61,1). In Apostelgeschichte 10,38 erinnert Petrus daran, dass Gott Ihn mit Heiligem Geist und Kraft gesalbt hat. Das nimmt Bezug auf die Taufe am Jordan (vgl. Ps 89,21). Wenn in unserem Vers jedoch von dem Messias die Rede ist, geht es nicht um seine Salbung zum Dienst, sondern um die Herrschaft über sein Königreich. Davon ist die Salbung Davids ein Vorbild, der von Samuel mit dem Horn gesalbt wurde (vgl. 1. Sam 16,1.13).41 Sein Königtum war beständig und weist hin auf das Reich des Messias auf dieser Erde.

Einige Ausleger meinen, in dem Gesalbten einen Hinweis auf Kores zu sehen. In der Tat wird er in Jesaja 45,1 ein „Gesalbter“ des Herrn genannt. Andere Ausleger schlagen Serubbabel vor (sie beziehen sich auf Hag 2,23) oder denken an den Hohenpriester Josua (der in den Büchern Haggai und Sacharja wiederholt genannt wird). Alle drei kommen jedoch nicht in Frage, denn sie würden die komplette Auslegung der 70 Jahrwochen ad absurdum führen. Außerdem werden diese drei nirgendwo als „Fürst“ bezeichnet, was sehr wohl auf den Messias zutrifft.

Der Fürst

Der zweite Ausdruck (Fürst) erklärt hier den ersten (Messias). Der Messias ist der Fürst. Nun gibt es durchaus andere Personen, die im Alten Testament als „Fürsten“ bezeichnet werden, aber nur einer trägt den Titel „der Messias, der Fürst“. Das ist der Herr Jesus, der einmal als „Friedefürst“ über sein Volk herrschen wird (Jes 9,5). David und Salomo schatten seine Regierung vor. Über David lesen wir: „So spricht der Herr der Heerscharen: Ich habe dich von der Weide genommen, hinter dem Kleinvieh weg, damit du Fürst sein solltest über mein Volk Israel“ (1. Chr 17,7). Von Salomo heißt es: „Und sie machten Salomo, den Sohn Davids, zum zweiten Mal zum König und salbten ihn dem Herrn zum Fürsten“ (1. Chr 29,22).

Drangsal der Zeiten

Die gesamte Zeit der ersten 7 und der folgenden 62 Wochen wird nur sehr knapp beschrieben. In dieser Zeit sollten Straßen und Gräben wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in Drangsal der Zeiten. Das nimmt zunächst Bezug auf den Wiederaufbau der Stadt Jerusalem. Es ist nicht ausdrücklich von der Stadtmauer die Rede, sondern es geht um die „Straßen und Gräben“. Es dauerte Jahre, bis diese Arbeit vollendet war, denn Jerusalem war eine komplett zerstörte und verlassene Stadt gewesen. Es war ein großes Werk, die Stadt von Schutt und Ruinen zu befreien und Straßen und Gräben wiederherzustellen. Wir können davon ausgehen, dass sich die ersten 7 Jahrwochen (49 Jahre) darauf beziehen. Es ist die Zeit von 445–395 v. Chr. Dieses Werk geschah in „Drangsal der Zeit“. Dieser Ausdruck verweist auf die Aktivitäten der Feinde, die den Überrest der Juden bedrohten, weil sie ihrerseits eine Bedrohung der Juden befürchteten, wenn die Stadt Jerusalem wieder aufgebaut sein würde.

Der Ausdruck „Drangsal der Zeit“ gilt indes ebenso für die folgenden 62 Jahrwochen, denn in dieser Zeit erlebte die Stadt Jerusalem ebenfalls viel Drangsal. Die Bibel sagt nicht sehr viel über die Ereignisse, die zwischen dem Alten und dem Neuen Testament liegen, doch die geschichtlichen Bücher der Makkabäer berichten darüber ausführlich. Ebenso der jüdische Historiker Flavius Josephus42.

Das Ende der ersten 69 Wochen

Wann ist nun das Ende der ersten 69 Wochen gekommen? Unser Vers sagt: „... bis auf den Messias“. Wir haben gesehen, dass das der Herr Jesus ist. Der nächste Vers macht eindeutig klar, dass es nicht um das Erscheinen des Messias in Macht und Herrlichkeit geht, wenn Er sein Reich auf dieser Erde gründet. Es geht vielmehr um das erste Kommen des Herrn Jesus, als Er zu seinem Volk kam und von diesem abgelehnt wurde (Joh 1,11). Dieses Kommen liegt nun etwa 2.000 Jahre zurück.

Dennoch stellt sich die Frage, worauf genau sich der Ausdruck „bis auf den Messias“ bezieht. Ist die Geburt des Herrn Jesus gemeint? Geht es um die Taufe am Jordan und den Beginn seines öffentlichen Dienstes? Ist sein Einzug in Jerusalem oder gar sein Tod am Kreuz gemeint? Die Gedanken der Ausleger sind hier unterschiedlich. Einige haben versucht, sehr exakt auszurechnen, dass die ersten 69 Jahrwochen (483 Jahre) genau zu dem Zeitpunkt zu Ende gingen, als der Herr Jesus auf einem Esel reitend in die Stadt Jerusalem einzog, dort mit Begeisterung empfangen wurde (Mt 21,1–11) und sich das Wort des Propheten Sacharja erfüllte (vgl. Sach 9,9).43

Dabei muss man berücksichtigen, dass die Juden die Zeit nicht – wie wir – nach dem gregorianischen Kalender mit 365 Tagen pro Jahr (bzw. im Schaltjahr 366 Tagen) rechnen, sondern nach jüdischer Rechnung hat ein Jahr 360 Tage. Diese 360 Tage im jüdischen Kalender werden manchmal als „prophetisches Jahr“ bezeichnet. Nach gregorianischer Rechnung wären es nämlich bis zum Einzug des Herrn in Jerusalem nur 476 Jahre. Was eine genaue Berechnung jedoch ohnehin schwierig macht, ist die Tatsache, dass das Einzugsjahr des Herrn Jesus in Jerusalem nicht exakt zu bestimmen ist. Die besagte Rechnung geht davon aus, dass es im Frühjahr 32 war. Andere nennen hingegen das Jahr 33. Die meisten Gelehrten, die sich intensiv mit biblischer Chronologie beschäftigt haben, kommen jedoch auf das Jahr 30.

Es ist folglich müßig, sich in diesen zum Teil sehr komplizierten Berechnungen zu verlieren, denn die Genauigkeit des prophetischen Wortes hängt davon nicht ab. Tatsache ist, dass die 69 ersten Jahrwochen mit dem Kommen des Herrn Jesus zu Ende gegangen sind. Wie immer man rechnet, man kommt in der Zeit an, als der Herr Jesus auf der Erde lebte. Es mag der Beginn seines Dienstes oder sein Einzug in Jerusalem gewesen sein. Sicher ist hingegen die Tatsache, dass Er nach Ablauf der ersten 69 Wochen ermordet wurde. Diese Phase muss also jedenfalls vor dem Tod des Herrn Jesus zu Ende gegangen sein. Das zeigt der nächste Vers. E. Dennett schreibt dazu Folgendes: „Es muss sorgfältig beachtet werden, dass dieser Ausdruck sehr allgemein ist, weder die Geburt Christi, noch seine Salbung für seinen Dienst, noch sein Tod werden spezifiziert.“44 Andere geschätzte Bibelausleger äußern sich ähnlich, und diesem Gedanken möchte ich mich gerne anschließen.

Vers 26: Die Zeit vor der letzten Jahrwoche

Nach 62 Wochen – eine wichtige Unterbrechung

Es ist schwierig zu verstehen, warum manche Ausleger den Beginn dieses Verses nicht richtig verstehen. Der Engel sagt nicht: „Am Ende der 62 Wochen“. Er sagt auch nicht: „Zu Beginn der 70. Woche“. Der Text lautet: „Nach den 62 Wochen“. Das deutet ganz offensichtlich an, dass zwischen der 69. und der 70. Woche etwas sehr Wichtiges passiert, das den Lauf der Wochen unterbricht. Und genauso ist es. Diese Zwischenzeit beginnt damit, dass der Messias weggetan wird. Sie wird dadurch fortgesetzt, dass ein Volk kommt und die Stadt und das Heiligtum zerstört. Man muss blind sein, um nicht zu sehen, wie sich das in der Geschichte Jerusalems erfüllt hat. Was in Vers 26 steht, gehört weder zu Woche 69 noch zu Woche 70. Erst in Vers 27 wird die letzte Jahrwoche beschrieben.

Bibeltreuen Auslegern wird manchmal der Vorwurf gemacht, diese Unterbrechung der Jahrwochen künstlich zu erdenken. Dem ist nicht so. Der Text lässt keine andere Schlussfolgerung zu. Die Tatsache, dass der Herr Jesus von seinem Volk abgelehnt worden ist, hat einen Bruch in der Geschichte des Volkes der Juden hervorgerufen. Der Grund der Unterbrechung ist der Mord an dem ihnen von Gott „zuvor bestimmten Christus Jesus“ (Apg 3,20). Man wollte Ihn nicht haben. Da es um die Geschichte der Juden geht, wird über die Zwischenzeit hier nicht viel gesagt. Es wird lediglich über die Zerstörung von Stadt und Heiligtum gesprochen. Danach ist die Rede von der überströmenden Flut und dann von Krieg, Festbeschlossenem und Verwüstungen. Es ist also sehr deutlich, dass es eine Unterbrechung geben wird. Im Neuen Testament wird deutlich, dass das christliche Zeitalter in diese Unterbrechung fällt. Diese Zeit ist jedoch außerhalb des prophetischen Gesichtsfelds und wird im Alten Testament nicht behandelt.45 Es ist die Zeit, in der „Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“ (Röm 11,25). Erst nach der Aufnahme der Gläubigen in den Himmel (Entrückung) wird Gott sich Israel wieder zuwenden. Danach beginnt die letzte Jahrwoche.

Der Messias wird weggetan

Die Ursache für die Unterbrechung und die Zerstörung Jerusalems ist gerade diese Tatsache, dass der Messias weggetan worden ist. Das Volk Israel hat in seiner Geschichte zwei große Sünden begangen, für die Gott sie mit Gericht bestraft hat:

  • Sie haben fremden Göttern gedient. Dieser Götzendienst fand seinen Höhepunkt am Ende der Zeit der Könige von Juda. Darauf folgte die erste Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar.
  • Sie haben gemeinsam mit den Nationen (den Römern) den Messias ermordet. Das Gerichtsurteil wurde von einem Römer (Pilatus) gesprochen, aber die Drahtzieher dahinter waren die religiösen Führer der Juden. Petrus weist in Apostelgeschichte 4,27 ausdrücklich darauf hin, dass das genau „in dieser Stadt“ (Jerusalem) geschehen ist. Darauf erfolgte die zweite Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. Unter den Folgen dieser Sünde leiden die Juden bis in die Zeit des Endes. Das Volk selbst hat das Gericht Gottes provoziert, indem sie riefen: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Mt 27,25).

Der Messias wird erstens „weggetan“ oder „ausgerottet“ oder „verdorben“ werden. Jemanden „wegtun“ oder „ausrotten“ kann bedeutet, dass er als ein Krimineller zum Tod verurteilt wird. Damit wird die Kreuzigung durch die Juden beschrieben, die seine Mörder wurden und damit die größte Schuld auf sich luden (Apg 7,52). In Jesaja 53,8 heißt es: „Er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebendigen.“46

Der Messias wird zweitens „nichts haben“. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten der Übersetzung:

  1. „Es wird nicht für ihn selbst sein“: Das heißt, dass andere Nutznießer seines Todes sein werden. Gerade als der „Gesalbte“ (Messias) hatte Er einen Anspruch auf die königliche Würde, ein Recht darauf, dass man Ihn ehrte und anerkannte. Zugunsten anderer hat Er auf alles bewusst verzichtet. Er hat in diesem Sinn „alles verkauft, was er hatte“ (Mt 13,46). Was Er fand, war Ablehnung, Hohn, Spott, Schmach, Schande und am Ende ein Kreuz. Er starb nicht für seine eigene Sünde, sondern für die Schuld anderer. Der Überrest wird einmal sagen: „Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden“ (Jes 53,5).
  2. „Es scheint, als ob alles umsonst gewesen ist“: Das heißt, der Messias ist gestorben, ohne etwas erreicht zu haben. Damit wäre der Tod des Messias umsonst gewesen und Er wäre mit leeren Händen gestorben. Aber der Eindruck täuscht, denn in der Auferstehung kehrt Er mit reicher Frucht zurück. Im Blick auf Israel gilt: „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten. Er geht hin unter Weinen und trägt den Samen zur Aussaat; er kommt heim mit Jubel und trägt seine Garben“ (Ps 126,5.6).
  3. „Es wird nicht gegen ihn sein“: Das zeigt seine Unschuld. Viele Juden damals glaubten, dass Jesus wegen seiner eigenen Sünde und Übertretung sterben musste. Das Gegenteil war der Fall. Dieser Punkt wird in Jesaja 53 besonders unterstrichen. Dort lernt der Überrest, dass der Messias nicht für seine eigene Schuld starb, sondern unschuldig war. Sie kommen schließlich zu dem Bekenntnis: „Und man hat sein Grab bei Gottlosen bestimmt; aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod, weil er kein Unrecht begangen hat und kein Trug in seinem Mund gewesen ist“ (Jes 53,9).

Alle drei Übersetzungsvarianten widersprechen einander nicht, sondern sie ergänzen sich wunderbar.

Stadt und Heiligtum werden erneut zerstört

Für Daniel muss die nun folgende Konsequenz der Ablehnung des Messias durch sein Volk ein Schock gewesen sein. Sein Gebet betraf das Volk, die Stadt und das Heiligtum. Er hatte sehr unter der Zerstörung durch die Babylonier gelitten und wusste, dass es – aus seiner Sicht – in Kürze eine Wiederherstellung geben sollte. Nun muss er lernen, dass es eine erneute Zerstörung durch ein Volk geben würde, das hier das „Volk des kommenden Fürsten“ genannt wird.

J. N. Darby schreibt: „Als der Messias weggetan wurde, war der Zeitpunkt für die Wiederherstellung des Volkes und der Stadt noch nicht gekommen. Die Folge jenes Ereignisses wird deutlich angekündigt. Ein Zeitraum der Verwüstung, der bis zum Ende fortdauert; wie lang er ist, wird nicht angegeben.“47 W. Kelly sagt: „Der Gedanke ist, dass der Messias – anstatt von seinem Volk angenommen zu werden und den versprochenen Segen am Ende der 70 Wochen zu bringen – nach 69 Wochen weggetan (wörtlich: abgeschnitten) wurde und nichts hatte. Die vollständige Ablehnung des Messias durch sein eigenes Volk wird in diesen Worten angedeutet. Und dann folgt die Konsequenz. Der Schlüssel wird uns jetzt gegeben und erklärt die Schwierigkeit, warum die 69 Wochen von der siebzigsten getrennt sind. Der Tod Christi hat die Kette durchtrennt und einen Bruch in die Beziehung des Volkes Israel mit seinem Gott gebracht.“48

Statt Gerechtigkeit und Frieden ist nun die Rede von Krieg, Festbeschlossenem und Verwüstungen. Hätte das Volk damals ihren Messias in Erkenntnis der eigenen Schuld und in Buße als König angenommen, hätten sie sich diese furchtbare Zeit erspart. Dann wäre das Reich sofort gekommen und hätte „Zeiten der Erquickung“ gebracht (Apg 3,20). Doch leider hatten sie die „Zeit ihrer Heimsuchung“ nicht erkannt (Lk 19,44). Die Folgen werden nun beschrieben.

Wer ist nun das Volk des kommenden Fürsten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir sehen, wer der Fürst ist. Obwohl im vorherigen Vers der Messias als Fürst bezeichnet wird, kann es sich hier unmöglich um den Messias handeln, denn das Volk des Messias sind die Juden, und diese werden wohl kaum ihre eigene Stadt und das Heiligtum zerstören. Bei dem Volk des kommenden Fürsten kann es sich auch nicht um die Christen handeln, denn die Geschichte der Christen wird hier nicht behandelt. Der kommende Fürst ist ein anderer. Es handelt sich um den römischen Weltherrscher, der in einer noch zukünftigen Zeit in Erscheinung tritt und dem wir bereits mehrfach im Buch Daniel begegnet sind (z. B. als das kleine Horn in Kapitel 7,8). Es ist das „Tier aus dem Meer“ in Offenbarung 13,1. Er wird „Fürst“ genannt, weil er eine gewaltige – wenngleich dämonische – Autorität ist. Dabei fällt auf, dass unser Vers nicht von dem spricht, was dieser „Fürst“ selbst tun wird, sondern die Rede ist davon, was das Volk dieses Fürsten tun wird. Das Volk dieses Fürsten sind die Römer. Jede andere Auslegung kann nur falsch sein. E. Dennett schreibt: „Das Volk wird hier mit dem Fürsten identifiziert, weil sie Römer sind, d. h. aus demselben Königreich, das einmal wieder in Erscheinung treten wird, und dessen Führer und Regent dieser Fürst sein wird.“49

Die Prophezeiung hat sich erfüllt: Im Jahr 70, etwa 40 Jahre, nachdem die Juden den Messias abgelehnt und getötet hatten, kamen römische Truppen und überfluteten Jerusalem. Sie zerstörten sowohl die Stadt als auch den Tempel. Befehlshaber der römischen Truppen war ihr Feldherr Titus. Dennoch ist er nicht der kommende Fürst. Die Geschichtsschreibung des jüdischen Historikers Flavius Josephus macht deutlich, dass es gerade Titus war, der die Stadt und vor allem den Tempel eigentlich nicht zerstören wollte. Es waren seine Soldaten, die das Heiligtum – gegen seinen ausdrücklichen Befehl – in Brand steckten und vernichteten. So ging in Erfüllung, was der Herr Jesus vorausgesagt hatte (Mt 24,2) und was die Juden selbst provoziert hatten, als sie riefen: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ (Mt 27,25).

Es klingt fast wie göttliche Ironie, dass Gott auf diese Weise die Worte des gottlosen Hohenpriesters in Erfüllung gehen ließ, jedoch anders, als dieser gedacht hatte. Kurz vor der Kreuzigung des Messias hatte Kajaphas gesagt: „Wenn wir ihn so gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und sowohl unseren Ort als auch unsere Nation wegnehmen“ (Joh 11,48). Das bewahrheitete sich nun, aber eben nicht, weil man Ihn aufnahm und „gewähren ließ“, sondern gerade, weil man Ihn ablehnte und ermordete hatte. Somit war ein vorübergehender Schlussstrich unter die Geschichte der Juden gezogen. Von diesem Ende ist hier die Rede. Jahrhundertelang gab es dieses Volk und ihren Staat nicht. Auch das hatte der Herr Jesus vorausgesagt: „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen“ (Mt 23,38).

Das Ende: die überströmende Flut, Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen

Die folgende Aussage weist auf das Ende hin. Der Satz ist nicht einfach zu übersetzen. Einige lesen ihn so: „Und die Stadt und das Heiligtum wird durch das Volk des Fürsten zerstört, welcher kommen und dessen Ende in der überströmenden Flut sein wird.“ Dann würde sich das „Ende“ auf die Römer beziehen, die erst Jerusalem zerstörten und dann später selbst vernichtet wurden. Diese Auslegung erscheint unwahrscheinlich, weil es hier gerade um die Geschichte Jerusalems und der Juden geht und nicht vordergründig um die Geschichte der Nationen.

Hinzu kommt, dass der Ausdruck „bis ans Ende“ im Buch Daniel eigentlich immer auf das Ende der „Zeiten der Nationen“ hinweist, d. h. auf eine Zeit, die immer noch zukünftig ist. Der Vers fasst hier wie in einem Zeitraffer viele Jahrhunderte (mindestens 2.000 Jahre) zusammen und beschreibt sie mit den drei Worten:

  • Krieg
  • Festbeschlossenes
  • Verwüstungen

Das ist es, was die Juden und was Jerusalem in dieser langen Zeit erlebt haben. Das war so bis zur Staatsgründung Israels 194850, es ist heute nicht anders, und es wird die Zukunft bis zum Kommen des Messias in Macht und Herrlichkeit kennzeichnen. Die Geschichte Jerusalems in dieser Zeit ist eine sehr bewegte Geschichte. Jerusalem ist ein Spielball der Nationen gewesen, und die Auseinandersetzungen um diese Stadt dauern an. Doch selbst in dieser Zeit hat Gott seine Hand darin gehabt. Es geschieht nur das, was von Ihm beschlossen wird. Der Beschluss Gottes umfasst eben nicht nur Segen für sein Volk, sondern auch Gericht. Der Herr Jesus selbst hatte gesagt: „Und sie werden fallen durch die Schärfe des Schwertes und gefangen weggeführt werden unter alle Nationen; und Jerusalem wird von den Nationen zertreten werden, bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind“ (Lk 21,24).

Es ist die berechtigte Frage gestellt worden, ob das Ende von Vers 26 bereits zur letzten Jahrwoche gehört oder nicht. Der Ausdruck „bis ans Ende“ könnte darauf hindeuten, und es gibt gute Argumente für diese Ansicht. Allerdings scheinen die Argumente für die Ansicht, Vers 26 komplett vor die letzte Jahrwoche zu legen, ebenso gut zu sein. Es heißt nicht „am Ende“, sondern „bis ans Ende“. Auf diese Weise wird die Zeitperiode beschrieben, die dann unmittelbar das Ende einleitet. Deshalb habe ich weiter oben den Ausdruck „Zeitraffer“ gebraucht.

Vers 27: Die letzte Jahrwoche

Der Blick in die Zukunft

Mit Vers 27 beginnt nun der Blick in die Zukunft, d. h. in die Endzeit. Das Ende ist nun gekommen, wir befinden uns jetzt in der letzten Jahrwoche, deren Ereignisse in sehr knapper Form zusammengefasst werden. Diese Zeit beträgt sieben Jahre und ist aufgeteilt in eine erste und in eine zweite Hälfte. Diese gesamte letzte Zeit wird oft die „Endzeit“ oder die „große Drangsalszeit“ (Trübsal) genannt. Beide Ausdrücke sind zwar biblisch, müssen aber richtig verstanden werden:

  1. Der Ausdruck „Zeit des Endes“ (Endzeit) kommt ausschließlich im Buch Daniel vor (Kap 8,17.19; 11,35.40; 12,4.9). Gemeint ist tatsächlich die letzte Jahrwoche Daniels, und das mit Bezug auf das irdische Volk Gottes. In Bezug auf die Zukunft Europas und der Nationen wird dieser Ausdruck nicht gebraucht.51
  2. Die „große Drangsal“ hat ebenfalls mit dem irdischen Volk Gottes zu tun und nimmt konkret Bezug auf die letzten 3 ½ Jahre der letzten Jahrwoche Daniels. Jeremia 30,7 spricht von einer „Zeit der Drangsal für Jakob“. Der Herr Jesus selbst sagt von dieser Zeit: „Dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird (Mt 24,21).52

Damit diese letzte Jahrwoche beginnen kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Die Entrückung der Gläubigen (1. Thes 4,13–18) hat stattgefunden. Erst dann hört die Unterbrechung der 70 Jahrwochen auf.53 Wann genau das sein wird, wissen wir nicht. Wir haben die Zusage des Herrn Jesus, dass Er bald kommen wird. Deshalb kann der Beginn dieser letzten Jahrwoche nicht mit einer Jahreszahl benannt werden.
  2. Es gibt ein wiederhergestelltes römisches Reich mit einem Fürsten (Führer, Oberhaupt) an der Spitze. Es ist der römische Weltherrscher, das „Tier aus dem Meer“ (Off 13,1).
  3. Die Juden werden im Land Palästina wohnen und einen König über sich haben, den wir als den Antichrist kennen. Es ist das „Tier aus der Erde“ (Off 13,11).
  4. Die Juden im Land werden von Feinden bedroht und können sich selbst nicht verteidigen. Sie sind auf Unterstützung aus Europa angewiesen.
  5. In Jerusalem wird wieder ein Tempel stehen, in dem Opferdienst gebracht wird.

Ein Bund mit den Vielen

Wir wollen zunächst drei Fragen beantworten. Erstens, wer der besagte „Er“ ist, zweitens wer „die Vielen“ sind, und drittens, was es mit dem „Bund“ auf sich hat.

  1. Über die Frage, wer der besagte „Er“ ist, hat es unterschiedliche Ansichten gegeben. Man hat z. B. an Antiochus Epiphanes gedacht. Diese (falsche) Erklärung braucht man, wenn man den Vers historisch in die Zeit vor die Geburt Christi legen will. Man hat zweitens an Christus selbst gedacht. Diese (ebenso falsche) Erklärung braucht man, wenn man die Erfüllung in die Zeit des Lebens des Herrn Jesus auf dieser Erde legen will. Man hat drittens an den Antichrist gedacht. Nur ist diese Erklärung ebenfalls nicht schlüssig, weil dann offen bleiben muss, wer die „Vielen“ sind, mit denen der Bund geschlossen wird. Es ist vielmehr naheliegend, an den zu denken, der im Vers vorher genannt worden ist, und das ist der „kommende Fürst“, d. h. das römisch-europäische Staatsoberhaupt. Nun ist nicht länger von dem „Volk des kommenden Fürsten“ die Rede, sondern er selbst tritt in den Vordergrund. Diese Erklärung passt am besten in den Zusammenhang.
  2. Die „Vielen“ (die Menge, die Masse) ist ein Ausdruck, der für die Juden gebraucht wird. Wo jedoch „viele“ sind, gibt es immer einen Überrest. Das sind die wenigen Juden, die den Antichrist nicht als Messias (Christus) anerkennen, sondern auf den wahren Messias warten. Es geht also nicht um das gesamte Volk der Juden, sondern nur um den größten Teil. Der Ausdruck wurde schon einmal in Kapitel 8,25 gebraucht und beschreibt dort ebenfalls das Volk Daniels. In Kapitel 11,33.39 und 12,3 finden wir den Ausdruck erneut. Es geht immer um eine Masse der Juden, seien es Gläubige oder – wie hier – Ungläubige.
  3. Der Bund (Vertrag) wird in erster Linie ein Verteidigungsbündnis sein (man kann von einem Freundschafts- oder Friedensbündnis) sprechen. Es geht nicht um „den Bund“ Gottes mit seinem Volk, sondern um „einen Bund“ (der bestimmte Artikel fehlt), den die völlig von Gott abgefallene Masse der Juden unter Führung des Antichrists mit dem römisch-europäischen Weltherrscher eingehen wird. Die Juden brauchen diesen Bund zum Schutz vor der Bedrohung durch Feinde – besonders gegen die Macht aus dem Norden (Assyrien oder Syrien).

Dieser Bund wird offensichtlich für sieben Jahre geschlossen, d. h. er umfasst die komplette Zeit des Endes. Die Bibel spricht an anderen Stellen ebenfalls von diesem Bund. In Jesaja 28 lesen wir Folgendes:

„Darum hört das Wort des Herrn, ihr Spötter, Beherrscher dieses Volkes, das in Jerusalem ist! Denn ihr sprecht: Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen und einen Vertrag mit dem Scheol gemacht: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, wird sie an uns nicht kommen; denn wir haben die Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in der Falschheit uns geborgen ... Und euer Bund mit dem Tod wird zunichtewerden, und euer Vertrag mit dem Scheol nicht bestehen: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, so werdet ihr von ihr zertreten werden. Sooft sie hindurchfährt, wird sie euch wegraffen; denn jeden Morgen wird sie hindurchfahren, bei Tag und bei Nacht ... Und nun treibt nicht Spott, damit eure Fesseln nicht fester gemacht werden; denn ich habe Vernichtung vernommen und Festbeschlossenes von Seiten des Herrn, des Herrn der Heerscharen, über die ganze Erde“ (Jes 28,14–22).

Gott nennt das Bündnis einen „Bund mit dem Tod“ und einen „Pakt mit dem Scheol“. Die Juden sind der Meinung, durch diesen Vertrag geschützt zu sein, doch der Vertrag wird nicht halten. Er wird für viele den Tod bringen. Außerdem ist es ein satanischer Pakt, weil hinter den handelnden politischen Personen der Teufel steckt.

Zur Hälfte der Woche hören Schlacht- und Speisopfer auf

Der Ausdruck „zur Hälfte der Woche“ ist bedeutsam und zeigt, dass die letzte Jahrwoche in zwei Teile zu je 3 ½ Jahren aufgeteilt ist. Der Zeitpunkt in der Mitte markiert einen besonderen Wendepunkt der dramatischen Zeit des Endes. Dort beginnt die eigentliche „große Drangsal“ für die Juden. Diese Zeit wird beschrieben durch die Ausdrücke „Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit“ (siehe Dan 7,25; 12,7; Off 12,14) oder auch 42 Monate (Off 11,2; 13,5) oder 1.260 Tage (Off 11,3; 12,6).54

Eines der ganz entscheidenden Ereignisse für die Endzeit geschieht etwa in der Mitte der letzten Jahrwoche. Der Satan wird aus dem Himmel auf die Erde geworfen. Von da an wird er keinen Zugang mehr zum Himmel haben. Sein Sturz wird ausführlich in Offenbarung 12,7–12 beschrieben.55 Danach ist die Erde sein einziger Aufenthaltsort. Die Folgen dieses einschneidenden Ereignisses liegen auf der Hand: Satan wird nun direkt und unmittelbar die Feinde Gottes und die großen politischen und religiösen Mächte inspirieren und steuern. Das sind besonders der Antichrist und das europäische Staatsoberhaupt (die beiden Tiere aus Offenbarung 13). Beide werden dämonisch besessen sein und so mit dem Teufel eine Art „satanische Dreieinheit“ bilden. Satan weiß sehr wohl, dass er nicht viel Zeit hat (eben nur 3 ½ Jahre). Das wird ihn besonders wütend machen. Es wird ihn gegen diejenigen aufbringen, die an den Messias glauben und auf Ihn warten, d. h. gegen den gläubigen Überrest der Juden.

Eine unmittelbare Folge dieses beschriebenen Ereignisses ist, dass der Opferdienst im Tempel abrupt aufhören wird (Dan 9,27). Offensichtlich gibt es zu diesem Zeitpunkt wieder einen Tempel in Jerusalem und einen Opferdienst.56 Das wird in Offenbarung 11,1 bestätigt. Dort sollte der Tempel Gottes, der Altar und die, die darin anbeten, gemessen werden. Der Opferdienst wird durch den Ausdruck „Schlachtopfer und Speisopfer“ (d. h. blutige und nicht blutige Opfer) beschrieben. Wer diesen Opferdienst ausübt, wird nicht gesagt. Es mögen die gläubigen Juden sein, es mögen auch ungläubige Juden sein, die sich auf den äußeren Opferdienst beschränken. In der ersten Hälfte der letzten Jahrwoche wird dieser Opferdienst geduldet. Diese Toleranz endet nach 3 ½ Jahren. Der Opferdienst hört auf. Das ist es, was wir in Daniel 7,25 gefunden hatten: „Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und die Heiligen der höchsten Örter vernichten; und er wird darauf sinnen, Zeiten und Gesetz zu ändern, und sie werden eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit in seine Hand gegeben werden.“

Von diesem Zeitpunkt an wird es im Herrschaftsgebiet der beiden Tiere nur noch eine Religion geben. Der Antichrist wird unter der Regie des römischen Herrschers dafür sorgen, dass es keine jüdische Religion alter Prägung mehr gibt. Er leugnet, dass Jesus der Messias ist. Es ist der falsche Messias, den die Masse der Juden annehmen und dem sie folgen wird (Joh 5,43).57 Er wird sie betrügen, und sie werden glauben, dass er der Messias ist.

Das Ende des Opferdienstes ist die Voraussetzung für das, was nun weiter folgt, nämlich ein Götzenkult, wie es ihn vorher nie gegeben hat.

Die Beschirmung der Gräuel

Der nächste Satzteil ist weder einfach zu übersetzen, noch ist er einfach zu verstehen. Dabei geht es besonders um die drei Begriffe:

  • Gräuel
  • Beschirmung
  • Verwüstung

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Ausdruck zu übersetzen58 und demzufolge verschiedene Varianten der Auslegung. Wir wollen deshalb versuchen, ihn Stück für Stück richtig zu verstehen. Zunächst einige Erklärungen zu dem Ausdruck „Gräuel“.

  1. Unstrittig ist, dass es sich bei dem Gräuel um einen Götzen bzw. ein Götzenbild (einen Gräuelgötzen) handelt. Gott hatte seinem Volk eindeutig verboten, solche Götzenbilder zu machen und sie zu verehren. „Verflucht sei der Mann, der ein geschnitztes oder gegossenes Bild macht, einen Gräuel vor dem Herrn, ein Machwerk von Künstlerhand, und es im Geheimen aufstellt!“ (5. Mo 27,15).
  2. Nachdem der Gottesdienst im Tempel aufgehört hat, verfällt das Volk der Juden wieder in die „alte Sünde“ des Götzendienstes. Es war gerade diese Sünde, die sie bis zur babylonischen Gefangenschaft immer wieder geprägt hatte und derentwegen der Zorn Gottes über sie gekommen war. Nun verfallen sie dem Götzendienst sogar in einer bisher nie dagewesenen Weise. Im Tempel Gottes, wo Gott Anbetung gebracht werden sollte, wird dieser Gräuelgötze aufgestellt.
  3. Es wird in unserem Vers nicht genau gesagt, um welchen Götzen es sich handelt und wer ihn aufstellt. Darüber geben andere Stellen Auskunft. In Offenbarung 13 lesen wir von dem zweiten Tier, dem Antichrist: „Und es tut große Zeichen, ... indem es die, die auf der Erde wohnen, auffordert, ein Bild dem Tier zu machen, das die Wunde des Schwertes hat und wieder lebendig wurde. Und es wurde ihm gegeben, dem Bild des Tieres Odem zu geben, damit das Bild des Tieres sogar redete und bewirkte, dass alle getötet wurden, die das Bild des Tieres nicht anbeteten“ (Off 13,13–15). Es ist also der Antichrist, der falsche Prophet, der dieses Götzenbild aufstellen lässt, um den römischen Weltherrscher anzubeten. Und nicht nur das. 2. Thessalonicher 2,4 macht klar, dass dieser „Mensch der Sünde“ sich selbst sogar als Gott darstellt: „... der widersteht und sich erhöht über alles, was Gott heißt oder verehrungswürdig ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“. Das ist der Höhepunkt allen Götzenkultes, den diese Erde je erlebt hat, und eine freche Provokation Gottes.59
  4. Der Herr Jesus selbst hat von diesem schrecklichen Götzenbild gesprochen: „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es –, dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen;60 ... denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird“ (Mt 24,15–21). Der Zeitpunkt, zu dem dieses Götzenbild aufgestellt wird, markiert den eigentlichen Beginn der „großen Drangsal“. Der Herr Jesus nimmt damit Bezug auf eine Weissagung Jeremias: „Wehe, denn groß ist jener Tag, ohnegleichen, und es ist eine Zeit der Drangsal für Jakob!“ (Jer 30,7). Gott nutzt diese Zeit, um sein Volk zu läutern und zu reinigen (vgl. Jes 48,10).
  5. Am Ende des Buches Daniels lesen wir noch einmal von diesem Götzenbild. Dort „ersetzt“ es ebenfalls den bisherigen Opferdienst im Tempel: „Und von der Zeit an, da das beständige Opfer abgeschafft wird, und zwar um den verwüstenden Gräuel aufzustellen, sind 1.290 Tage.“ Wir werden bei der Betrachtung von Kapitel 12 darauf zurückkommen.61

Zweitens haben wir den Ausdruck „Beschirmung“. Er bedeutet wörtlich „Flügel“. Das führt zu zwei verschiedenen Auslegungen, die bei bibeltreuen Auslegern zu finden sind:

  1. Wörtliche Erklärung: Diese Auslegung fußt auf der Lesart: „Auf dem Flügel: Gräuel der Verwüstung“. Unter „Flügel“ kann man dann entweder einen Flügel des Tempels verstehen oder einen der Flügel der großen Cherubim, die im Tempel standen. Das bedeutet, dass dieses Götzenbild entweder auf einem der Tempelflügel oder in der Nähe der Cherubim aufgestellt sein wird.
  2. Symbolische Erklärung: Diese Auslegung fußt auf der Lesart: „Auf dem Flügel der Gräuel: ein Verwüster“. Das Wort Flügel bedeutet dann „Beschirmer“ oder „Beschützer“. Ein Flügel ist ein bekanntes Symbol für Schutz und Sicherheit. Das Volk der Juden sucht Zuflucht bei einem „Beschirmer“, weil es selbst die Sicherheit seines Landes nicht gewährleisten kann. Dieser „Beschirmer“ ist vordergründig das römische Reich, dahinter steht jedoch satanische und dämonische Macht, denn sowohl der römische Herrscher als auch der Antichrist werden satanisch inspiriert sein. Obwohl es zunächst so aussieht, wird dieser Beschützer die Sicherheit nicht gewährleisten können. Ein Verwüster wird kommen.

Beide Varianten der Auslegung widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich. Im Tempel gibt es einen Gräuelgötzen und deshalb kommt der Verwüster. Das führt uns zu dem dritten Ausdruck, dem „Verwüster“.

Dieser Verwüster ist niemand anderes als der „Assyrer“ (der „König der Nordens“; Dan 11,40–45). Es ist das kleine Horn aus Kapitel 8,23–25. In Jesaja 28,18.19 lesen wir: „Und euer Bund mit dem Tod wird zunichtewerden, und euer Vertrag mit dem Scheol nicht bestehen: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, so werdet ihr von ihr zertreten werden. Sooft sie hindurchfährt, wird sie euch wegraffen; denn jeden Morgen wird sie hindurchfahren, bei Tag und bei Nacht.“ Die „überflutende Geißel“ ist ein Synonym für diesen nördlichen Feind, Assyrien (oder Syrien).

Dieser alte Feind Israels wird das Land überschwemmen – und zwar plötzlich und unerwartet – und große Not über die Juden bringen. Weil die Juden als Gipfel der Bosheit Schutz bei den Götzen suchen und das Bild des römischen Herrschers anbeten, kommt der Assyrer als Zuchtrute Gottes (Jes 10,5). Der „Bund mit dem Tod“ und der „Vertrag mit dem Scheol“ hält nicht.62 Das Land und die Stadt werden überschwemmt und verwüstet werden.

Einige Ausleger äußern den Gedanken, dass der Verwüster das Götzenbild selbst aufstellen wird. Sie sprechen von dem „Gräuelgötzen des Verwüsters“. Obwohl diese Übersetzung sprachlich möglich ist, scheint das nicht der Punkt zu sein, denn es würde nicht der Tatsache Rechnung tragen, dass der Antichrist das Götzenbild aufstellt. „Gräuel der Verwüstung“ ist deshalb besser so zu verstehen, dass das Aufstellen des Götzen Verwüstung über Jerusalem und Juda bringen wird. So haben wir es in Jesaja 28 gelesen.

Vernichtung und Festbeschlossenes werden über das Verwüstete ausgegossen

Der Verwüster kommt und bringt Vernichtung und Festbeschlossenes. Davon lesen wir in Jesaja 8,7: „Darum, siehe, lässt der Herr die Wasser des Stromes, die mächtigen und großen, über sie heraufkommen – den König von Assyrien und all seine Herrlichkeit; und er wird über alle seine Betten steigen und über alle seine Ufer gehen. Und er wird in Juda eindringen, überschwemmen und überfluten; bis an den Hals wird er reichen. Und die Ausdehnung seiner Flügel wird die Breite deines Landes füllen, Immanuel“ (Jes 8,7.8). Gott selbst schickt diesen Verwüster und bringt damit Gericht über die gottlosen Juden. Das Gericht wird so lange andauern, wie Gott es bestimmt, nämlich „bis Vernichtung und Festbeschlossenes“ ausgegossen ist. Viele Juden werden in dieser Zeit sterben. J. N. Darby schreibt: „Nachdem sich darauf die Juden unter den Schutz von Götzen gestellt haben und somit dieser unreine Geist des Götzendienstes, der vor langer Zeit von dem Volk ausgetrieben worden war, wieder mit sieben anderen Geistern, böser als er selbst, bei ihm eingezogen ist, kommt der Verwüster, und es werden die letzten Strafgerichte über das Volk verhängt.“63

Von Gott aus ist dieses Gericht fest beschlossen. Es ist Teil seines Ratschlusses, so dass es kein Entkommen geben wird. Wir denken gerne an die segensreichen Zusagen Gottes an sein Volk, sollten dabei nur nicht vergessen, dass Gott ebenso Gericht angekündigt hat. Vor diesem Gericht gibt ein kein Entkommen.64 „Denn der Herr, der Herr der Heerscharen, vollführt Vernichtung und Festbeschlossenes inmitten der ganzen Erde“ (Jes 10,23). „Und nun treibt nicht Spott, damit eure Fesseln nicht fester gemacht werden; denn ich habe Vernichtung vernommen und Festbeschlossenes von Seiten des Herrn, des Herrn der Heerscharen, über die ganze Erde“ (Jes 28,22). Der Ausdruck „Festbeschlossenes“ kommt im Alten Testament fünf Mal vor (Jes 10,23; 28,22; Dan 9,26.27; Dan 11,36).

Vernichtung und Festbeschlossenes werden über das Verwüstete ausgegossen werden. Einige Ausleger beziehen das auf das Ende des Assyrers, d. h. dass der Verwüster am Ende selbst verwüstet wird. Es ist unstrittig, dass dieser Feind aus dem Norden am Ende in der Tat gerichtet werden wird (Dan 11,45), nur ist es fraglich, ob das an dieser Stelle gemeint ist. Der Zusammenhang deutet vielmehr darauf hin, dass „das Verwüstete“ hier wohl Jerusalem meint.65 Diese Stadt wird betrübt, verlassen und hoffnungslos sein (vgl. Jes 54,1–10, wo Gott über die Vergangenheit Jerusalems spricht). Vernichtung und Festbeschlossenes wird gerade über diese Stadt ausgegossen werden, wo man diesen Gräuelgötzen aufgestellt hat. Das stimmt völlig mit dem bereits zitierten Vers aus Jesaja 28,22 überein.

Ein abruptes Ende

Die Worte des Engels enden scheinbar abrupt. Mehr hat er nicht zu sagen. Man hätte vielleicht an dieser Stelle ein Wort des Ausblicks oder der Hoffnung erwartet, wie wir das an anderen Stellen in den Propheten häufig finden. Hier ist es anders. Der göttliche Bote spricht nicht von dem Gericht über den Antichrist, den römischen Herrscher und den Verwüster. Er erwähnt nicht das kommende Reich, von dem er allerdings am Anfang in Vers 24 gesprochen hatte. Das alles wird kommen, aber es ist in der Antwort des Engels nicht das Ende. Wir können uns gut vorstellen, was das für Daniel bedeutet hat. Die Geschichte Jerusalems würde eine sehr schwere Geschichte sein. Das angekündigte Ende der babylonischen Gefangenschaft und der Wiederaufbau von Stadt und Heiligtum hatten keinen endgültigen Charakter. Was Jerusalem bereits erlebt hatte, war für Daniel sehr schlimm. Was noch über die Stadt kommen würde, sollte ungleich schlimmer sein.

Daniel stellt keine weiteren Fragen. Es war nicht Neugierde, die ihn bewegte. Daniel reagiert wieder anders, als wir es wahrscheinlich getan hätten. Er fragt nicht, wie es weiter gehen würde. Er ist vielmehr von Trauer erfüllt. Damit beginnt Kapitel 10. In dem dann folgenden letzten Gesicht (Kapitel 10–12) bekommt Daniel allerdings Auskunft darüber, wie es weiter gehen würde. Es ist eine Geschichte von großer Mühsal (Dan 10,1), und doch ist es eine Geschichte, in der Gott am Ende mit seinem Volk zum Ziel kommt.

Fußnoten

  • 1 Kelly, W.: Notes on the Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 2 Hole, F. B.: Commentary on Daniel (www. biblecentre.org). W. Kelly merkt dazu Folgendes an: „Obwohl Daniel das ganze Versagen vor Gott ausbreitet und sich auf seine Barmherzigkeit beruft, spricht er an keiner Stellen von den Verheißungen, die Abraham gegeben worden waren. Er geht nicht weiter als das, was zu Mose gesagt worden war. Das ist interessant und wichtig. Es ist die Antwort für alle, die glauben, dass die Wiederherstellung Israels, die damals stattfand, die Erfüllung der Verheißungen an Abraham war. Daniel stellt sich nicht auf diesen Boden. Es gibt nichts, was auf die Gegenwart Christi als König seines Volkes hinweist. Nun ist es aber so, dass die Verheißungen, die den Vätern gegeben waren, die Gegenwart Christi voraussetzen, denn Christus ist, in der vollen Bedeutung, der Same Abrahams. Welchen Wert würden die Verheißungen an Abraham ohne Ihn haben? Deshalb – und in göttlicher Weisheit – nimmt Daniel diesen Platz ein. Wie immer die Wiederherstellung damals aussehen würde, es würde keine vollständige sein. Die Weissagung (am Ende des Kapitels) bringt uns zu den endgültigen Segnungen Israels, wenn die 70 Wochen vollendet sind. Aber die Rückkehr nach dem Fall Babylons war die Erfüllung einer teilweisen und bedingten Verheißung, nicht die Erfüllung der Verheißungen an die Erzväter. Es ist wichtig, das zu beachten. Die Verheißungen an Abraham waren absolut, weil sie von Christus, dem wahren Samen in Gottes Augen, abhingen – auch wenn Israel, dem Buchstaben nach, der Same war. Bevor Christus kam und sein Werk vollbrachte, konnte es keine volle Wiederherstellung für Israel geben.“ (Kelly, W.: Notes on the Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 3 Die Zeitangabe mag um ein Jahr abweichen. Andere Autoren nennen das Jahr 539 oder auch 537. Jedenfalls bringt uns dieses Kapitel kurz vor das Ende der 70-jährigen Gefangenschaft der Juden in Babel.
  • 4 Ob die Geschehnisse von Kapitel 9 vor dem Ereignis in der Löwengrube oder danach stattfanden, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Man mag vermuten, dass es danach war, sicher ist das allerdings nicht.
  • 5 Das macht deutlich, dass Daniel den Text von Jeremia als „die Schrift“, d. h. als Wort Gottes anerkannte. Ähnlich finden wir es im Neuen Testament. Petrus erkannte die Briefe von Paulus an (2. Pet 3,15.16), und Paulus das Evangelium von Lukas (1. Tim 5,18). Es ist gut, beim Lesen der „Schrift“ (der Bibel) nicht zu vergessen, dass es Gottes heiliges Wort ist.
  • 6 Wir müssen bedenken, dass es in der Zeit Daniels noch keine feste Zusammenstellung der Bücher des Alten Testamentes gab. Es gibt zwar Hinweise darauf, dass die vorhandenen Schriften aufbewahrt wurden (vgl. z. B. 5. Mo 31,24-26; Jos 24,26; 1. Sam 10,25), eine systematische Sammlung fand jedoch erst nach der babylonischen Gefangenschaft statt. Von dieser Zeit an begannen die Juden intensiv damit, ihre Schriften zu sammeln und zusammenzustellen. Esra als Schriftgelehrter und Nehemia waren für diese Arbeit sehr geeignet. In dem apokryphen Buch 2. Makkabäer 2,13 heißt es, dass Nehemia verschiedene Bücher zusammenbrachte und eine Bibliothek einrichtete. Es gibt wenige Gründe, an der Wahrheit dieser Aussage – in einem allerdings nicht inspirierten Buch – zu zweifeln. Jüdischer Tradition zufolge war es der Hohepriester Simon (1. Makk 14,41), der die Zusammenstellung der „Schriften“ abschloss. Spätestens um 250 v. Chr. sah der alttestamentliche Kanon so aus, wie wir ihn heute kennen. Die Bücher, die wir heute die „Apokryphen“ nennen, hatten darin keinen Platz. Sie wurden von den Juden weder als gleichwertig noch als von Gott gegeben anerkannt.
  • 7 Dabei bleibt offen, ob er die Vorschriften Gottes aus seinem Elternhaus kannte oder ob er bereits in jungen Jahren eine Buchrolle mit den Vorschriften des Gesetzes zur Verfügung hatte.
  • 8 Es ist immer wieder die Frage gestellt worden, wie sich die 70 Jahre errechnen. Dabei geht es vor allem darum, ab wann man zu zählen beginnt. Insgesamt fanden 3 Deportationen nach Babel statt, und zwar unter dem König Jojakim im Jahr 605 v. Chr., unter dem König Jojakin im Jahr 597 v. Chr. und unter dem König Zedekia im Jahr 586 v. Chr. In diesem Jahr wurden die Stadt und der Tempel zerstört. Wir gehen wohl richtig in der Annahme, dass aufgrund von 2. Könige 24,1-4 und 2. Chronika 36,20-23 die erste Eroberung Jerusalems ca. im Jahr 605 v. Chr. den Ausgangspunkt für die Berechnung bildet. 70 Jahre später befinden wir uns ca. im Jahr 536 v. Chr., also ca. zwei Jahre, nachdem Daniel den Propheten Jeremia gelesen hat. Es sei darauf hingewiesen, dass auch die Rückkehr der Juden (bzw. des Überrestes der Juden) nicht in einem Zug stattfand, sondern ebenfalls zu verschiedenen Zeitpunkten, nämlich ca. 536 v. Chr. unter Serubbabel und Josua (Esra 1), ca. 458 v. Chr. unter Esra (Esra 7) und ca. 445 v. Chr. unter Nehemia (Nehemia 2). Zwei weitere Fragen ergeben sich aus der Tatsache, dass wir in Esra 1,1 lesen, dass Kores (Kyros II.) im ersten Jahr seiner Regierung das Dekret erließ – und damit die Weissagung Jeremias erfüllte –, dass die Juden in ihr Land zurückkehren könnten, um dem Gott des Himmels ein Haus zu bauen. Das erste Jahr Kores ist gleichzeitig das erste Jahr von Darius. Die erste Frage lautet, ob Daniel von dem Dekret des Kores gewusst hat oder nicht. Die Antwort lautet, dass er es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gewusst hat, sonst gäbe es in Daniel 9 sicher einen Hinweis darauf. Die zweite Frage lautet, warum zwischen dem Dekret des Kores in seinem ersten Jahr (wahrscheinlich 538 v. Chr.) bis zum tatsächlichen Ende der Gefangenschaft ca. 536 v. Chr. noch einige Zeit verging. Die Antwort lautet, dass wohl eine gewisse Vorlaufzeit nötig war, bis die Rückkehr der ersten Juden Realität werden konnte.
  • 9 Diese Verse sind Teil des Briefes, den Jeremia direkt an die in Babel lebenden Juden geschickt hatte. Jeremia 29,1 sagt: „Und dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem an die übrig gebliebenen Ältesten der Weggeführten und an die Priester und an die Propheten und an das ganze Volk sandte, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.“ Wann genau dieser Brief geschrieben wurde, wissen wir nicht.
  • 10 Vgl. dazu 3. Mose 26,32-35, wo es heißt: „Und ich werde das Land verwüsten, dass eure Feinde, die darin wohnen, sich darüber entsetzen sollen. Euch aber werde ich unter die Nationen zerstreuen, und ich werde das Schwert ziehen hinter euch her; und euer Land wird eine Wüste sein und eure Städte eine Einöde. Dann wird das Land seine Sabbate nachholen alle Tage seiner Verwüstung, während ihr im Land eurer Feinde seid; dann wird das Land ruhen und seine Sabbate nachholen; alle Tage seiner Verwüstung wird es ruhen, was es nicht geruht hat an euren Sabbaten, als ihr darin wohntet.“ Genau das hatte sich erfüllt. Nach den Jahren, in denen das Volk die Vorschriften des Sabbatjahres nicht beachtet hatte, dauerte die Gefangenschaft in Babel 70 Jahre.
  • 11 Das Wort „Verwüstung“ steht in der Mehrzahl. Es ging nicht nur um die Stadt Jerusalem, sondern auch um die Umgebung. In Jesaja 51,3 wird das Wort übersetzt mit „alle ihre Trümmer“ (vgl. auch Jes 52,9).
  • 12 Kelly, W.: Notes on the Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 13 Es fällt auf, dass die Sünde des Volkes Israel in der Zeit bis zur babylonischen Gefangenschaft wiederholt von Götzendienst gekennzeichnet war, d. h. das Volk Gottes verließ seinen Gott, um sich anderen Göttern zuzuwenden. Dieser Götzendienst begann ganz am Anfang mit dem goldenen Kalb in der Wüste und setzte sich – mal mehr und mal weniger – bis zur Deportation der Juden nach Babel fort. Nach der Rückkehr in das Land Palästina hatte es mit dem Götzendienst ein Ende. Stattdessen gab es sehr bald eine tote Orthodoxie, an der Gott ebenso wenig Wohlgefallen hatte. Der Höhepunkt dieses formalen Gottesdienstes war die Ablehnung und Kreuzigung des Messias.
  • 14 Die einzige – theoretische – Möglichkeit, dieses „große Haus“ zu verlassen, besteht darin, das Christentum aufzugeben und sich einer anderen Religion zuzuwenden bzw. zum Heidentum zurückzukehren. Etwas völlig anderes ist es natürlich, wie wir uns innerhalb des „großen Hauses“ zu verhalten haben. Dazu gibt uns der zweite Timotheusbrief Hilfestellung (vgl. z. B. 2. Tim 2,21).
  • 15 In diesem Zusammenhang wird häufig Jakobus 3,2 zitiert, wo wir lesen: „Denn wir alle straucheln oft.“ Beachten wir, dass es heißt: „wir alle“ und „oft“. Davon kann sich niemand freisprechen. Allerdings müssen wir beim Lesen dieses Verses zwei Dinge beachten: Erstens bezieht sich die Aussage in ihrer direkten Bedeutung auf das Sündigen mit der Zunge (und kann nur in der Anwendung auf andere Sünden bezogen werden). Zweitens darf dieser Vers nie leichtfertig als „Entschuldigung“ für unser Fehlverhalten angeführt werden, d. h. in dem Sinn, dass man meint, man könne gar nicht anders als immer wieder zu sündigen. Gläubige können sündigen, aber sie müssen nicht sündigen. Wir sind von diesem Zwang zum Sündigen befreit.
  • 16 Ähnlich ist es bei Joseph, der ein bemerkenswertes Vorbild auf den Herrn Jesus ist. Der göttliche Bericht verschweigt hier ebenfalls jede Sünde. Allerdings finden wir – ganz am Ende seines Lebens – zumindest eine Schwäche, als er nicht erkannte, welcher seiner beiden Söhne besonders gesegnet sein sollte.
  • 17 Dennett, E.: The Prophet Daniel
  • 18 Im Vorbild sehen wir das am großen Versöhnungstag (eig. Sühnungstag). Die Ungerechtigkeiten und Übertretungen und Sünden wurden „auf den Kopf des lebendigen Bockes“ bekannt, der sie in ein ödes Land tragen sollte (3. Mo 16,21.22).
  • 19 Kelly, W.: Notes on the Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 20 Bei den „Nahen“ können wir an den kleinen Rest der zehn Stämme Israels denken, die nach der Invasion der Assyrer im Land verblieben waren, während die „Fernen“ diejenigen sind, die 721 v. Chr. durch die Assyrer weggeführt worden waren und von denen wir bis heute nicht wissen, wo sie sich befinden.
  • 21 In der überarbeiteten Fassung der Elberfelder Bibelübersetzung steht „Herr“ in Kapitälchen, um deutlich zu machen, dass es hier um „Jahwe“, den „Ewigen“ geht, der sich nicht verändert.
  • 22 Der Ausdruck ist nicht zeitlich zu verstehen, d. h. er meint nicht, dass Gott, nachdem Er Gerechtigkeit geübt hat, nun Gnade übt.
  • 23 Smith, H.: The Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 24 Der Text lautet: „Yea, while I was speaking in prayer, even the man Gabriel, whom I had seen in the vision at the beginning, being caused to fly swiftly, touched me about the time of the evening oblation.“
  • 25 vgl. weiter 2. Könige 3,20. Dort geht es nicht um ein Brandopfer, sondern um ein Speisopfer. Auch dort antwortet Gott gerade in der Zeit, als das Opfer gebracht wurde.
  • 26 Natürlich haben die Nationen mit dem römischen Herrscher (dem „Fürst“) und dem „Antichrist“ zu tun. Sie sind nicht schuldlos daran, dass der Messias weggetan wurde. Trotzdem ist es nicht das Ziel dieser Weissagung, uns damit an sich zu beschäftigen, sondern es geht um die Juden (das Volk Daniels), um Jerusalem („deine heilige Stadt“) und den Tempel.
  • 27 Die Versammlung (Gemeinde) Gottes nach seinem Ratschluss ist überhaupt nicht Gegenstand der Prophetie (und schon gar nicht im Alten Testament). Sie wird völlig außerhalb der Zeit gesehen (obwohl sie natürlich „in der Zeit“ gebildet wird). Ihre Geschichte auf der Erde müssen wir – allerdings unausgesprochen – zwischen Vers 26 und 27 sehen. Sie wird in dem Gesicht selbst nicht behandelt.
  • 28 Natürlich verfolgen wir Christen das Schicksal dieser Stadt mit großem Interesse. Dabei wollen wir jedoch bedenken, dass Jerusalem nicht – wie manchmal gesagt wird – die „heilige Stadt der Christen“ ist. J. N. Darby hat einmal gesagt: „Jerusalem ist für uns Christen nicht heiliger als jede andere Stadt“ (vgl. Darby, J.N.: Studies on the Book of Daniel). Viele Christen unterscheiden das leider nicht.
  • 29 Um der Problematik zu entgehen, dass der Dienst des Herrn Jesus bis zu seinem Werk am Kreuz nicht 7 Jahre, sondern nur 3 ½ Jahre dauerte, teilen einige Ausleger diese 7 Jahre so auf, dass sich eine Hälfte auf den Dienst des Herrn Jesus und die andere Hälfte auf den Dienst von Johannes dem Täufer bezieht. Diese Auslegung scheint jedoch recht willkürlich zu sein und lässt sich biblisch nicht belegen.
  • 30 Es gibt jedoch Ausleger, die die Zahlenangabe rein symbolisch verstehen. Gerade in Verbindung mit den 70 Jahren der Gefangenschaft in Babel würde es jedoch sonderbar sein, die 70 Jahre Gefangenschaft in Babel faktisch und die 70 Jahrwochen Daniels symbolisch verstehen zu wollen.
  • 31 Es ist interessant, dass Daniel später in Kapitel 10,2–3 von „drei vollen Wochen“ spricht, was wörtlich übersetzt heißt „drei Siebener an Tagen“. Hier ist völlig klar, dass er von Kalenderwochen spricht. In Kapitel 9 ist es allgemeiner gehalten, und deshalb gehen wir zu Recht von sogenannten „Jahrwochen“ aus.
  • 32 Einige wenige Ausleger sehen hier sieben Punkte. Sie teilen den vorletzten Punkt „Gesicht und Propheten zu versiegeln“ in zwei Punkte auf. Es ist durchaus legitim, das zu tun, allerdings werden wir sehen, dass die erwähnte Aussage doch unbedingt zusammen gehört und nur schwierig getrennt werden kann.
  • 33 Es ist allerdings wahr, dass wir – die Nationen – die Nutznießer der Tatsache sind, dass Israel den Messias abgelehnt hat. Paulus schreibt: „Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: dass Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist; und so wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: Aus Zion wird der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden“ (Röm 11,26.27).
  • 34 Diese „Fülle der Zeiten“ wird die „Zeiten der Nationen“ ablösen.
  • 35 Dennoch wird diese Gerechtigkeit herrschen oder regieren (und nicht wohnen), weil sie immer noch mit Gericht verbunden ist. „Denn der Herr wird sein Volk nicht verstoßen und sein Erbteil nicht verlassen; denn zur Gerechtigkeit wird zurückkehren das Gericht, und alle von Herzen Aufrichtigen werden ihm folgen“ (Ps 94,14.15).
  • 36 Das prophetische Wort hat es immer mit dem geschaffenen Himmel und der geschaffenen Erde zu tun. Im Alten Testament gehen diese Aussagen in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht über das Reich auf der Erde hinaus. Erst im Neuen Testament erfahren wir etwas über die Zeit, die danach für Himmel und Erde kommen wird. Der große Zentralpunkt des prophetischen Wortes ist immer die Herrlichkeit des Herrn Jesus in der „Fülle der Zeiten“, dem Tausendjährigen Reich.
  • 37 Es ist von großem Interesse, die Geschichte des Tempels in Jerusalem zu verfolgen. Der von Salomo erbaute Tempel wurde durch die Babylonier zerstört und nach der Rückkehr des Überrestes aus der Gefangenschaft unter Serubbabel und Josua wieder aufgebaut. Dieser Tempel wurde ab 21 v. Chr. unter Herodes dem Großen grundlegend umgebaut und dann durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. wieder zerstört. Seit dieser Zeit hat es in Jerusalem keinen Tempel Gottes mehr gegeben. Wann der Tempel, den es im Tausendjährigen Reich geben wird, gebaut werden wird, wissen wir nicht. Jedenfalls wird es während der Zeit der großen Drangsal ebenfalls einen Tempel in Jerusalem geben. Darüber spricht Vers 27.
  • 38 Artaxerxes Longimanus (Langhand) regierte von 465 v. Chr. bis 424 v. Chr. als persischer Großkönig. Er war der jüngere Sohn und Nachfolger von Xerxes I. König wurde er deshalb, weil er seinen älteren Bruder getötet hatte, der – vermutlich zu Unrecht – bezichtigt wurde, seinen Vater ermordet zu haben. In seine Regierungszeit fallen einige kriegerische Auseinandersetzungen an verschiedenen Stellen seines großen Reiches. Bekannt ist u. a. die Schlacht bei Papremis (456 v. Chr.). Im Allgemeinen gilt Artaxerxes jedoch als relativ gutherziger König. Seine Religionspolitik gilt in der säkularen Geschichtsschreibung als eher tolerant. Der König ließ seine Taten auf diversen Inschriften für die Nachwelt festhalten. Die Bibel erwähnt diesen König in den Büchern Esra, Nehemia und Esther (dort unter dem Namen Ahasveros).
  • 39 In älteren Auslegungen zum Propheten Daniel findet man leicht abweichende Jahreszahlen. Dennoch kann man relativ sicher sein, dass es sich tatsächlich um dieses Jahr handelt. Die ganz genaue Jahreszahl ist ohnehin nicht von ausschlaggebender Bedeutung für die Auslegung des Gesichtes.
  • 40 Das Wort „Messias“ kommt in dem überarbeiteten Text der Elberfelder Bibel nur viermal vor (Dan 9,25.26; Joh 1,41; 4,25), der Ausdruck „Gesalbter“ deutlicher häufiger.
  • 41 Im Gegensatz zu David wurde Saul mit einer Flasche gesalbt (1. Sam 10,1). Sein Königtum glich einem Glas, d. h. es war zerbrechlich. Das Königtum Davids hingegen war beständig (Horn ist ein unzerbrechliches Material).
  • 42 Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) – oder Joseph Ben Mathitjahu – war ein jüdischer Feldherr und bekannter Geschichtsschreiber. Er gilt als einer der wichtigsten Autoren der jüdischen Geschichte. Seine – bis heute erhaltenen und anerkannten – Hauptwerke sind die „Geschichte des jüdischen Krieges“ und „Jüdische Altertümer“.
  • 43 Zu nennen ist hier neben anderen besonders Sir Robert Anderson (1841–1918), der ein Buch mit dem Titel „Daniel in the Critics' Den“ geschrieben hat.
  • 44 Dennett, E.: Daniel, the Prophet (www.stempublishing.com)
  • 45 Die danach beginnende Gnadenzeit – die Zeit der Versammlung (Gemeinde) – ist in der biblischen Prophetie ausgeblendet. Vor dieser Zeit gab es eine klare Unterscheidung der Völker in „Israel“ einerseits und „Nationen“ andererseits. Diese Unterscheidung gibt es in der gegenwärtigen Gnadenzeit nicht (Eph 2,11-22). Sie wird erst nach der Entrückung wieder gemacht. Deshalb blendet die Prophetie (einschließlich der Prophetie Daniels) diesen Zeitraum aus und geht direkt zum Ende über.
  • 46 Dabei müssen wir bedenken, dass wir den Tod des Herrn Jesus aus mindestens drei Blickwinkeln sehen können. Erstens war sein Tod ein Teil des Ratschlusses Gottes, d. h. Gott selbst hat Ihn in den Tod gegeben. Zweitens war der Tod am Kreuz der Wille des Herrn Jesus selbst, d. h. Er hat sich selbst gegeben. Drittens – und das ist der Punkt hier – waren Menschen Schuld an seinem Tod, indem sie Ihn ermordet haben. Alle drei Seiten sind gleichzeitig wahr und können nie gegeneinander „ausgespielt“ werden.
  • 47 Darby, J. N.: The Prophet Daniel, in: Synopsis of the Bible
  • 48 Kelly, W.: Notes on the Book of Daniel (www.stempublishing.com)
  • 49 Dennett, E.: Daniel, the Prophet (www.stempublishing.com)
  • 50 Am 14. Mai 1948 wurde in einem Museum in Tel Aviv von eingewanderten jüdischen Siedlern der Staat Israel ausgerufen. Der Vorsitzende der Zionistischen Weltorganisation, David Ben-Gurion (1886–1973), verlas die Unabhängigkeitserklärung des neuen Staates Israel. Israel begann wieder zu existieren. Von diesem Zeitpunkt an hat es eine Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen in Palästina gegeben.
  • 51 Das Neue Testament spricht allerdings mehrfach von dem „Ende“ und bezieht sich damit sowohl auf diese „Zeit des Endes“ für Israel (vgl. Mt 24,6.14; Mk 13,7; Lk 21,9) als auch im allgemeinen Sinn auf das, was am Ende kommen wird (1. Kor 15,24; 1. Pet 4,7).
  • 52 Weitere Referenzstellen sind Daniel 12,1, Nahum 1,7 und Habakuk 3,16. Das Gericht über die Nationen wird an einigen Stellen einfach „Zorn“ genannt (1. Thes 1,10; 5,9; Off 11,18). Die Offenbarung gebraucht auch den Ausdruck „Grimm“ (Kap. 14,10.19; 15,1.7; 16,1.19; 19,15). In Verbindung mit der bekennenden Christenheit wird von der „Stunde der Versuchung“ gesprochen (Off 3,10). Es handelt sich jeweils um die Zeit der letzten Jahrwoche Daniels, nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Bezeichnungen.
  • 53 Viele Ausleger gehen davon aus, dass die Zeit des Endes unmittelbar nach der Entrückung anfängt. Diese Sichtweise ist nicht von der Hand zu weisen. Es ist dennoch nicht ganz auszuschließen, dass nach der Entrückung noch eine gewisse Zeitspanne vergeht, bevor die Zeit der Gerichte über diese Erde kommt. Es scheint jedoch so zu sein, dass diese Zeitspanne nicht sehr lang ist. Wirklich sichere Angaben können dazu nicht gemacht werden.
  • 54 vgl. dazu die Auslegung in Daniel 7
  • 55 Aus Offenbarung 12,6 und 14 kann man indirekt entnehmen, dass dieses Ereignis etwa in der Mitte der letzten Jahrwoche stattfinden wird. Dort flieht die Frau (Symbol für den Überrest) in die Wüste und wird 1.260 Tage bzw. „eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit“ (das sind 3 ½ Jahre) lang ernährt.
  • 56 Es liegt auf der Hand, dass der Bau eines Tempels auf dem Tempelplatz in Jerusalem nicht ohne politische Konflikte erfolgen wird. Schließlich stehen dort heute der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee – wichtige Heiligtümer einer anderen Religion. Die Diskussion um einen möglichen Tempelbau gerade an dieser Stelle erleben wir heute schon.
  • 57 Ebenso wird in Europa die christliche Religion zu einem Ende kommen, denn der Antichrist ist gleichzeitig der abtrünnige Christ (1. Joh 2,22). Er leugnet Gott, den Vater, und den Sohn. Der Antichrist wird aus Namenchristentum und Judentum eine einheitliche – okkulte – Religion machen.
  • 58 Im überarbeiteten Text der Elberfelder Übersetzung sagt die Anmerkung: „Vielleicht der Gräuelgötze, oder über den Beschirmer (wörtlich Flügel) der Gräuel“. J. N. Darby gibt in seiner Übersetzung den Hinweis, dass Beschirmer wörtlich Flügel heißt und verweist auf Jesaja 8,8. Er fügt die Variante hinzu: „Man kann übersetzen: Und der Gräuel (Götze) des Verwüsters wird auf dem höchsten Punkt des Tempels sein.“ Luther übersetzt: „Und im Heiligtum wird stehen ein Gräuelbild, das Verwüstung anrichtet.“ Schlachter sagt: „Und auf der Zinne werden Gräuel des Verwüsters aufgestellt“, und Menge gibt es so wieder: „Und an ihrer Stelle wird der Gräuel der Verwüstung aufgestellt.“
  • 59 Das Götzenbild mag an das Bild Nebukadnezars in Daniel 3 erinnern. So wie sich dort die Masse vor dem Bild niederwarf, wird es auch in Zukunft sein. Lediglich ein kleiner Überrest der Juden – dargestellt in den drei Freunden Daniels (Dan 3,18) – wird sich weigern, diese satanische Dreieinheit göttlich zu verehren.
  • 60 Auch in Offenbarung 12,13-17 werden die Verfolgung, die Flucht und die wunderbare Bewahrung des Überrestes durch Gott selbst beschrieben. Allerdings werden nicht alle gläubigen Juden die Flucht ergreifen. Ein kleiner Teil wird in Jerusalem bleiben und dort unendlich leiden (Off 12,17; 13,15). Davon spricht der Prophet Zephanja: „Und ich werde in deiner Mitte ein elendes und armes Volk übrig lassen, und sie werden zum Namen des Herrn Zuflucht nehmen“ (Zeph 3,12). Sie erleben dort eine schreckliche Zeit, und viele finden den Tod. Aber Gott wird sich gerade im Zentrum des Bösen in Jerusalem einen Überrest und ein Zeugnis erhalten.
  • 61 Der Ausdruck kommt im Buch Daniel noch einmal vor und zwar in Kapitel 11,31. Dabei ist zu beachten, dass es in diesem Teil von Kapitel 11 um den historischen Bericht dessen geht, was Antiochus Epiphanes getan hat, als er in der Zeit der Makkabäer den Tempel schändete und dort ein Götzenbild aufstellte.
  • 62 Einige Ausleger vermuten, dass der Antichrist in dieser Situation aus Jerusalem fliehen wird, um in Europa Schutz zu suchen. Sie sehen darin der Erfüllung der Worte aus Sacharja 11,17: „Wehe dem nichtigen Hirten, der die Herde verlässt! Das Schwert über seinen Arm und über sein rechtes Auge! Sein Arm soll völlig verdorren, und sein rechtes Auge völlig erlöschen.“ Der Gedanke ist naheliegend, denn es ist klar, dass der Antichrist einige Zeit später gemeinsam mit dem römischen Herrscher in Harmagedon erscheint und gerichtet wird (Off 16,16; 19,20).
  • 63 Darby, J. N.: Synopsis of the Books of the Bible
  • 64 Das gilt auch für die abgefallene Christenheit: „Wenn sie sagen: Frieden und Sicherheit!, dann kommt ein plötzliches Verderben über sie, wie die Geburtswehen über die Schwangere; und sie werden nicht entfliehen“ (1. Thes 5,3).
  • 65 J. N. Darby schreibt: „Die eine Übersetzung (das – oder die – Verwüstete) drückt aus, dass die Verwüstung fortdauern wird, bis das von Gott zuvor beschlossene Gericht vollendet ist; die andere (der Verwüster), dass sie nicht aufhören wird, bis der Verwüster vernichtet ist – was auf dasselbe hinausläuft“ (Darby, J. N.: Studies on the Book of Daniel). J. N. Darby zieht jedoch – wie W. Kelly – die Übersetzung „das Verwüstete“ vor.
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