Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 16
In Kapitel 12 haben wir gesehen, wie Gott Israel als ein widerspenstiges Haus ansprach, in Kapitel 13 die Propheten und Prophetinnen, in Kapitel 14 die Ältesten. Hier in Kapitel 16 lesen wir die Worte: „Menschensohn, tu Jerusalem seine Gräuel kund“ (V. 1).
Schon im vorhergehenden Kapitel stehen die Einwohner Jerusalems im Vordergrund als Mittelpunt des religiösen Systems in jenen Tagen. In unserem Kapitel sehen wir Jerusalems Ursprung und sein Verhalten. Hier wird Gott uns sagen, was Er über Jerusalem weiß. Das haben noch keine Ausgrabungen bestätigt, doch braucht der Gläubige eine Bestätigung durch Ausgrabungen?
„Dein Ursprung und deine Abstammung ist aus dem Land der Kanaaniter“ (V. 3). Das weist uns auf die Völkertafel 1. Mose 10 hin. In den Versen 6–20 sind dort die Söhne Hams aufgeführt. Der letzte der vier Söhne Hams heißt Kanaan. Die Tatsache, dass er ganz hinten steht, bedeutet nicht, dass er auch der jüngste der vier war, es bedeutet wohl, dass er der moralisch Niedrigste war. Kanaan bedeutet „Kaufmann“, was zweifellos damit zusammenhängt, dass sie sich in den 700 Jahren ihres Bestehens als Volk, bevor sie ausgerottet wurden, dem Handel widmeten.
Die Geburt und der Ursprung Jerusalems liegt im Land der Kanaaniter: In 1. Mose 10,15 werden die Söhne Kanaans erwähnt, und dann steht der Jebusiter, der Bewohner Jerusalems und seiner Umgebung, zwischen Heth und dem Amoriter. Ähnlich ist es in 4. Mose 13,29: „und die Hethiter und die Jebusiter und die Amoriter wohnen auf dem Gebirge“. Wenn es also hier heißt, dass der Vater ein Amoriter und die Mutter eine Hethiterin war, so geht aus diesen Texten klar hervor, dass hier ein Hinweis auf den Beginn der Existenz von Jebus und den Jebusitern zu finden ist: Aus einer Mischung von hethitischem und amoritischem Blut wurde der Stadtstaat Jebus geboren.
Doch was für einen verächtlichen Anfang hatte diese Niederlassung dieses Jebus, das spätere Jerusalem: „als du geboren wurdest, wurde dein Nabel nicht abgeschnitten“ (V. 4) – statt wie jedes andere Volk oder jeder andere Stamm auf einen Moment unabhängiger Anfänge verweisen zu können, lag auf Jebus von Anfang an der Stempel der Unselbständigkeit und Abhängigkeit. Es wurde „auf das freie Feld geworfen, vor Abscheu an deinem Leben, an dem Tag, als du geboren wurdest“ (V. 5). Nun waren die Kanaaniter wirklich an abscheuliche Dinge gewöhnt. Doch wenn dies der Anfang von Jebus war, über den sich die Schrift und die Geschichte sonst in geheimnisvolles Schweigen hüllt, dann dürfen wir wohl annehmen, dass ein ekelhafter Anfang die Geschichte von Jebus einläutete.
Dann folgt ein merkwürdiger Ausdruck: „Da ging ich an dir vorüber“ (V. 6). Hiob sagte: „Siehe, er geht an mir vorüber, und ich sehe ihn nicht, und er zieht vorbei, und ich bemerke ihn nicht“ (Kap. 9,11). Gott kann sein Vorübergehen in einen geheimnisvollen Schleier hüllen, so dass Menschen es nicht bemerken. Er kann im Vorübergehen aber auch etwas von seiner Herrlichkeit zeigen, wie bei Mose und Elia. Von dem Herrn Jesus, Gott, offenbart im Fleisch, lesen wir oft, dass er „vorüberging“. Von Ihm heißt es in Johannes 9,1: „Und als er vorüberging, sah er einen Menschen, blind von Geburt.“ Das heißt: Er hatte im vorhergehenden Kapitel 8 etwas von der Herrlichkeit der Herr vorgestellt. Und auch von der Herrlichkeit der Offenbarung in und aus Jebus heraus, von der wir jetzt sprechen werden, und über die sich Abraham freute.
Er ging an ihr vorüber, als Jebus in jenem erbärmlichen Zustand war, wie wir oben gesehen haben. Unter welchen Umständen dies geschah, verrät die Heilige Schrift nicht. Sie sagt, dass Er zu Abraham als „der Gott der Herrlichkeit“ kam (Apg 7,2). Doch wie der erste Kontakt zwischen Jebus und Gott in der Person seines Dieners zustandekam, der so groß war, dass Abraham, der Patriarch, ihm den Zehnten der Beute gab, ist uns unbekannt. Wenn wir den Rabbinern Glauben schenken und Melchisedek, der König von Salem (d. h. Jebus, später Jerusalem, vgl. 1. Chr 11,4.5 mit Ps 76,3), ein Semit inmitten der Kanaaniter war, ist es durchaus möglich, dass dieser Priesterkönig, als er einmal an Jebus vorbeikam, ihren elenden Zustand erblickte und eine göttliche Botschaft ihn beauftragte, sie im Namen Gottes, des Allerhöchsten, zum „Leben“ zu erwecken. Auf jeden Fall ist es unmöglich, dass die Bibel ihn „König von Salem“ nennt und in Hebräer 7,2 hinzufügt „das heißt: König des Friedens“, wenn die Situation in Jebus während seiner Regierungszeit so ekelhaft geblieben wäre, wie sie uns in den Versen 3–5 beschrieben wird. Es muss ein Leben aus dem moralischen Tod für Jerusalem gewesen sein, und zwar in der Zeit, als dieser erhabene Heilige damals dort in Gerechtigkeit und Frieden herrschte. Zweifellos fand Melchisedek dort keine Bedingungen vor, die den natürlichen Menschen anziehen würden, sich dort niederzulassen und die geistliche und bürgerliche Herrschaft zu übernehmen. Es bedurfte einiger Anstrengungen des großen Reformators Farel, um Calvin zu überreden, im Namen des Herrn nach Genf zu kommen und dort die Zügel in die Hand zu nehmen. Doch wenn diese kanaanäische Stadt im Blut zappelte, als die Zeit der Heimsuchung für sie gekommen war, wird es viel schlimmer gewesen sein als im christianisierten Genf.
Als Abraham Kedorlaomer und die mit ihm verbündeten Könige besiegt hatte und auf dem Rückweg durch das Tal der Könige in der Nähe von Jerusalem zog, kam ihm Melchisedek aus der Stadt mit Brot und Wein entgegen. Diese wundersame Begebenheit war von solcher Bedeutung, dass der Herr Jesus in Johannes 8 sagt, Abraham habe seinen Tag gesehen. Das heißt, so wie Melchisedek Abraham, dem ermüdeten Krieger, von Jerusalem aus begegnete, wird der Herr Jesus seinem ermüdeten Überrest bald vom Himmel aus mit Kraft und Freude begegnen. Dann wird die Freude des Überrests groß sein. Und die Freude derer, die Ihn aus dem Heiligtum und aus Jerusalem begleiten werden, wird nicht minder groß sein. Wir können uns also vorstellen, dass der Tag, der für Abraham ein Freudentag war, es auch für die Jebusiter war, die an diesem Ereignis Anteil nahmen.
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Dann wird in Kapitel 16 nach diesem Wort des Lebens über Jerusalem eine Zeit beschrieben, in der die Stadt vom Kind zur reifen, heiratsfähigen Jungfrau heranwuchs. Eine Zeit, in der Gott in der Vorsehung alles zusammenwirken ließ, damit diese Frau ihr volles Auftreten entfalten konnte, wobei sie aber nichts dazu selbst dazu beitrug. Seltsame Ähnlichkeit mit den Angaben, die uns die Bibel über Jerusalem von seinem ersten Erwachen bis zu dem Zeitpunkt gibt, an dem der Herrn sie sich als sein Eigentum begehrte und annahm: „du wuchsest heran und wurdest groß, und du gelangtest zu höchster Anmut“ (V. 7). Wir lesen zwar in Richter 1,8, dass die Kinder Israel Jerusalem einnahmen und die Stadt in Brand steckten, aber dies scheint keine vollständige Zerstörung der Stadt und ihrer Befestigungen gewesen zu sein. Zumindest lesen wir in Vers 21: „Aber die Kinder Benjamins vertrieben die Jebusiter, die Bewohner von Jerusalem nicht; und die Jebusiter haben bei den Kindern Benjamin in Jerusalem gewohnt bis auf diesen Tag“.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Geschichte des Leviten aus Richter 19. Als er und seine Nebenfrau auf dem Heimweg in der Nähe von Jebus sind, ist es Abend geworden. Angesichts der Gefahren der Nacht macht sein Knabe den Vorschlag, „in diese Stadt der Jebusiter einkehren und darin übernachten“ (V. 11). Das beweist zweierlei: Erstens hatten die Kinder Israels dort nichts mehr zu suchen (V. 12), sie ist eine fremde Stadt, die nicht zu den Kindern Israels gehört. Zweitens vermittelte sie im Vorübergehen den Eindruck von Sicherheit und Schutz vor den Gefahren der Nacht.
In den Tagen Davids gelangte Jebus zu „höchster Anmut“. Die Bastionen oder Türme auf Jerusalems Mauer (vgl. Hld 8,10) haben sich gebildet. Ihr Haar ist die starke Mauer, die die ursprünglich schwache und durchsichtige Palisade oder den Zaun aus Lehm ersetzt hat. Krüppel und Blinde auf den Mauern reichen für ihre Uneinnehmbarkeit aus, und David muss nur erahnen, was sich hinter einer von außerhalb der Stadt sichtbaren Wasserleitung verbirgt, was der Gedankengang in 2. Samuel 5,8 nahelegt: „Wer die Jebusiter schlägt und die Wasserleitung erreicht und die Lahmen und die Blinden, die der Seele Davids verhasst sind!“
„Aber du warst nackt und bloß“ (V. 7). Als uneinnehmbare Festung fehlte Jebus jede Schönheit und Pracht, die andere Städte im Nahen Osten auszeichneten. Es gab keine prächtigen Tempel oder Paläste. Die Pracht und der Prunk der Städte Ägyptens, Babylons, Philistäas, Tyrus und Äthiopiens wurden bereits weithin gepriesen (Ps 87,4), und sie brachten berühmte Persönlichkeiten hervor, als Jerusalem noch gar nicht dazu zählte. Außerdem liegt sie neben einer Truppenverkehrsstraße. Abraham war auf seinen Zügen daran vorbeigekommen, als Melchisedek ihm nicht von der Stadt aus entgegengekommen war. Der Levit in Richter 19 geht daran vorbei. Der zentrale Punkt seit den Tagen ihres Einzugs ist für die Israeliten das alte Sichem, und als die Vertreter der zehn Stämme zu David nach Hebron kommen und ihm die Herrschaft anbieten, ist es offensichtlich, dass er von Hebron nach Sichem hinaufziehen und dort den Sitz seiner Herrschaft über ganz Juda und Israel errichten sollte.
Aber siehe da, in diesem Augenblick kommt der Herr zum zweiten Mal an der Stadt seiner Liebe vorbei. „Und ich ging an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war die Zeit der Liebe“ (V. 8). Es war nicht David, der Jerusalem begehrte, sondern in David erfüllte sich das eigene Verlangen Gottes nach Jerusalem: „Denn der Herr hat Zion erwählt, hat es begehrt zu seiner Wohnstätte: Dies ist meine Ruhe auf ewig; hier will ich wohnen, denn ich habe es begehrt“ (Ps 132,3.14).
Von der politikwissenschaftlichen Seite her wird Davids Begehren, dem Herrn in Jerusalem einen Platz zu geben, gern als Spiel mit dem Eigennutz dargestellt. Die Schönheit der Geschichte zwischen der Einnahme Jerusalems durch David und der Einweihung des Tempels durch Salomo (eigentlich durch den Herrn selbst) geht dabei völlig verloren. Der Herr wird dann nur noch zu einem Haus- oder Familiengott, der die herrschaftlichen Bestrebungen eines Hirtenkönigs bedient. Die vielen Psalmen, die sich auf dieses Thema beziehen, verlieren sowohl ihren prophetischen als auch ihren moralischen Wert völlig und werden zu nichts anderem als Gesängen, die von kriecherisch-unterwürfigen Priestern für ihn gemacht werden, die nach der Pfeife ihres Königs tanzen.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als das. Gerade in seinem Bestreben, dem Herrn einen Platz in Jerusalem zu bereiten, wird David immer wieder von Ihm gebremst und in seine Schranken verwiesen. Gott ist kein Jonadab, der auf Jehus Wagen steigt, um mit ihm zu fahren und seinen Eifer für den Herrn zu sehen (2. Kön 10). Außerdem ist alles nur ein Vorspiel zu jener Zeit, wenn sich erfüllt: „Unbewusst setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines willigen Volkes“ (Hld 6,12).
Doch für Jerusalem ist es „die Zeit der Liebe“. Er breitete den Zipfel seines Gewandes über sie aus und bedeckte ihre Blöße. Das entspricht dem, worum Ruth Boas bat: „so breite deine Flügel aus über deine Magd, denn du bist ein Blutsverwandter“ (Kap. 3,9). „Der Herr hat David in Wahrheit geschworen, er wird nicht davon abweichen“. Dieser Eid, der Jerusalem geschworen wurde, steht in engem Zusammenhang mit dem Eid, der dem Haus David geschworen wurde (siehe Ps 132,11-14).
„Und du wurdest mein“. – „Aber David nahm die Burg Zion ein, das ist die Stadt Davids“, lesen wir in 2. Samuel 5,7. Und in 1. Chronika 11,5.7 heißt es: „Aber David nahm die Burg Zion ein, das ist die Stadt Davids. … Und David wohnte in der Burg; darum nannte man sie Stadt Davids.“ In dem Besitz der Stadt Davids sehen wir den Besitz, den der Herr von ihr ergreift. Und das wird allen offenbar, wenn später die Tenne des Jebusiters Ornan zu dem Ort wird, an dem der prächtige Tempel Salomos entsteht und der Herr sich hier niederlässt. Die Verse 9 und 14 beschreiben uns den Aufstieg dieser Stadt der Jebusiter, der Stadt Jerusalem. Sie bringt es zu königlicher Würde (V. 13), und ein Ruf geht von ihr aus unter die Völker wegen ihrer Schönheit.
In den Tagen ihrer Trauer werden die Menschen später an diese herrliche Zeit zurückdenken. In Klagelieder 2,15 sagen alle, die an dem zerstörten Jerusalem vorbeigehen, kopfschüttelnd: „Ist das die Stadt, von der man sprach: Der Schönheit Vollendung, eine Freude der ganzen Erde?“
Und nun folgt der Kernpunkt des ganzen Arguments und der Grund für den heftigen Vorwurf des nächsten Abschnitts: Diese Schönheit war vollkommen wegen der Herrlichkeit des Herrn, die Er auf sie gelegt hatte. Diese Schönheit steht in völligem Gegensatz zu der Schönheit anderer Städte jener Zeit im Nahen Osten. Als die Königin von Scheba von der wunderbaren Schönheit Jerusalems erfuhr, die von der Stadt abstrahlte, heißt es ausdrücklich, dass es um den Ruf Salomos „wegen des Namens des Herrn“ ging (1. Kön 10,1). Das machte die Stadt so schön, und das bedeutete, dass diese Schönheit nur durch eine allgemeine Trennung von den Ideen und Grundsätzen der umliegenden Nationen bewahrt werden konnte, die in deren Städten angewandt und zur Schau gestellt wurden.
Der traurige Bericht über ihre Untreue beginnt mit den Worten: „Aber du vertrautest auf deine Schönheit“ (V. 15). Das traurige Prinzip, das auch in der Geschichte der Versammlung auf der Erde offenbart wird. (Wir hoffen, darauf zurückzukommen.) „Und du hurtest auf deinen Ruf hin und gossest deine Hurereien aus über jeden Vorübergehenden: Ihm wurde sie zuteil.“ Wie wir oben gesehen haben, gab es in den Schichten der alten befestigten Stadt Jebus keine Anziehungskraft für den Vorübergehenden; wenn es nicht unbedingt notwendig war, zog er es vor, nicht hineinzugehen. Jetzt ist das anders. Diese Herrlichkeit, die in Verbindung mit dem Namen des Herrn steht, der in Jerusalem wohnt, bietet sie den Völkern an. Die Kinder, die sie dem Herrn geboren hatte – und die, wie die Mutter des kleinen Samuel dem Herrn geliehen werden sollten (1. Sam 2,18) –, werden den Mannsbildern übergeben, die sie selbst errichtet hat und mit denen sie gehurt hat. Sie kehrt in Anlehnung an den abscheulichen kanaanäischen Kult zu dem zurück, von dem der Herr sie befreit hatte, und zappelt in ihrem Blut. So wird es der Christenheit nach den Worten des Petrus bald ergehen: „Der Hund kehrte um zu seinem eigenen Gespei und die gewaschene Sau zum Wälzen im Kot“ (2. Pet 2,22).
Jerusalem baute sich Gewölbe und einen hohen Platz auf allen Straßen (V. 24). Ahas „machte sich Altäre an allen Ecken in Jerusalem“, lesen wir in 2. Chronika 28,24. Jerusalem stand Athen nicht nach, von dem wir in Apostelgeschichte 17 lesen, dass die Stadt voller Götzen war. Aber dort verriet es eine Stadt, die nie die Erkenntnis des wahren Gottes besessen hatte. Hier aber ist es die Stadt, die vom Herrn zur Höhe des Ortes erhoben wurde, den Er als seine Wohnung erwählt hatte.
„Du hurtest mit den Söhnen Ägyptens, deinen Nachbarn, die groß an Fleisch sind“ (V. 26). Das war der Anfang. Zweifellos hat Salomos Beziehung zu Ägypten, sowohl in Bezug auf die familiäre Beziehung als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, dies beeinflusst. Der Kälberdienst in Dan und Bethel hängt damit zusammen. Der Herrstreckt in diesem Zusammenhang seine Hand gegen Jerusalem aus und benutzt die Philister, um das ihr zugeteilte Land zu verringern. Dies findet unter Joram statt (2. Chr 21,17). Das geschah auch unter Achas, den wir gerade im Zusammenhang mit der Errichtung von Altären „an allen Ecken in Jerusalems“ zitiert haben. In 2. Chronika 28,18 lesen wir, dass die Philister in die Städte der Niederung und im Süden Judas eingefallen waren, und es werden die Orte genannt, die sie einnahmen und bewohnten. Wörtlich heißt es, dass dadurch das Jerusalem zugewiesene Gebiet verkleinert wird.
Es wird hinzugefügt, dass die Töchter der Philister sich vor dem unzüchtigen Weg Jerusalems schämten (V. 27). Das heißt, das religiös-moralische Empfinden der Philister, die den Götzen dienten und diesen über Generationen hinweg treublieben, wurde durch das verletzt, was sie von Jerusalem sahen.
In Vers 28 ist die Rede von Hurerei mit den Söhnen Assyriens. Dies ist uns durch die eindrucksvolle Geschichte von Ahas in 2. Könige 16 gut bekannt, durch seine Untreue gegenüber Tiglat-Pileser und seine Nachahmung des Altars, den er in Damaskus sah.
Schließlich folgt in Vers 29 die Hurerei mit dem Händlerland Chaldäa. In den Tagen des Wohlstands von Hiskia stellen diese Kaufleute, diese gerissenen Politiker, einen Kontakt her, indem sie im Namen von Berodak-Baladan, dem König von Babylon, Briefe und ein Geschenk an Hiskia senden. Dieser Gedankenaustausch (siehe 2. Kön 20,13) wurde von Manasse, dem Sohn Hiskias, ausgenutzt, um den chaldäischen Kult in Juda einzuführen.
Die Beispiele, die uns die Heilige Schrift in den oben erwähnten Abschnitten aus den Büchern der Könige und der Chronika gibt, sind nur ein Rückblick auf die gesamte kultische Infiltration der umliegenden Völker in Juda und Jerusalem. Gott sagt dann in Vers 30 zusammenfassend: „Wie schmachtend ist dein Herz!, spricht der Herr, Herr, indem du dies alles tust, das Tun eines ausgelassenen Hurenweibes“. Und dann weist er auf den Unterschied zu einer normalen Prostituierten hin, die für das Anbieten ihres Körpers einen bestimmten Preis erhält. „Und es war bei dir mit deinen Hurereien umgekehrt wie bei anderen Frauen, dass man nicht dir nachhurte; denn weil du Lohn gabst und dir kein Lohn gegeben wurde, war es bei dir umgekehrt“ (V. 34). So war es auch: Die umliegenden Völker übernahmen in ihren Kulten nichts von Israel. Was immer wir an Vorstellungen Gottes bei diesen Völkern finden, stammt aus den Überlieferungen der Stammväter nach der Sintflut. Sie haben nichts vom theokratischen Israel übernommen, während Israel alles von ihnen übernommen hat.
Dasselbe finden wir in der Christenheit, auf die wir in einem späteren Artikel zurückkommen wollen. Nicht die griechisch-philosophische Welt ist vom Christentum beeinflusst worden, sondern das Christentum ist schon bei den Kirchenvätern von heidnisch-philosophischem Gedankengut durchdrungen, und in die Marienverehrung und das Einführen christlicher Feiertage mit ihren Zeremonien sind rein heidnische Motive eingeflossen. Motive, die in ihren Ursprüngen noch weiter zurückliegen als die griechische Zivilisation oder die Götterlehre, die aus jenem Chaldäa stammen, mit dem auch Jerusalem gehurt hat.
Nun ergeht das Wort des Herrn an die Stadt Jerusalem, die als Ehebrecherin dargestellt wird. Ihr werden die Folgen ihres Verhaltens und ihrer Taten vor Augen geführt. Doch bevor wir dieses Wort überdenken, müssen wir einen Moment innehalten, um die moralische Anwendung des Wortes auf die Versammlung zu betrachten.
Wenn wir hier von der Versammlung sprechen, geht es um die Versammlung in ihrer Verantwortung hier auf der Erde. Dann sehen wir, wie sie versagt hat und verdorben ist. Nicht die Versammlung nach den ewigen Ratschlüssen in der Erwählung der Gnade und der erlösenden Liebe des Vaters und des Sohnes, sondern wie es in Vers 8 von Jerusalem heißt: „Und ich ging an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war die Zeit der Liebe“. Nicht der Herr Jesus, der als der Kaufmann, der kostbare Perlen sucht, eine Perle von großem Wert findet, und das schon vor Grundlegung der Welt, sondern Er als derjenige, der den richtigen, günstigen Zeitpunkt (griech. kairos) für bestimmte Handlungen kennt. Er erkennt, was im Hinblick auf die Versammlung die Zeit der Liebe ist und Paulus wird veranlasst, an die Korinther zu schreiben (nachdem Israel die Gnade verworfen hatte):
„,Zur angenehmen Zeit habe ich dich erhört, und am Tag des Heils habe ich dir geholfen.‘ Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (2. Kor 6,2).
In dieser „Zeit der Liebe“, schmückt Er die Versammlung durch den Dienst der Apostel, besonders durch ihn, und zwar mit allem, was sie reich und rein machen kann.
„Und dein Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit, denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt hatte“ (Hes 16,14). Diese Schönheit konnte jedoch nur in vollkommener Trennung von allen Praktiken und Systemen des Heidentums, aus denen die Gläubigen hervorgegangen waren, erhalten werden. Weder die östliche Mystik noch die griechische Philosophie spielten dabei eine Rolle. Es war „meine Herrlichkeit, die ich auf euch gelegt hatte“.
Wir wissen aus der Geschichte, was geschehen ist. Wir finden die gleichen einseitigen Handlungen, nämlich wie wir sie in Bezug auf Jerusalem und die umliegenden Völker vorfinden. In keiner Hinsicht haben die Vorstellungswelten, die das Christentum umgaben, sich „ausgezahlt“ (d. h. der Versammlung die Möglichkeit gegeben, die Gedanken Gottes, die Lehren der Apostel, auf Kosten ihrer eigenen einzuführen), sondern östliche Mystik, griechische Philosophie und germanische Vorstellungen infiltrierten das Christentum völlig. Daher lautet die Ermahnung des Paulus an die Völker in 2. Korinther 6,1: „dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt“, doch das wurde völlig ignoriert.
Nun aber handelte Gott mit Jerusalem, und zwar nach dem Gesetz der Ehebrecher und derer, die Blut vergießen, wie es in Vers 38 heißt: „Und ich werde dich richten nach den Rechten der Ehebrecherinnen und der Blutvergießerinnen und dich zum Blut des Grimmes und der Eifersucht machen.“ Dies ist ein wichtiger Punkt in den Wegen Gottes in all seinem Handeln. In 1. Korinther 3,13 heißt es, dass Gott beurteilt, welcherart das Werk eines jeden Menschen sein wird. Das heißt, eine bestimmte Art und Weise, Dinge zu tun, sei es von Gläubigen oder Ungläubigen, bringt eine bestimmte Form des Gerichts in den Wegen Gottes mit den Menschen mit sich. Und zwar so, dass in diesem Gericht die zuvor begangene Sünde erkannt und Gott gerechtfertigt wird. Das finden wir beispielsweise in Matthäus 24,49-51: „so wird der Herr jenes Knechtes kommen an einem Tag, an dem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß, und wird ihn entzweischneiden und ihm sein Teil geben mit den Heuchlern: Dort wird das Weinen und das Zähneknirschen sein.“ Der Knecht wird nicht an einem hohen Galgen aufgehängt – das rechtfertigte Gottes Gericht an Haman, bei dem der Hochmut vor dem Fall kam (Est 7,10). Das Gericht wird individuell entsprechend Zwiespältigkeit des Menschen geschehen: In diesem Fall das (1) Vertrauen seines Herrn und (2) die Freundschaft der Trunkenbolde genießen zu wollen.
So ist es auch hier: Da sie Blöße vor ihren Liebhabern aufdeckte, wird ihre die Blöße von Gott am Tag der Heimsuchung aufgedeckt. Was Joseph den Brüdern einst vorwarf, als sie nach Ägypten kamen: „Ihr seid Kundschafter; um zu sehen, wo das Land offen ist, seid ihr gekommen“ (1. Mo 42,9.12), so wird es den umliegenden Völkern leicht gemacht, ohne dass sie ausspioniert werden und ohne dass sie gesehen werden: Gott selbst zeigt den Feinden die Schwachstellen in den Verteidigungslinien auf.
Und dann werden drei Strafen erwähnt, die eine Hure in Israel bekam. Erstens wurde sie nackt an den Pranger gebunden und damit den Vorwürfen der Umstehenden ausgeliefert. Siehe Hosea 2,5: „damit ich sie nicht nackt ausziehe und sie hinstelle wie an dem Tag, als sie geboren wurde“. Nun, dass dies mit Jerusalem geschah, wissen wir aus den Klageliedern und vielen Stellen in den Psalmen.
Danach wurde sie gesteinigt; das lernen wir aus 3. Mose 20,21; 5. Mose 22,21.22 und Hiob 8,5. Hier gibt uns das Buch der Psalmen wichtige Hinweise. Nicht nur die Gläubigen, in deren Herzen bald Traurigkeit und Demut durch den Geist Christi geweckt werden, erkennen den nackten und trostlosen Zustand Jerusalems. Doch durch David in seinem Ehebruch mit Bathseba erkennt der Überrest Jerusalems, dass das Gesetz ihr als Ehebrecherin keinen anderen Weg offen lässt, als den der Steinigung. „Denn du hast kein Gefallen an Schlachtopfern, sonst gäbe ich sie; an Brandopfern hast du kein Wohlgefallen“ (Ps 51,18). Für andere Sünden sah das Gesetz ein Opfer vor, aber nicht für die Sünde des Ehebruchs. Doch sie berufen sich auf Gottes Gnade und kommen mit zerbrochenem und zerschlagenem Herzen, wie die wahren Armen des Geistes aus Matthäus 5,3, und schreien: „Tu Zion Gutes in deiner Gunst, baue die Mauern Jerusalems!“ (Ps 51,20). Die Trümmer der Mauern Jerusalems liegen da wie der Steinhaufen, unter dem die gesteinigte Hure ihren letzten Atemzug getan hat. Doch da sie die Gerechtigkeit der göttlichen Gerichte erkannt hat, und mit „dem Tal Achor“, dem Ort und der Tatsache der Steinigung als Tor der Hoffnung, wird sie von Gott aufgrund des Werkes am Kreuz von Golgatha in Gnaden angenommen.
Schließlich wurde die hurende Tochter eines Priesters mit Feuer verbrannt (3. Mo 21,9). Nachdem Jerusalem nackt und entblößt zurückgelassen wurde (V. 39), wurde sie gesteinigt (V. 40). Auch wurden die Häuser mit Feuer verbrannt (V. 41). Die Tochter eines Priesters, die im täglichen Umgang mit diesem Feuer des Gerichts auf dem Brandopferaltar mehr Verständnis für die Heiligkeit Gottes haben sollte als ein gewöhnlicher Mensch aus dem Volk, war von diesem besonderen Gericht betroffen. Ein Gericht, das in 2. Könige 25,9 bei der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar beschrieben wird, und die Eroberung des Titus im Jahre 70 n. Chr. Die Plünderung kann mit Sacharja 14,2 in Verbindung gebracht wird.
Im nächsten Teil unseres Kapitels wird uns etwas über Samaria und Sodom, Jerusalems Schwesterstädte, mitgeteilt. Beide sind wie auch Jerusalem kanaanäischen Ursprungs. Nach Vers 46 wurde Samaria früher als Jebus gegründet, Sodom noch später. Der Gläubige braucht dies nicht durch Ausgrabungen bestätigt bekommen; ihm genügt die Mitteilung des Wortes Gottes. Er braucht auch keine Erklärungen über die Erfüllung der Ratschlüsse der Gnade Gottes hinsichtlich der Wiederherstellung Sodoms und Samarias. Viel wichtiger sind für uns die moralischen Belehrungen, die in diesen Versen enthalten sind. Und dann ist es höchst bedenklich, dass wir 1300 Jahre nach den Ereignissen im ersten Buch Mose über die schrecklichen moralischen Auswüchse jener Zeit lesen, dass Gott hier in Hesekiel den Boden freilegt, auf dem sie wuchsen: Stolz, Überfluss an Brot und sorglose Ruhe. Oder wie unser Heiland in den Tagen seiner Erniedrigung sagte: „Sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten“ (Lk 17,28). Eine vollkommen geordnete Rechtsordnung, in der Handel und Lebensunterhalt gesichert waren. Sicherlich werden die Börsenwerte, um es mit unseren Worten auszudrücken, nicht stabiler gewesen sein als an dem Tag, an dem Lot „aus Sodom herausging“ (Lk 17,29). Doch Gott fügt hinzu: „aber die Hand des Elenden und des Armen stärkte sie nicht“ (Hes 16,49). Die Haltung gegenüber den Elenden und Armen ist für Gott immer ein Prüfstein für den inneren Zustand. In unseren Tagen hört man so oft die Behauptung: Es gibt keine Armen in dieser Zeit des Wohlstandes. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. „Denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen wohltun“, sagt der Herr Jesus zu den Jüngern (Mk 14,7).
„Du habt deine Schwestern gerechtfertigt durch alle deine Gräueln, die du verübt hast“, sagt Gott zu Jerusalem (V. 51). Das bedeutet natürlich nicht, dass Samaria und Sodom wegen Jerusalems Unzucht in Gottes Augen gerecht waren. Aber es bedeutet, dass Jerusalem wegen all dieser Dinge das moralische Recht verlor, sie vor Gericht zu stellen: „sie sind gerechter als du“ (V. 52).
Das erinnert uns an Juda, der sich zum Richter über seine Schwiegertochter aufschwingt, als er in völliger Unkenntnis seiner eigenen Schuld sagt: „Führt sie hinaus, dass sie verbrannt werde!“ (1. Mo 38,24). Auf ihre entwaffnenden Worte: „Erkenne doch, wem dieser Siegelring und diese Schnur und dieser Stab gehören!“, kann Juda nur antworten: „Sie ist gerechter als ich“ (V. 25.26). Und wenn Juda sich schämt, dass Tamar auf diese Weise von ihm gerechtfertigt wurde, so sagt Gott zu Jerusalem in Vers 52: „Und so werde auch du zuschanden und trage deine Schmach, weil du deine Schwestern gerechtfertigt hast.“
Zwei Dinge werden von Jerusalem in Bezug auf ihre Haltung gegenüber ihren beiden Schwestern gesagt. Erstens, dass sie sie verurteilt hat (V. 52); zweitens „Und Sodom, deine Schwester, wurde nicht erwähnt in deinem Mund am Tag deines Stolzes“ (V. 56). Zwei Dinge, die jedem Christen heute ins Gewissen reden sollten, der sich in einer noch bevorrechtigteren Stellung befindet als Jerusalem in den damaligen Tagen. Auf der einen Seite steht die Verurteilung der Schwester, auf der anderen Seite die Scham, ihren Namen auszusprechen. Sollte uns das nicht auch viel sagen?
Ich will ein Beispiel nennen: In den Jahrhunderten der Kirchengeschichte, die hinter uns liegen, ist vieles inmitten der Christenheit geschehen, was mit dem Licht, das wir heute besitzen, zu verurteilen ist. Verfolgungen von Irrlehrern haben unter Sanktionierung derer stattgefunden, deren Frömmigkeit ausgerufen wurde. Es wurden Kreuzzüge ausgerufen und Massaker im Heiligen Land von denen verübt, die mit dem Segen des Papstes und der Bischöfe zu Ruhm und Ehre im Nahen Osten zogen. Hier können wir nun ebenso gut urteilen wie in Jerusalem. Doch die Frage ist, ob wir mit dem vielen Licht, das wir über Gottes Gedanken über all das erhalten haben, und der Verwirklichung dieser Gedanken in unserem Leben als Gläubige, mit dem vergleichen, was sie mit dem Licht, das sie empfangen haben, daraus gemacht haben. Ist dann diese Haltung gerechtfertigt? Werden wir sie später bei der Offenbarung vor dem Richterstuhl Christi richten, oder kann es sein, dass ihre moralische Offenbarung, nicht durch das Licht, das wir jetzthaben, sondern das sie damals hatten, uns richtet? Noch gerade heute habe ich von Luther gelesen, dass er bereits ein erwachsener Mann war. Als er das sagen musste, hatte er noch nie eine Bibel gesehen. Und dabei war er damals schon ein studierter Mann. Was war denn das Licht des einfachen Mannes bis zu den Tagen der Reformation? Und war ihre Offenbarung damals so, dass uns ein Urteil zu steht?
„Und Sodom, deine Schwester, wurde nicht erwähnt in deinem Mund am Tag deines Stolzes, ehe deine Bosheit aufgedeckt wurde“, sagt Gott zu Jerusalem (V. 56.57). Es ist demütigend für Jerusalem und allgemein für den Menschen von Natur aus, dass Gott zuerst einmal unsere eigene Schlechtigkeit aufdecken und uns in eine Zeit der Schmach und Verachtung bringen muss (V. 57), bevor sich unser Herz öffnet. Als der Geist Gottes am Herzen und Gewissen der Hure Rahab in Jericho wirkte, verlangte ihr Herz danach, dass auch ihre Eltern, Brüdern und Schwestern gerettet würden: „Und nun schwört mir doch bei dem Herrn, weil ich Güte an euch erwiesen habe, dass auch ihr an dem Haus meines Vaters Güte erweisen werdet; und gebt mir ein zuverlässiges Zeichen, und lasst meinen Vater und meine Mutter und meine Brüder und meine Schwestern und alle ihre Angehörigen am Leben und errettet unsere Seelen vom Tod“ (Jos 2,12.13).
Es ist herrlich, dass wir in der Schrift finden, dass das Wirken des Geistes im Überrest bald eine völlig veränderte Haltung gegenüber der Schwester Samaria bewirken wird. In Psalm 126,4 sagt der Überrest, wenn er an die zehn Stämme denkt: „Führe unsere Gefangenen zurück, Herr, wie Bäche im Mittagsland!“ Und im Hohenlied sagt die Braut voller Zärtlichkeit und Sorge um ihre einst geschmähte Schwester Samaria: „Was sollen wir mit unserer Schwester tun an dem Tag, da man um sie werben wird?“ (8,8). Und voller Liebe, um ihr von ihrer eigenen Stellung aus Versöhnung und Herrlichkeit mitzuteilen, gibt sie selbst die Antwort: „Wenn sie eine Mauer ist, so wollen wir eine Zinne aus Silber darauf bauen; und wenn sie eine Tür ist, so wollen wir sie mit einem Zedernbrett verschließen“ (8,9).
Schließlich finden wir im letzten Teil, ab Vers 60, wie die Sonne der freimächtigen Gnade Gottes erglänzt. Gott erinnert sich an den Bund mit Jerusalem in den Tagen ihrer Jugend. Dies ist die Gelegenheit für Gott, unseren Vätern Barmherzigkeit zu erweisen und sich an seinen heiligen Bund zu erinnern. Doch obwohl Gott seines Bund gedenkt, findet Er dennoch darin keinen Grund für ihre Wiederherstellung. Die Grundlage dafür findet Er in einem ewigen Bund, der nicht mit, sondern für Jerusalem geschlossen wurde. Jerusalem steht völlig außerhalb dieses Bundes, obwohl alle Segnungen dieses Bundes Jerusalem vollständig zugutekommen. Es ist ein Bund – wie Bruder Darby sagt – der souveränen Gnade der Erlösung und Vergebung beinhaltet. Seine Kraft und Beständigkeit liegt nicht in der Haltung Jerusalems, sondern im Blut Christi, das am Kreuz von Golgatha vergossen wurde. Deshalb dürfen auch wir am Tisch des Herrn an all diese Segnungen für Jerusalem denken und Ihm dafür danken. Denn im Kelch der Danksagung, den wir segnen, sehen wir ist das Blut dieses neuen Bundes.
Die Gnade Gottes, die Jerusalem aus all ihrem Elend befreit, ist so groß, dass sie auch Samaria und Sodom zurückbringen wird. So haben auch diese ehemals bösen Städte wie wir Anteil an den Segnungen des neuen Bundes. Doch Jerusalem hat einen besonderen Platz, den sie nicht haben. Gott schließt seinen Bund mit ihr (V. 62). Ihre älteren und ihre jüngeren Schwestern werden ihr als Töchter gegeben. Gott ist souverän in seiner erlösenden und vergebenden Gnade, aber auch in Bezug auf den bevorrechtigten Platz, den Er Jerusalem unter denen geben wird, die erlöst und denen vergeben ist. So wie Er in 1. Mose 17 souverän ist, sowohl im Blick auf den Segen für Ismael als auch auf das, was Er in Vers 21 hinzufügt: „Aber meinen Bund werde ich mit Isaak errichten, den Sara dir gebären wird um diese bestimmte Zeit im folgenden Jahr“. Ich glaube, dass das die Bedeutung von Vers 61 ist: „und ich sie dir zu Töchtern geben werde, aber nicht infolge deines Bundes.“
Im letzten Vers finden wir einen wunderbaren Ausdruck: „wenn ich dir alles vergebe, was du getan hast, spricht der Herr, Herr“. Dieses Wort „vergeben“ finden wir auch in 5. Mose 21,8 in Bezug auf den Erschlagenen, der auf dem Feld gefunden wurde, und es bedeutet eigentlich, für ihn Sühnung zu leisten. Wenn wir an „sühnen“ denken, kommt uns der Herr Jesus in der Gestalt des Hohenpriesters am großen Versöhnungstag in den Sinn. Doch hier ist das Besondere wie in 5. Mose 21, dass Gott selbst derjenige ist, der die Versöhnung bewirkt. In 5. Mose 21 ist der Herr Jesus der Erschlagene auf dem Feld, und die Versöhnung muss über (nicht durch) sein Blut erfolgen. In Hesekiel 16muss für einen Zustand der Schmach gesühnt werden, der im Gegensatz zu allen natürlichen Beziehungen steht, die Gott seinem Geschöpf gegeben hat. In Jeremia 3,1 heißt es: „Wenn ein Mann seine Frau entlässt und sie von ihm weggeht und die Frau eines anderen Mannes wird, darf er wieder zu ihr zurückkehren? Würde jenes Land nicht entweiht werden?“
Nun, in diesen Ausnahmefällen, sagt Gott, will Ich es sühnen. Und wir werden an die Kraft des griechischen Ausdrucks in Hebräer 1,3 erinnert: „nachdem er durch sich selbst die Reinigung von den Sünden bewirkt“. Bruder Darby sagt dazu: „Das Herbeiführen der Sühnung hat hier eine eigentümliche, wiederkehrende Kraft. Er hat es für sich selbst getan. Obwohl wir, die wir nur Sünder waren, den Nutzen davon haben, wurde das Werk durch seine eigene Person und sein eigenes Werk, ohne uns, vollbracht. Der rückbezügliche Sinn, der in dem griechischen Wort liegt, lässt das Werk zu dem zurückkehren, der es tut, und die Herrlichkeit des Werkes wird auf den zurückgeworfen, der es getan hat.“