Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 21
In diesem Kapitel richtet sich der Herr aufs Neue mit der Bezeichnung „Menschensohn“ an Hesekiel, um ihm den Auftrag zu erteilen, sein Angesicht nach Süden zu wenden. Dr. A. Noordtzij teilt uns in seiner „Korte Verklaring“ mit, dass im Grundtext drei verschiedene Worte für Süden stehen:
- Theman, südliche Landschaft, die oft mit Edom bezeichnet wird;
- Darom, häufig in den Kapiteln 40–42 erwähnt;
- Negeb, die gewöhnliche Benennung von Süd-Palästina.
Auch Darby stimmt mit dieser Auslegung der drei hebräischen Namen in den Fußnoten seiner drei Bibelübersetzungen mit der Deutung von Bruder Noordtzij überein. Wie wir aus Vers 7 ersehen, handelt es sich bei dieser Bildsprache um Jerusalem, die Heiligtümer und das Land Israel.
Im Allgemeinen enthält der Süden den Gedanken an die Gunst Gottes, die sich in einem auferweckten und verherrlichten Christus ausdrückt, mit dem wir verbunden sind. So steht auch der Süden mit den Segnungen in Verbindung, die die Christenheit im vorigen Jahrhundert, in Kraft offenbart, kennen lernen durfte.
Das von Gott reich begünstigte Israel konnte im Mittagsland die Sonnenstrahlen genießen, doch es fehlte in seiner Verantwortlichkeit und wandte Gott den Rücken zu, obwohl es die Segnungen festhalten wollte. Gott musste über sie das Gericht aussprechen. Ein Feuer wird angezündet werden, welches jeden grünen Baum und jeden dürren Baum verzehren wird. Als Gott sein Vorhaben mit diesem Heiligtum durch seinen Dienstknecht zur Sprache brachte, hatte das Volk erneut eine Ausrede bereit. Hesekiel ist sich bewusst, was sie über seine Botschaft denken und klagt, noch ehe er sich an das Volk wendet: „Ach, Herr, HERR! Sie sagen von mir: Redet er nicht in Gleichnissen?“
Auch die heutige Christenheit täuscht sich mit ziemlich kläglichen Ausflüchten über die Wirklichkeit hinweg. Unter solchem Vorwand verwirft sie das letzte Zeugnis, das im vorigen Jahrhundert in alle Lande ausging. Kelly bemerkt zu Vers 5: „Das Wort war deutlich genug; aber der Mensch fand wieder eine Möglichkeit, sich durch falsche Angaben einer peinlichen Situation zu entziehen, da er sich ja in die Enge getrieben fühlte.“
Das vorige Jahrhundert brachte zwar eine reiche Entfaltung der geistlichen Wahrheiten, doch hat der Mensch im Allgemeinen keinen Blick mehr für die bildhafte Sprache der Bibel, vor allem weiß er nichts mit den besonderen Hinweisen der kommenden Gerichte über die Christenheit anzufangen, die durch den Dienst der Brüder vor mehr als hundertdreißig Jahren nochmals ins rechte Licht gerückt wurden. Die Menschen unserer Zeit sind eher geneigt, „praktische Wahrheiten“ anzunehmen als eine schwer fassliche Bildsprache. (Doch Gott sei gedankt, enthält die Bibel auch deren genug – nach der Aufnahme der Versammlung wird das anders sein.) Es ist nicht so, dass man die Sprache der Bibel nicht verstehen könnte: Unsere Großväter, die keine höheren Schulen besucht hatten, mussten einschließlich samstags von früh morgens bis spät zum Abend ihrer Arbeit nachkommen und hatten dennoch Gelegenheit, sich mit den Gedanken der Bibel vertraut zu machen und sich untereinander zu besprechen. Von ihnen ist uns ein wertvolles Schriftgut erhalten. Ich möchte nochmals Worte von Bruder Kelly anführen: „Der Mensch findet immer Schwierigkeiten, um das zu begreifen, was ihm nicht zusagt“.
Während das Volk nun mit dieser Ausrede kommt, hält Gott nichts zurück und lässt unumwunden durch seinen Dienstknecht mitteilen, was Israel bevorsteht. Die Ausdrücke „gegen Süden“, „gegen Mittag“ und „im Süden“ werden nun unverblümt durch Jerusalem, die Heiligtümer und das Land Israel ersetzt. Ebenso wird die geheimnisvolle Umschreibung des Feuers, „das der Herr anzünden wird“ zum Schwert, „das der Herr aus seiner Scheide zieht.“ Wenn ein Feuer entzündet wird, kann sich die Person, die es ansteckt, noch im Hintergrund aufhalten, wird aber das Schwert Gottes aus der Scheide gezogen, betritt Gott in seiner ganzen Größe den Schauplatz und lässt Züchtigung und Vorsehung beiseite. Es scheint, als ob wir von den angekündigten Gerichten über Thyatira in Offenbarung 2 über das unmittelbare Erscheinen des Diebes in der Nacht bei Sardes in Offenbarung 3 schließlich zu dem Ausspruch über Laodicäa geführt werden: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Mund.“
Wenn der Herr seinen Dienstknecht dazu gebraucht, so direkt von den Erwartungen eines bevorrechtigten aber tief gefallenen Israel zu sprechen, kann diese Botschaft nur mit einem tiefen Gefühl über den Ernst der Lage und der kommenden Ereignisse von selten Hesekiels verbunden sein. „Und du, Menschensohn, seufze, dass die Lenden brechen, und mit bitterem Schmerz seufze vor ihren Augen!“ Das Urteil, das vollstreckt werden soll, muss erst von dem Überbringer wahrhaft empfunden werden. Hier begegnen wir etwas, das der wahre Sohn des Menschen gefühlt hat, als Er sich „der Stadt näherte und sie sah“. Doch dies muss auch in uns offenbar werden, wollen wir für ein wirksames Zeugnis in der Christenheit brauchbar sein, während ja die Botschaft „in Gleichnissen“ als zu schwierig verworfen wird.
Wir schämen uns zu oft. Auf die Frage: „Warum seufzt du?“ antwortet Hesekiel: „Wegen der kommenden Nachricht.“ Konnten unsere Mitmenschen uns auch einmal über die bevorstehenden Ereignisse seufzen hören? Es handelt sich nicht darum, ob wir unserem Volk das Endresultat des europäischen Kapitalismus – nötigenfalls anhand der Schrift – voraussagen können, sondern es geht darum, vor den Augen der Menschen wie ein gebrochener Mann zu seufzen und in bitterer Schmach zu trauern.
Vor etwa fünfzig Jahren durfte mein Vater als junger Mann einmal unseren englischen Bruder Löwe durch Appeldoorn begleiten. Er führte ihn zu der Gegend „Het Loo“ und lenkte seine Blicke auf die verschiedensten Sehenswürdigkeiten. Plötzlich verharrte Bruder Löwe, sah ihn an und bemerkte kurz, „wie schrecklich ist es doch, dass so viele Menschen für ewig verloren gehen.“ Daraufhin setzten sie ihren Weg fort und unterhielten sich über andere Gegenstände. Man konnte bei ihm ein Seufzen in bitterer Schmach über das Los der Seelen vernehmen, die nur einem Namenchristentum angehören.
In den Versen 13 bis 22 ist weiter von dem geschärften und geschliffenen Schwert, das eine Schlachtung anrichten soll, die Rede, „um es in die Hand des Würgers zu geben.“ Der Würger ist König Nebukadnezar; in anteilnehmendem Mitgefühl werden durch den Propheten die Worte ausgerufen: „Schreie und heule! ... Schlage dich auf die Hüften! ... Schlage die Hände zusammen!“ Was lesen wir aus diesen drei Äußerungen? Nicht das, dass der Prophet in seinen Gemütsbewegungen mehr und mehr die Gedanken Gottes über die des Gerichtes teilt? Ebenso sollte es auch in unseren Tagen, die wahrhaft dazu angetan sind, zu seufzen und zu trauern, mit dem Zeugnis für den Namen des Herrn stehen. Wir sollen auf die Gedanken Gottes, die bald die Versammlung zum Ausdruck bringt, schon vorbereitet sein: „Nach diesem hörte ich etwas wie eine laute Stimme einer großen Volksmenge in dem Himmel, die sprach: „Halleluja! Das Heil und die Herrlichkeit und die Macht unseres Gottes! Denn wahrhaftig und gerecht sind seine Gerichte; ... Und die vierundzwanzig Ältesten und die vier lebendigen Wesen fielen nieder und beteten Gott an, der auf dem Thron sitzt und sagten: Amen, Halleluja!“ (Off 19,1.2.4.).
Dr.Noordtzij erklärt Vers 14 wie folgt: „Obwohl Hesekiel nur prophezeit, muss er doch beide Hände erheben, um bildlich den Takt mit dem blinkenden Schwert zu schlagen; die zwei- und dreifache Mörderei mit diesem Schwert besitzt nicht nur prophetischen Gehalt, sondern wird tatsächlich durchgeführt.“ In der Sprache der Offenbarung heißt das, sich vollkommen mit den vierundzwanzig Ältesten und den vier lebendigen Wesen eins zumachen.
Uns wird nun die geheimnisvolle Person Nebukadnezars am Kreuzweg vorgestellt. Wir erinnern uns hierbei an den Anfang des 4. Kapitels. Sicherlich wird dieses Schaustück die ganze Aufmerksamkeit und selbst den Schrecken der Umstehenden erregt haben, doch in erster Linie galt es Hesekiel: „Und du, Menschensohn, mache dir zwei Wege, auf denen das Schwert des Königs von Babel kommen soll.“ Wie eindringlich redet der Geist des Propheten an dieser Stelle über die bevorstehenden Ereignisse.
Auch wir stehen am Vorabend derselben furchtbaren Geschehnisse und sollen hieraus eine Lektion lernen. „Zeichne einen Wegweiser, zeichne ihn am Anfang des Weges zur Stadt.“ Erhalten wir auf diese Weise Auskunft über die Großmächte, die sich bald anschicken, über die Christenheit zu Gericht zu sitzen?
Einem blinden Israel erscheint die Wahrsagerei, die der König von Babel an der Weggabelung treibt, falsch zu sein. Die Juden meinen für sich im Recht zu sein; Eide um Eide werden geschworen und Nebukadnezar wird ihre Anständigkeit durch Eidablegung zugesichert. Nachdem sie aber ihre Eide gebrochen haben, rechnen sie zunächst einmal damit, dass Nebukadnezars den Herrn achtet, und glauben nicht an einen Angriff gegen Jerusalem. Sie vergessen aber dabei, dass sich auch die Hand Gottes, die gegen sie gerichtet ist, in Vorsehung heidnischer Orakelsprüche bedienen kann. Er kann einer Sibylle, der griechischen Wahrsagerin, dieselben Worte auszusprechen gebieten wie seinem Propheten, dem gesalbten David. Der Anfang des bekannten Requiems (Seelenmesse) heißt:
''Tag des Gerichtes, Tag den Sünden;
Wird das Weltall sich entzünden
Wie Sibyll und David künden!“
Er lässt auch heidnische Bräuche dazu dienen, um – wie im Fall Jonas – den Grund des Unheils ausfindig zu machen, indem die Seeleute „jeder zu seinem Gott riefen“ und das Los warfen.
Mögen wir nie vergessen, dass ein aufrichtig gemeinter Brauch, wobei der Wille der Götter gesucht wird, nicht so verwerflich ist, als ein Gott kennendes Juden- oder Christentum, das sich treulos von Ihm abwendet und dessen heilige Versprechen und Eide in seinem Namen nur vorgetäuschtes Machwerk sind.
Schließlich wird in Vers 30 noch „der Unheilige, Gottlose, Fürst Israels“ angesprochen. Meines Erachtens ist diese Person ein regelrechter Hinweis auf den Antichristen, den Fürst, „dessen Tag gekommen ist zur Zeit der Ungerechtigkeit des Endes!“ Es geht nicht an, dass man diesen Ausspruch in seiner vollen Bedeutung auf Zedekia, den Treuebrecher, anwenden will, obwohl er in ihm seine anfängliche Erfüllung fand. Die meisten Ausleger sind sich darin einig, dass der, „dem das Recht gehört“, und dem der Kopfbund und die Krone gegeben werden, der Messias ist, doch die wenigsten sehen auch in dem gottlosen Fürsten die Person des Antichristen. Ich weise noch darauf hin, dass in der Fußnote der Kopfbund dem Hohenpriester zugeordnet wird. Es wird also bei diesem Kopfbund und der Krone augenscheinlich die priesterlich-prophetische und die königliche Aufgabe angedeutet. Ich glaube nicht, dass Zedekia diese beiden Funktionen ausübte. Scheraja war gemäß 2. Kön 25,18 in diesen Tagen Oberpriester. Denken wir aber an die Person des Antichrists, so erhalten diese Worte ein besonders prophetisches Gewicht.
Offenbarung 13,11 beschreibt ihn uns: „Und es hatte zwei Hörner gleich einem Lamm.“ Er offenbart eine zweifache Würde, indem er in äußerlicher Nachahmung die Sanftmut unseres Heilands, die Ihn als Propheten und König kennzeichnen, zur Schau trägt. Er ist der falsche Prophet, „dessen Ankunft nach der Wirksamkeit des Satans ist, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge“, der Mann mit dem Kopfbund. Er ist zugleich der König aus Jesaja 30,33; 57,9 und Daniel 11,36, der Mann mit der Krone. Doch die Würde wird ihm Stück für Stück entrissen werden. „Umgestürzt, umgestürzt, umgestürzt will ich sie machen.“
Bei der Beschreibung des Endkampfes Christi gegen die verbündeten westeuropäischen Mächte wird in Offenbarung 19,20 gesagt: „Und es wurde ergriffen das Tier und der falsche Prophet.“ Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle nicht wie in Offenbarung 13,11 „ein anderes Tier“ erwähnt wird. Es scheint, als sei die königliche Würde zu diesem Augenblick bereits durch das Haupt des römischen Reiches, das erste Tier, entfernt worden. Warum? Hatte er sich im Geheimen vielleicht mit Assyrien, dem König des Nordens, verschworen, oder war er in den Rat „der Beherrscher dieses Volkes“ (Jes 28,14) eingeweiht, die „einen Bund mit dem Tod geschlossen und einen Vertrag mit dem Scheol gemacht'' haben? Jedenfalls wird es vollkommen auf der Ebene des Charakters von Zedekia hier in Hesekiel 21 liegen.
Zum ersten Male im Buch Hesekiel finden wir ab Vers 33 eine Weissagung, die nicht Israel betrifft, sondern eines von den Israel umgebenden Völkern, und zwar die Kinder Ammon. Wollen wir eine Lehre aus dieser die umliegenden Völker Israels betreffenden Prophezeiung ziehen, so haben wir uns zunächst mit der Abstammung und der Geschichte eines jeden Volkes zu beschäftigen. Aus dieser Sicht steht es traurig um Ammon.
Das Gericht hat sich am Haus Lots vollzogen: seine Frau wurde zu einer Salzsäule (ein Wunder, das die Berechnungen über das Alter der Menschen total durchkreuzt). Aus Furcht, keinen Samen am Leben zu erhalten, begingen die Töchter eine Blutschuld mit ihrem Vater, und der Sohn, den die Jüngere gebar, wurde Ben-Ammi, Sohn meines Volkes, genannt.
Es besteht ein bezeichnender Unterschied in der Namengebung der Söhne von der jüngeren und der älteren Tochter. Der Sohn der Älteren hieß Moab, d.h. vom Vater. Ein ausgesprochenes Begehren drängte die ältere Tochter, Nachkommen für ihren Vater ins Leben zu rufen. Sie schmiedete dann auch diesen Plan und die Jüngere folgte zögernd. Während sie sich nun beide besprachen, wird die jüngere Tochter von ihrer deutlich zu erkennenden Zurückhaltung abgebracht. Die Zielsetzung der jüngeren Tochter spiegelt sich dann auch in der Wahl des Namens wider: es ging ihr nicht darum, Sorge für die Nachkommen ihres Vaters, sondern vielmehr ihres Volkes zu tragen.
Auch heutzutage erkennt man das Eingreifen Gottes in das Leben vieler christlicher Familien und Gemeinschaften, die dieselbe Zielsetzung hatten. Weil man nicht wie Abraham den Platz völliger Absonderung einnimmt, macht sich ein Aussterben dessen bemerkbar, was einmal Licht in Bezug auf die Wahrheit besessen hat. Man möchte all das, was durch den Zug zur Welt dem Gericht anheimgefallen war, vor dem Gott die Gläubigen bewahren konnte, ohne auf die Vergangenheit Rückschau zu halten, durch anderes Leben ersetzen. Die jüngere Tochter fühlte sich durchaus nicht zum Haus Abrahams hingezogen und mied in jeder Hinsicht eine Annäherung. Durch die Zeugung innerhalb der Familie suchte sie einen Sohn ihres Vaters. Desgleichen kehrte auch Jahrhunderte später Orpa nach dem Tod ihres Mannes Kiljon in ihr eigenes Land zurück: sie hing mehr an ihrem Volk als an ihrer Schwiegermutter.
Das Ergebnis einer solchen Nachkommenschaft offenbart sich in verachtendem Hass gegen alles, was sich öffentlich auf die Seite Gottes stellt. Als Beispiel sehen wir Nahas, den Ammoniter, der Jabes-Gilead belagerte und nur unter der Bedingung einen Bund mit den Einwohnern eingehen wollte, dass er allen das rechte Auge ausstechen und somit „eine Schmach auf ganz Israel legen“ wollte (1. Sam 11,1-2). Ein weiteres Beispiel liefert uns Hanun, der Sohn Nahas', der die Gesandten Davids, die ihn wegen des Todes seines Vaters im Namen Davids trösten sollten, misshandelte (2. Sam 10).
Nun, in Vers 26 steht der König von Babel am Kreuzweg, und der Wahrsagespruch zeigt ihm den Weg nach Jerusalem. Das öffentliche Zeugnis auf der Erde muss sich zuerst dem Urteil beugen. Hohn und Schadenfreude vernehmen wir von denen, die außerhalb des Zeugnisses Gottes stehen, und Gott lässt es in seinen Regierungswegen mit seinem Volk zu, dass sie so ihre eigenen feindlichen Gefühle befriedigen können.
In diesem Abschnitt ist es wiederum so, dass die anfängliche Erfüllung in den Tagen der babylonischen Könige nur ein Vorspiel dessen darstellt, was „zur Zeit der Ungerechtigkeit des Endes“ eintrifft. Diese Ungerechtigkeit des Endes wird sich kurz vor der Ausübung der Gerichte, die Christus zusammen mit dem Überrest unter den Ammonitern ausführt, ereignen (vgl. Dan 11,41 mit Jes 11,14 und Zeph 2,9).
In Bezug auf die Christenheit stehen wir bereits heute sittlich in den Tagen der „Ungerechtigkeit des Endes“. Für einen jeden von uns kommt es nun darauf an, wie wir uns am Ende der Gnadenzeit zu den offen ausgesprochenen Gedanken Gottes über diese Welt verhalten. Der Grundsatz der Gesetzlosigkeit besteht nach 1. Johannes 3,4 darin, dass ich die ausdrücklich festgehaltenen Gebote Gottes verletze.
Auch für Ammon ist ein Ausweg vorhanden. 1915 schrieb mein Großvater hierüber: „Gleich ihrem Stammvater Lot, so entkommen auch Moab und Ammon dem totalen Untergang – doch nur wie durchs Feuer. Ihr Gebiet grenzt an Palästina, so dass sie den Frieden genießen, der von Jerusalem ausgeht, sobald der Herr seinen Thron dort aufgerichtet hat. Jeremias Worte erhalten dann ihre Erfüllung: „Aber nachher werde ich die Gefangenschaft der Kinder Ammon wenden, spricht der HERR“ (Jer 49,6). Feierlich vernehmen wir die Worte „Bis hierher“ aus dem Munde desselben Propheten: „Bis hierher das Gericht über Moab“ (Jer 48,47). Die Gnade steckt die Grenzen, „die Barmherzigkeit rühmt sich gegen das Gericht“ (Jak 2,13). Es gibt also auch hier – wir für Lot – ein Zoar des Entkommens, nachdem das Feuer alles verdorben hat, was den Zorn Gottes erregt hatte.
Auch in Ver 35 wird dieser Gedanke angedeutet: „Stecke es wieder in seine Scheide! An dem Ort, wo du geschaffen bist, in dem Land deines Ursprungs, werde ich dich richten.“ Das in die Scheide eingeführte Schwert spricht von der Befriedigung der göttlichen Gerechtigkeit. Warum aber kann das Schwert in die Scheide gesteckt werden; warum auch hat der Zorn Gottes in Bezug auf die Regierungswege mit den umliegenden Völkern ein Ende genommen? Eben deshalb, weil das Gericht zu dem Ursprung des Bösen zurückgekehrt ist. Dort, südöstlich des Toten Meeres übt Christus mit seinem triumphierenden Überrest Gericht aus (Jes 63,1-6): Dort zurück werden auch die Entronnenen aus Edom, Moab und den Vornehmsten der Kinder Ammon (Dan 11,41) gesandt werden.
Möglicherweise besteht noch der ärmliche Wohnraum, wo die Blutschande Lots und seiner Töchter stattgefunden hatte. Vielleicht kann man von dort aus auch den Angstschrei der Geschlagenen wahrnehmen und durch den Eingang das Streitobjekt entdecken. Gott vergisst nie etwas, sondern Er „sucht das Vergangene wieder hervor“ (Pred 3,15). Gott, der unzählbar mächtiger ist als die Menschen und ungenannt mehr Mittel zur Verfügung hat, bringt die sündhaften Geschehnisse Lots und seiner Töchter wieder in Erinnerung. Wir lesen in 2. Könige 9,21: „Und Joram, der König von Israel, und Ahasja, der König von Juda, zogen aus, jeder auf seinem Wagen: sie zogen aus, Jehu entgegen, und sie trafen ihn auf dem Feldstück Nabots, des Jisreeliters.“ Gott leitet alles genau und bestimmt. Gott konnte auch zulassen, dass Jehu ungesehen durch die Tore Jisreels reiten konnte, ebenso, dass Joram ihm keine Reiter entgegensandte, noch die Tore verschloss oder die Wache verstärkte. Daraufhin kam Jehu an dem Feldtück Nabots vorüber, als die verhängnisvolle Begegnung mit Joram stattfand. Joram hätte auch schon, bevor die Wächter das seltsame Treiben mit den berittenen Boten berichtet hatten, ungeduldig werden und Jehu entgegen reiten können; doch dann hätten sie sich getroffen, bevor Jehu das Feldstück Nabots erreicht hatte.
Gott hat die Geschehnisse dort wie auch in unserem Kapitel in seiner Hand. Das Böse wird nur an dem Ort seines Ursprungs verurteilt. Doch in dem Gericht des Bösen „an dem Ort, wo du geschaffen bist, in dem Land deines Ursprungs“ liegt zugleich der Keim einer unbegreiflichen Offenbarung der Barmherzigkeit am Kreuz. „Und so wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden.“ Dort wurde die Sünde im Fleisch verurteilt. Dort wurde der Ursprung des Bösen verurteilt: satanischer Hochmut und teuflische Aufsässigkeit. Diese fanden in dem Menschen den Widerhall, der den Ungehorsam gegenüber Gott auf dieser Erde zum Vollmaß bringen sollte, als die Menschen schließlich sogar imstande waren, denjenigen, der als einzig Gehorsamer übrig blieb, ans Kreuz zu nageln.
Dort suchte Gott sich „das Land des Ursprungs“ der Sünde – und seiner Gerechtigkeit wurde voll entsprochen. Dort konnte daraufhin das Schwert, das einst der verderbende Engel über Jerusalem gezückt hatte, als das Feuer aus dem Himmel auf das Brandopfer fuhr, auch wieder in die Scheide gesteckt werden.
Gott kennt nur eine Möglichkeit, in seinen unanfechtbaren Regierungswegen mit dieser Erde zum Ende zu kommen: Zurück zur Quelle des Bösen zu kehren und dort Gericht zu üben. Wir erwägen zu oft den Nutzen für uns und unsere Umgebung. „Unser Vater ist alt, und kein Mann ist im Land, um zu uns einzugehen nach der Weise aller Welt“, erklärte die ältere Tochter Lots ihrer jüngeren Schwester. Solche Ausflüchte verursachen im Leben mehr Übel als Niedergeschlagenheit vor dem Angesicht Gottes. Gott aber kann und möchte seine richtende Hand von uns abwenden, nur müssen wir dann zu dem Ausgangspunkt der Sünde zurückkehren.