Gedanken über das Johannesevangelium

Leiden: "Sie meinte,..."

„Maria aber stand bei der Gruft draußen und weinte. Als sie nun weinte, bückte sie sich vornüber in die Gruft und sieht zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu dem Haupt und einen zu den Füßen, da, wo der Leib Jesu gelegen hatte. Und diese sagen zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie spricht zu ihnen: Weil sie meinen Herrn weggenommen und ich nicht weiß, wo sie ihn hingelegt haben. Als sie dies gesagt hatte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus dastehen; und sie wusste nicht, dass es Jesus war. Jesus spricht zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie, in der Meinung, es sei der Gärtner, spricht zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich werde ihn wegholen. Jesus spricht zu ihr: Maria! Sie wendet sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! – das heißt Lehrer“ (Joh 20,11–16).

Dreimal wird in den Evangelien berichtet, dass in Bezug auf die Person des Herrn Jesus etwas „vermutet“ wurde:

  1. In Lukas 2 nahmen die Eltern des Herrn an, dass Er bei ihnen war, obwohl Er es nicht war.
  2. In Markus 6 nahmen die Jünger an, Er sei nicht bei ihnen, obwohl Er es in Wirklichkeit war.
  3. Hier in Johannes 20 nahm Maria an, Er sei jemand anderes.

Jedes Mal gab es eine besondere Folge:

  1. In der ersten Begebenheit führte die Annahme zu Überzeugung.
  2. In der zweiten führte die Annahme zu Furcht.
  3. In der dritten Begebenheit führte die Annahme vom Irrtum zur Erkenntnis.

Wenn es um unseren Herrn geht benötigen wir Gewissheit. Wann immer Er sich offenbart, wird der Zweifel oder die Traurigkeit in Gewissheit und Freude umgewandelt. Bei den letzten beiden Gelegenheiten löst unser Herr die Zweifel durch Sein Wort auf. Wie wahr ist es doch, dass das Wort unseres Herrn immer noch die Antwort auf unsere Probleme ist!

Maria weinte am Grab, weil der Herr nicht in diesem Grab war. Sie erkannte nicht, dass sie nur dann wirklich Grund zu Tränen gehabt hätte, wenn Er dort gewesen wäre! Nichts hätte tragischer sein können als das. Sie weinte über ein leeres Grab, obwohl sie vor lauter Freude hätte tanzen sollen.

Heute, im Licht von Gottes Wort, freuen wir uns mit unaussprechlicher Freude darüber, dass der Tod seine Beute nicht halten konnte, sondern dass Er mit mächtigem Triumph auferstanden ist. Marias Tränen waren auf ihre Unwissenheit zurückzuführen. Jesus hatte Seinen Jüngern oft gesagt, dass Er am dritten Tag auferstehen würde, aber religiöse Vorurteile hatten ihre geistliche Sicht versiegelt. Sie und alle anderen Jünger hatten erwartet, dass Christus in irdischer Macht und Herrlichkeit regieren würde. Sie hatten nicht begriffen, obwohl Er es ihnen deutlich gesagt hatte, dass die Leiden notwendigerweise der Herrlichkeit vorausgehen müssen, dass Er sterben und auferstehen muss, um ein Fürst und ein Erlöser zu sein. Hätte Maria nur Seinem Wort geglaubt, hätte sie an diesem Tag keine Tränen vergossen.

Wie viele Tränen weinen wir, weil wir Seinem Wort nicht glauben!

Auch wir können wegen unserer Tränen nicht sehen, sie behindern unsere Sicht. Aber Er wird sich in der Gnade dem wahren, treuen Herzen offenbaren und die Tränen in Jubel verwandeln. „Sie haben meinen Herrn weggenommen“, sagte Maria. Sie irrte sich – sie hat Ihn durch ihre Unkenntnis des Wortes aus den Augen verloren.

Wir finden Christus im Wort und müssen Ihn immer dort suchen. Drei herausragende Gedanken werden in Marias Worten und Handlungen am Grab Jesu angedeutet:

  1. Sie suchte einen toten Christus. Sie bat um Seinen Körper, damit sie Ihn mitnehmen konnte. Sie liebte Ihn und wollte Ihm ihre Liebe in wahrer Hingabe schenken. Aber, ach, während sie Ihn so lieben konnte, konnte Er sie nicht lieben, denn sie hielt Ihn für tot. Es gab keinen Gedanken an Seine Liebe zu ihr. – Viele Christen sind so sehr damit beschäftigt, ihre Liebe zu Ihm zu zeigen, dass sie wenig von Seiner Liebe zu ihnen erfahren. Bei solchen ist es so, dass sie zwar Gesandte sind, aber so wenig Zeit damit verbringen, zu Seinen Füßen zu sitzen und sich von Ihm lieben zu lassen. Natürlich ist der Dienst für Ihn sehr wertvoll, denn unser Herr schätzt unsere Hingabe. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass der Herr Jesus nicht nur ein Heiland ist, der gestorben ist und den wir lieben und Ihm dienen sollen. Er ist ein auferstandener, lebendiger Herr, der möchte, dass wir Seine Liebe täglich kennen und genießen. Nur wenn Er uns liebt und wir Ihn lieben, gibt es wahre Gemeinschaft.
  2. Maria wollte den Herrn hier festhalten, nachdem sie erfahren hatte, dass Er lebt, aber Jesus sagt zu ihr: „Rühr mich nicht an.“ Einige Christen sagen, dass der Grund für diese Worte darin liegt, dass niemand Ihn berühren sollte, bis Er in den Himmel aufgefahren war, und dass Er zwischen dem Zeitpunkt, als Er diese Worte sprach, und dem Zeitpunkt, als Er den Frauen erlaubte, Ihn zu berühren, in den Himmel aufgefahren war (Mt 28,9). Sie sagen, dass der Herr in den Himmel aufgefahren ist, um die entschlafenen Geister aus dem Paradies in die Herrlichkeit zu holen, für welche Ansicht Epheser 4,x herangezogen wird. Aber diese Stelle in Johannes 20 stellt sicher einen ganz anderen Gedanken dar. Maria hat den Herrn berührt, wie auch die anderen Frauen. Der Ausdruck „Berühre mich nicht“ bedeutet in Wirklichkeit „Halte mich nicht fest“, oder, vielleicht noch genauer, „Höre auf, mich (ständig) festhalten zu wollen“, denn das Verb steht in der kontinuierlichen Gegenwartsform. Unser Herr sagt Maria, dass Er nicht hier auf der Erde bleiben kann. Sie wollte Ihn hier festhalten, wie vor dem Kreuz, aber Er sollte aufsteigen und Seinen Platz zur Rechten des Thrones Gottes. Die Welt hatte Ihn verworfen, und deshalb hatte Gott Ihn hoch erhoben. In der Herrlichkeit würde Er die Herzen der Seinen von der Welt wegziehen. Er würde uns eine himmlische Ausrichtung unseres Sinnes geben, denn wo unser Schatz ist, da sind auch unsere Herzen. Unser Herr muss weggehen, damit der Heilige Geist, der Tröster, kommen kann. Wäre der Herr hier geblieben, wie Maria es wünschte, dann hätte Er immer nur an einem Ort sein können, wie während Seines Lebens auf Erden. Aber der gesegnete Heilige Geist ist überall zur gleichen Zeit. Deshalb war es zweckmäßig, dass der Herr in die Herrlichkeit ging, damit der Geist uns Christus überall und an jedem Ort real mache.
  3. Maria nahm an, dass Er der Gärtner sei. Es ist von anderen angedeutet worden, dass viele Menschen auf der Erde die gleiche falsche Vorstellung haben. Sie denken, dass Christus auf die Erde kam, um diese Welt zu einem angenehmen Ort zum Leben zu machen, dass Er „der Gärtner“ ist. Der Mensch denkt, dass Gott die Welt verbessert. Das Paradies war einst auf der Erde, aber der Mensch hat es durch die Sünde verwirkt, und nun ist das Paradies im Himmel. Der arme Schuldige, der an der Seite des Herrn der Herrlichkeit am Kreuz hing, ging direkt von dieser Welt der Sünde in das Paradies Gottes. Er war nicht geeignet, auf der Erde zu leben, aber die göttliche Gnade machte Ihn geeignet, in den Himmel zu gehen. Nein, Jesus ist nicht der Gärtner – zumindest nicht in diesem Zeitalter. Eines Tages wird diese Erde wieder blühen, die Wüste wird wie die Rose erblühen. Aber es wird für Israel und für die heidnischen Nationen sein. Für uns Christen ist diese Welt nur eine Wüste, und unsere Herzen sehnen sich nach dem, der in die Herrlichkeit gegangen ist.

Jesus sprach nur ein Wort zu ihr: „Maria“. Zuvor hatte Er einige Worte zu ihr gesprochen, aber anscheinend erkannte sie Seine Stimme damals nicht – so wie die Jünger auf dem stürmischen Meer. Aber als Jesus ein Wort zu Petrus sprach – „Komm“ –, wusste Petrus, dass es der Herr war. In diesen beiden Fällen wurde nur ein Wort gesprochen. Maria erkannte die vertraute Stimme, denn Seine Schafe hören Seine Stimme. Oft haben ihre Tränen und Ängste ihre Ohren abgestumpft, aber zur rechten Zeit hörten sie Ihn sprechen, und ihre Herzen wurden froh. Ihre Vermutungen wurden in die sichere Erkenntnis verwandelt, die der Glaube vermittelt, und ihre Sorgen werden in Freude verwandelt.

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