Betrachtung über den Propheten Hesekiel

Kapitel 5

In diesem Kapitel geht der Heilige Geist nicht mehr auf die stellvertretenden Leiden des Herrn Jesus ein, sondern wir müssen nun unsere Blicke auf den wahren „Menschensohn“ richten; nur er ist unserer Aufmerksamkeit wert.

Hesekiel muss sich im 1. Vers ein scharfes Schwert nehmen.“ Als Schermesser sollst du es dir nehmen und damit über dein Haupt und über deinen Bart fahren.“ Bei den Juden galt üppiger Haarwuchs von Haupt und Bart als Schmuck, und mit dem Scheren oder gewaltsamen Ausreißen des Haares tastete man die Würde des Mannes an. Nehemia schreibt in Kapitel 13,25, dass er entrüstet war über die Juden, die fremde Frauen beherbergten, und rauft sie. Der Herr Jesus klagt in Jesaja 50, dass er seine Wangen vor den Raufenden verbergen musste. Der Aussätzige sollte zum Zeichen der Schande seinen Bart verhüllen (3. Mo 13,45). Hanun schmäht David in 2. Samuel 10, indem er seinen Knechten den Bart zur Hälfte abschneidet; diese Handlung kam einer Kriegserklärung gleich.

Der HERR besaß auch auf dieser Erde eine persönliche Zierde: Jerusalem. Kapitel 7,20 beschreibt sie uns: „Und seinen zierenden Schmuck, zur Hoffart hat es ihn gebraucht.“ Daniel 11 lässt den Schluss zu, dass es hierbei um Jerusalem geht, denn dreimal wird dort von dieser Zierde gesprochen. Zuerst sehen wir in Vers 16 Antiochus II Magnus, das ist Antiochus der Große, „im Lande der Zierde“ stehen. Bruder R. Brockhaus schreibt zurecht: „Wie traurig auch der Zustand des Volkes damals gewesen sein mag, er glich mehr einer Wüste als einem Garten, verheert und verwüstet, so blieb es doch in Gottes Augen „das Land der Zierde“; denn die Gnadenabsichten Gottes sind unbereubar.

Das zweite Mal zieht der König des Nordens, als Nachläufer des Antiochus II Magnus, in das „Land der Zierde“ ein (Vers 41). Schließlich wird das Land der Zierde näher in Vers 45 bezeichnet, wenn wir von demselben König lesen: „Und er wird sein Palastzelt aufschlagen zwischen dem Meere und dem Berge der heiligen Zierde.“ Was Bruder Brockhaus auf Vers 16 bezieht, können wir auch auf das Palästina und das Jerusalem zukünftiger Tage anwenden, in denen beide in äußerer Verwüstung liegen.

Wiederum stehen Vorbild und Wirklichkeit in schöner Harmonie, denn wir sehen in Hesekiel den Herrn Jesus, wie er eigenhändig den Schmuck ablegt und Haupthaar und Bart schert. Gott selbst sandte im Jahre 70 n. Chr. „seine Heere“ (Mt 22,7) nach Jerusalem, brachte jene Mörder um und steckte ihre Stadt in Brand. An den kahlen Stellen wird bald wieder Gras hervorsprießen. Von Simson lesen wir in Richter 16,22: „Aber das Haar seines Hauptes begann wieder zu wachsen, sobald es geschoren war.“

Der Glaube kann also davon ausgehen, dass für Israel und besonders für Jerusalem eine Zeit anbrechen wird, wo sie wieder die Zierde des HERRN auf der Erde sind. Psalm 48 beschreibt das in Vers 1 und 2: „Groß ist der HERR und sehr zu loben in der Stadt unseres Gottes, auf seinem heiligen Berge. Schön ragt empor, eine Freude der ganzen Erde, der Berg Zion an der Nordseite, die Stadt des großen Königs.“

Zu Recht lesen wir in einer Betrachtung über Hesekiel:“ Durch das Scheren in Vers 2 verliert man jeden Rang und Stand; es muss ein neuer Anfang kommen: neuer Schmuck muss hervorsprießen.“ Worauf basiert dieser neue Anfang von Jerusalem? Auf der Auferstehungskraft. Das Haar von Hesekiel steht in Kapitel 8,3 erneut vor unseren Augen. Nach Kapitel 1,1.2 ist es das erste Mal, dass wir wieder eine Datumsangabe haben, ein Zeichen, dass ein neuer Abschnitt in der Geschichte Hesekiels als Prophet einsetzt. Wir lesen seltsamerweise nichts von dem Haar seines Hauptes, sondern von einem Haarschopf seines Hauptes. Den auferstandenen Herrn zieren sozusagen jugendliche Kraft und Stärke; er ist sowohl der wahre Nasiräer von 4. Mose 6,5 als auch der Bräutigam von Hohelied 5,2.11. Diese jugendliche Kraft der Auferstehung, die Israel und Jerusalem nur von ihrem Messias und dem HERRN empfangen kann, wird so recht in dem Priesterdienst zum Ausdruck kommen, den sie in dem neuen Tempel ausüben werden (Kap. 44,20.21).

Gott hat sich zur Zeit von seinem Volk und von Jerusalem als dem Ort seiner Zierde auf der Erde abgewandt, aber gibt es für das Auge des Glaubens denn außer der Zeit der Erfüllung der Prophetie nichts mehr zu sehen?

Gott sei Dank, dass wir das Unterpfand für diese Zeit noch in Vers 3 finden: „Und du sollst davon eine kleine Zahl nehmen und in deine Rockzipfel binden.“ Hierbei wird an ein Oberkleid gedacht, das aus einem großen, viereckigen Stück dicker Wolle bestand und nach vorne hin offen getragen wurde. Es besaß an den Seiten nur zwei Schlitze für die Arme. Dies Kleidungsstück leistete den Israeliten manchen Dienst. Nachts wurde es als Decke benutzt (5. Mo 24,13; Jer 43,12); auch wurde es als Transportmittel verwendet (2. Mo 12,34; 1. Sam 21,9; 2. Kön 4,39; Hag 2,12).

Wenngleich der Überrest aus Israel nur wenige sind, so betrachtet der Herr Jesus als der wahre Sohn des Menschen sie doch als dieses Unterpfand. Sie sind in seinen Rockzipfel eingebunden. Abigail spricht von ihnen in 1. Samuel 25,29 wie von einem „Bündel der Lebendigen bei dem HERRN“. Daniel und seine drei Freunde waren in dem Rockzipfel verwahrt, als Hesekiel 5 sich zuerst erfüllte in der Belagerung, Einnahme und Wegführung der Bevölkerung Jerusalems.

In Esra und Nehemia finden wir sie wieder in den „Kindern der Gefangenschaft“. Maleachi schreibt von ihnen, dass sich alle, die den HERRN fürchteten, miteinander unterredeten und der HERR aufmerkte und hörte (3,16). In Lukas 1 und 2 begegnen wir ihnen ebenfalls, und in Apostelgeschichte 26 berichtet Paulus, dass „das zwölfstämmige Volk“ Nacht und Tag Gott dient. Wir sehen sie in Psalm 42, wie sie an Gott denken im Lande des Jordan und des Hebron, vom Berge Mizhar. Es sind die Gefangenen „der Hoffnung“ (Sach 9,12), die in der Grube, in der kein Wasser ist, gefangen liegen (Vers 11); das ist die kleine Zahl von Haaren, die Hesekiel in seinen Rockzipfel binden soll (Vers 3).

Schließlich lesen wir noch in Vers 4: „Und von diesen (d.h. von der kleinen Zahl) sollst du abermals nehmen und sie mitten in das Feuer werfen und sie mit Feuer verbrennen; davon wird ein Feuer ausgehen wider das ganze Haus Israel.“ Es gab zu jeder Zeit diesen Überrest, von dem wir soeben hörten; er wird auch unter der Regierung des Antichrists da sein, z. Zt. der großen Drangsal, und die Verfolgung wird zunehmen, sie werden mitten ins Feuer geworfen und mit Feuer verbrannt. Ihr Zeugnis, das Anlass wurde zu dieser Drangsal oder aber in der Drangsal selbst abgegeben wird, ist von außerordentlicher Wirkung. Ihr Zeugnis richtet sich nicht nur gegen ihre Widersacher, sondern auch gegen den gottlosen Teil des Volkes Israel, es ist „ein Feuer wider das ganze Haus Israel“. Ein ähnliches Zeugnis des Feuers finden wir in 1. Könige 22 bei dem leidgeprüften Micha, dem Sohn Jimlas. In Markus 13,9 sagt der Herr Jesus zu seinen Jüngern, in denen er ein Bild der Zeugen des Überrestes in den Tagen des Antichristen erkennt: „Ihr aber, sehet auf euch selbst, denn sie werden euch an Synedrien und an Synagogen überliefern; ihr werdet geschlagen und vor Statthalter und Könige gestellt werden um meinetwillen, ihnen zu einem Zeugnis.“ Das heißt: zu einem Zeugnis, das gegen sie gerichtet ist.

Bisher haben wir die prophetische Bedeutung dieser Verse auf Israel bezogen. Doch können wir sie nicht auf unsere Tage anwenden? Sicher finden wir auch hier ernste Unterweisungen für uns. - Ein Haar steht in Lebensverbindung mit dem Körper, auch wenn es ganz abgeschnitten ist; es wächst trotzdem weiter, weil die Wurzel noch in der Haut sitzt. Selbst bei einem Toten hört seltsamerweise das Wachsen der Haare nicht sofort auf. Schneidet man ein Haar ab, so ist es mit dem abgeschnittenen Teil des Haares geschehen, es hat die Leben spendende Verbindung verloren, mag man auch noch so kunstgerecht und klug handeln, nie wird sich wieder Kraft zum Wachsen regen.

Ursprünglich stand die Versammlung Gottes auf der Erde in lebendiger Verbindung mit dem „Sohn des Menschen“ im Himmel. Stephanus ist ein Beispiel von solch einem gesunden Haar. Er sieht die Herrlichkeit Gottes, sieht den Herrn Jesus zur Rechten Gottes stehen und legt von diesem Sohn des Menschen Zeugnis ab, und schließlich entschläft er in einer nach außen erkennbaren inneren Verbindung mit ihm. Das Zeugnis ist - um mit den Worten von Vers 4 zu sprechen - ein „Feuer gegen das Haus Israel“, ein Stachel für Saulus von Tarsus, bis er sich endlich auf dem Wege nach Damaskus dem Herrn übergibt. Dieser Stephanus stellte - wie verschiedene Schriften der Brüder es zu Recht ausdrücken - ein Vorbild der Versammlung dar, wie sie sich auf dieser Erde verhalten sollte.

Wir kennen die Geschichte der Kirche, die uns in Offenbarung 2 und 3 in den sieben Sendschreiben beschrieben wird. Kurz gesagt, der Herr Jesus musste die Verbindung mit der Kirche abbrechen, die von oben Kraft und Leben empfangen hatte. In Offenbarung 2,1 stellt er sich noch zu Anfang des Briefes an die Epheser der Versammlung als derjenige vor, der die sieben Sterne in seiner Hand hält: in Kapitel 3,1 zu Beginn des Briefes an Sardes, hat er die sieben Sterne nur noch. Doch ebenso wie ein dreifaches Gericht über die abgeschnittenen Haare ausgesprochen worden ist, empfängt auch die Christenheit, wenn der Herr die seinen zu Sich genommen hat, dreierlei Gerichte, die in den Sendschreiben an die Versammlungen in Thyatira, Sardes und Laodicäa prophetisch beschrieben sind. Das Ende von Vers 1 redet sehr ernst zu uns: „Und nimm dir Waagschalen und teile die Haare.“ Könnten wir es wagen, die einzelnen kirchlichen Gruppierungen der Namenchristenheit dem Gericht von Thyatira, Sardes oder Laodicäa zuzuordnen? Um nur die letzten zwei Sendschreiben zu nehmen: Kann ich in den letzten Tagen unterscheiden, ob jemand unter dem Einfluss des Evangeliums oder vielleicht sogar unter der erwärmenden Atmosphäre des Zeugnisses von Philadelphia stand, und danach in die Lauheit Laodicäas gefallen ist, sodass er mit den anderen aus dem Munde des Herrn Jesus ausgespuckt wird? Unmöglich! Der wahre Menschensohn aber wird die Waagschale nehmen und die Haare teilen. Er allein kann das Maß der Verantwortung wiegen; er allein weiß, wer in Bezug auf das Empfangene und Gehörte (Off 3,3) seit den Tagen der Reformation, als das Licht von Gottes Gnade durch das Evangelium wieder auf den Leuchter gestellt wurde, zu Verantwortung gezogen werden kann. Er allein hat auch Kenntnis von der Verantwortung all derer, die das Zeugnis Philadelphias haben, das sich auf den verherrlichten Herrn im Himmel bezieht; (seit den Tagen des Stephanus und Paulus wurde es nicht mehr offenbart). Und wenn der Heilige Geist Freude hat, dass das Senkblei in seiner Hand sicher ist (Sach 4), so lasst auch uns durch alle religiösen Unruhen hindurch darüber still werden, denn er allein hält die Waagschale in seiner Hand.

Glücklicherweise findet er in der Versammlung als dem verantwortlichen Leib auch solche, die mit den wenigen Haaren aus Vers 3 verglichen werden können. Von den abgeschnittenen Haaren machen sie einen kleinen Teil aus. Sie sehen ein, dass sie einen kleinen Teil von der Kirche darstellen, die insgesamt in ihrer Verantwortung gefehlt hat. Der Herr aber sieht in ihnen „die übrigen, die in Thyatira sind“, „einige wenige Namen in Sardes“ und die, die seine Stimme hören und ihm „die Türe auftun“ (Laodicäa). Er hält sie in seinem Rockzipfel verborgen und sie sind - zwar für Menschen nicht mehr wahrnehmbar - für ihn das Unterpfand der Versammlung, die er bald in strahlender Auferstehungsherrlichkeit sich selbst mitsamt der ganzen Versammlung Philadelphias verherrlicht darstellt.

Aber, geliebte Mitgläubige, an Vers 4 sollen wir nicht vorbeikommen, wenn wir uns zu der kleinen Zahl von Vers 3 zählen wollen. Der Herr in seiner freien Verfügungsgewalt über uns, die er in seiner Gnade für seinen Rockzipfel auserwählt hat, er besitzt das Recht, sie in die Mitte des Feuers zu werfen, ja, sie in dieser Welt zu läutern und „mit Feuer zu verbrennen“. Je treuer ich in diesen letzten Tagen Zeugnis gegen die Lauheit ablege, die bei denen Fuß fasst, die den Ruhm für sich beanspruchen, alles zu haben und reich zu sein an den Segnungen von Sardes und Philadelphia, je mehr werde ich durch das Feuer gehen müssen. Es klingt wie Gleichgültigkeit, wenn wir den Wahlspruch eines römisch-katholischen Ordens auf dem Missionsfeld in Afrika hören: „Was heißt es schon, wenn ich verzehrt werde?“ Gott sieht mein Zeugnis als Zeugnis für ganz Philadelphia an (dann brauche ich bei mir selbst auch nicht die Merkmale von Philadelphia zu suchen) und Gott lässt aus diesem Zeugnis „ein Feuer wider das Haus Israels“ hervorkommen. All die Wahrheiten, die im Kampf um das Zeugnis in den letzten hundert Jahren verteidigt werden mussten, und die die Brüder in das Feuer gebracht haben, sich richten sich wie Feuer gegen das ganze Haus Israel und die gesamte bekennende Christenheit. Ein Bruder beendet seine Darlegungen, die die Allgenügsamkeit des Werkes des Herrn Jesus und das Zeugnis des Heiligen Geistes schützen sollten, mit den Worten aus Jesaja 50,11: „Siehe, ihr alle, die ihr ein Feuer anzündet, mit Brandpfeilen auch rüstet: hinweg in die Glut eures Feuers und in die Brandpfeile, die ihr angesteckt habt! Solches geschieht auch von meiner Hand; in Herzeleid sollt ihr daliegen.“

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