Betrachtung über den Propheten Hesekiel

Kapitel 8

Dieses Kapitel, ist für uns in mancher Hinsicht sehr lehrreich. Mit ihm beginnt der zweite Teil unseres Buches. Der erste Teil (Kapitel 1 bis 7) behandelte allgemein den Grund, weshalb sich der Herr gegen sein Volk aussprechen muss. Der nun folgende Teil umfasst die Kapitel 8 bis 19, der dritte besteht aus den Kapiteln 20 bis 23, der vierte Teil allein aus Kapitel 24. Das 24. Kapitel beschließt auch den ersten Hauptabschnitt des Buches Hesekiel. Die vier Unterteilungen des ersten Hauptabschnitts werden schon durch den Heiligen Geist angedeutet, indem jeder Teil mit einer neuen Zeitangabe beginnt.

Zu Anfang unseres neuen Abschnitts (Vers 2) von Hesekiel wird dieselbe herrliche Person genannt, die uns schon aus Kapitel 1, 26–28 bekannt ist: Die Person unseres hoch gelobten Herrn und Heilandes. Die Perspektive unterscheidet sich jedoch von der in Kapitel 1.

Beide Visionen trennt etwa ein Jahr, so dass sich der Herr hier den jeweiligen Verhältnissen nach dem Maß des sittlichen Fortschritts anders offenbart, als im ersten Kapitel. Das bedeutet aber nicht, dass die neuen Wahrheiten in Bezug auf seine Person die alten zurücknehmen. Dieser gefährliche Irrtum hat schon in weiten Kreisen Fuß gefasst, und Satan nutzte ihn schon oft zu seinem Vorteil aus. Wenn sich der Herr Jesus an den Engel der Versammlung in Philadelphia als „der Heilige und Wahrhaftige“ wendet, so heißt das ganz und gar nicht, dass Er seine Eigenschaften in den vorhergehenden fünf Briefen preisgegeben hat. Er offenbart sich vielmehr jeweils in dem Charakter, der in Hinsicht auf die Zeit und den Zustand in und um Philadelphia zutreffend ist. Ein weiteres Beispiel finden wir in Hohelied 5. Dort beschreibt uns die Braut den Bräutigam in einer Weise, dass wir alle sittlichen Schönheiten unseres Heilands erkennen können, die zu allen Zeiten von uns wie von dem gläubigen Überrest genossen werden können. Auf die Frage der Töchter Jerusalems in Kapitel 6, wo ihr Geliebter hingegangen ist, antwortet die Braut allerdings anders: „Mein Geliebter ist in seinen Garten hinab gegangen, zu den Würzkrautbeeten, um in den Gärten zu weiden und Lilien zu pflücken.“ Sie beschreibt nun seine genaue Beschäftigung, sieht Ihn in dem Charakter, den Er in Bezug auf sein Volk hat, wenn Er einst im 1000-jährigen Reich Macht und Majestät in sich vereint.

Dieser Grundsatz steht auch im Kapitel 8,2 vor uns. Ist in Kapitel 1,4 das glänzende Metall mit dem ganzen Bildnis in Verbindung gebracht, so wird es hier bloß am Schluss in Verbindung „mit der Gestalt von den Lenden aufwärts“ erwähnt. Auch finden wir hier keine Gestalt gleich Feuer darin. Man darf vielleicht sagen, dass hier auch keine Wolkensäule von lichtem, glänzendem Metall die Glut von der „Gestalt eines Feuers“ mehr mäßigt. Es fehlt auch an dem „Glanz ringsum“ von Kapitel 1 – er scheint sich zurückgezogen zu haben, ebenso wie der Bogen, der in den Wolken am Tag des Platzregens zu erkennen war. Es wird nichts mehr von einem Regenbogen erwähnt – doch scheint der Anblick der Herrlichkeit für das Auge Hesekiels gewonnen zu haben, denn in Kapitel 8,2 wird von einem Lichtglanz gesprochen, dem wir in Kapitel 1 nicht begegnen.

Die Anwendung ist für uns deutlich und ernst. Die Gläubigen nämlich, denen auf dem Schauplatz des Gerichts Gnade und Versöhnung zuteilwurde, sind in den Himmel aufgenommen und dort vor dem Gericht Gottes bewahrt. Das Gericht wird nur das „Gebilde von den Lenden abwärts“ treffen. „Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, hat den, der ihn richtet: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am letzten Tag“ (Joh 12,48).

Wir haben bereits in dem Artikel von Bruder Guignard über Kapitel 1 festgestellt, dass die Farbe Hasmal gleich leuchtendem Metall aussieht, wahrscheinlich eine Legierung von Gold und Silber. Ein anderer Ausleger denkt dabei an eine Legierung von Gold und Kupfer. Wie dem auch sei, die Substanz bleibt für uns unbekannt. Diese Legierung wurde nur einmal in der Geschichte, ja in alle Ewigkeit und von aller Ewigkeit her, und zwar auf dem Kreuz von Golgatha zusammengeschmolzen. Dort können wir die geheimnisvolle Zusammensetzung von Gold, Silber und Kupfer betrachten. Dort finden wir die göttliche Gerechtigkeit, die den verdammungswürdigen Sünder gerecht „spricht ^Gold); wir erblicken dort auch die göttliche Gerechtigkeit in der Versöhnung“ (Silber) und die göttliche 'Gerechtigkeit in dem unerbittlichen Gericht (Kupfer) vorgestellt in dem wunderbaren, geheimnisvollen Bestandteil- des leuchtenden Metalls.

Die Farbe von leuchtendem Metall (Hasmal) wird in unserem Kapitel „mit dem Gebilde von den Lenden abwärts“ in Beziehung gesetzt, sie wird als Lichtglanz bezeichnet. Welche Herrlichkeit des Kreuzes! Wie sind wir doch durch diese Wahrheiten bereichert worden! „Unendliche Liebe, wie reich machst du doch!“ Diesen Lichtglanz hat Paulus vor Augen, wenn er in 2. Korinther 4,3 schreibt: „Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist, so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen (solche, die nur mit „dem Gebilde von den Lenden abwärts“: Feuer, zu tun haben), in welchen der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christas, welcher das Bild Gottes ist.“ Beachten wir wohl, dass die Herrlichkeit des Kreuzes, „der Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes“, uns in der Person des Sohnes Gottes, in dem Angesicht Jesu Christi, vorgestellt wird. Gleicherweise auch in Hesekiel 8: es ist sein Gebilde. Welche Herrlichkeit ist uns noch vorenthalten. Wir werden nicht nur alles mit Ihm teilen, sondern – weit größeres Vorrecht – wir werden Ihn betrachten. „Vater, ich will, dass die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf dass sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt.“.

Nun kommt ein wichtiger Punkt in diesem Kapitel: „Und er streckte das Gebilde einer Hand aus und nahm mich beim Haarschopf meines Hauptes; und der Geist hob mich zwischen Erde und Himmel empor und brachte mich in Gesichten Gottes nach Jerusalem, an den Eingang des Tores des inneren Vorhofs, welches gegen Norden sieht, wo der Standort des Bildes der Eifersucht war, welches zum Eifer reizt“ (Vers 3). Hesekiel wird bei seinem Haarschopf, der – wie wir sehen – das Bild der Auferstehungskraft ist, zwischen Erde und Himmel gehoben. Er wird in moralischer Hinsicht auf das Niveau „der Gestalt von den Lenden aufwärts“ geführt, um von dieser Warte aus Jerusalem zu beurteilen, seine Gräuel kennen zu lernen und sich so ein Urteil hierüber zu bilden. Vers 3 spricht auch nicht von einem Zurückkehren zur Erde, sondern Hesekiel verharrt in dieser Stellung „zwischen Erde und Himmel“.

Auch das Buch der Offenbarung lässt uns das Urteil über die Kirche, die in ihrer Verantwortlichkeit gefehlt hat, und über eine verdorbene Erde sowie eine gefallene Christenheit erkennen. Vor jedem der Sendschreiben in Offenbarung 2 und 3 stellt sich der Herr Jesus in der Eigenschaft vor unsere Blicke, die Er jetzt besitzt, oder die Er im Gericht im Anschluss an das Gesicht des Johannes in Off 1,12-16 annehmen wird. Wir hören dann in Offenbarung 4,1 die Worte: „Komm hier herauf, und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss.“ Die Kapitel 4 und 5 bilden dann die Einleitung zu den folgenden Geschehnissen auf dieser Erde, doch alles wird vom Himmel aus betrachtet; es heißt: „Komm hier herauf.“ Nur von dieser Stelle aus sind wir allein imstande, das nahende Gericht über alles Ungöttliche richtig einzuschätzen.

In Vers 4 erblicken wir die Herrlichkeit des Gottes Israels an dieser Stelle, doch sollen wir in den nun folgenden Kapiteln sehen, wie sich die Herrlichkeit langsam zurückzieht, bis sie schließlich in Kapitel 11, 23 auf dem Ölberg steht, von wo sie sich den Augen der Juden entzog; gleicherweise zog sich auch unser Heiland in Lukas 24 und Apostelgeschichte 1 hier von dem jüdischen Schauplatz zurück. Sie wird jedoch in Kapitel 43, 2 nach der Umkehrung des Volkes Israel und dem wiederhergestellten Gottesdienst in dieser Zeit wieder zurückkehren. Wir werden an die Worte der Engel in Apostelgeschichte 1,11 erinnert, die sie zu den Jüngern sprachen: „Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird also kommen, wie ihr ihn gen Himmel habt auffahren sehen“.

Wir können nur schwerlich verstehen, dass unter solch verworrenen Umständen, wie sie sich in dem damaligen Gottesdienst vorfanden, der Gott Israels dennoch seine Herrlichkeit ausstrahlen lässt. Dasselbe Problem steht heutzutage vor uns, wenn wir sehen, dass der Heilige Geist in einer Gemeinde, die vollkommen verdorben ist und bald aus dem Mund des Herrn ausgespien werden soll, seine Wirksamkeit nicht zurückzieht.

Ich hatte selbst große Schwierigkeit mit diesem Gedanken. Epheser 2,21 konnte ich gut verstehen: „In welchem der ganze Bau, wohl zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn.“ Ich begriff sehr wohl, dass hier nur von wahren Gläubigen die Rede war, die bald in der Herrlichkeit ihr Ziel erreicht haben; auch sah ich ein, dass der folgende Text „in welchem auch ihr mit aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste“ allein auf Gläubige anzuwenden ist, und zwar nicht in der Zukunft wie Vers 21, sondern schon heute. Anlässlich einer Konferenz wurde unsere Frage anhand verschiedener Betrachtungen unseres Bruders Darby über diesen Brief behandelt. Er schreibt unter anderem in „Notes and Jottings“: „Die Gemeinde stellt die Versammlung Gottes dar; sie wird in ihrer himmlischen Stellung in Verbindung mit Christus gesehen und ist Leib von dem Haupte ... Ein anderer Gesichtspunkt kommt in der Gemeinde als dem Haus Gottes zum Ausdruck; der Geist Gottes macht sie zu seiner Wohnung; doch der Leib Christi, vereinigt mit Ihm, dem Haupte im Himmel, zu sein, steht völlig getrennt von dieser Tatsache ... Das große Haus ist ein Vergleich, der in Anlehnung an die Ruinen des toten Bekennerchristentums gezogen ist; alle Art von Abtrünnigkeit und Gottlosigkeit ist in diesem Haus zu finden, in dem der Geist Gottes vorhanden ist: in dem Gott wohnt.“

Diese Ausführungen lassen uns auch die Gedanken in unserem Kapitel verstehen. Namentlich das Zurückweichen der Herrlichkeit ist in seiner Bedeutung für uns von praktischem Wert. Bei diesem Augenblick wird der Herr Jesus uns zu sich in die Luft aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt wird sich dann die Herrlichkeit vollends dem Schauplatz der Erde entzogen haben. Solange aber wird – obgleich es uns unwahr scheinen mag – der Geist Gottes in dem großen Haus, wo alle Art von Bösem und Gottlosigkeit anzutreffen, ist, wohnen. Die weiteren Verse bestätigen dies. Der heidnische Götzendienst findet von Norden, Süden, Westen wie Osten nicht nur in bestimmten abgelegenen Verstecken des Landes, sondern in dem Tempel Gottes selbst zu Jerusalem seinen Eingang.

Eine genaue Untersuchung aller in der Kirchengeschichte bekannten Abgöttereien würde zu weit führen; sicher ist jedenfalls, dass alle hier genannten Formen in die Kirche vorgedrungen sind. Sobald aber die Versammlung aufgenommen ist, wird aller christliche Schein fallen, der heutzutage so gern zur Schau getragen wird, und allein das heidnische Lebensmotiv wird zu dieser Zeit vorherrschen (vgl Off 9,20).

Dem Leser, der tiefer in diesen Zustand einzudringen wünscht, dient Hesekiel 8 als gute Anleitung. Ich möchte nur kurz die vier Formen der Abgötterei umreißen:

  • Vers 3.5: Chaldäischer Ursprung – Baal-Astartedienst (Vgl. 2. Chr 33,7.15; 2. Kön 16,10 ff; 2. Chr 28,23)
  • Vers 10–11: Ägyptischer Tierkultus;
  • Vers 14: Phönizischer Adoniskultus;
  • Vers 16. 17: Persische Sonnenverehrung.

In sittlicher Hinsicht finden wir dieselbe Reihenfolge, wie sie uns in Römer 1 vorgestellt wird:

Die Verse 3 und 5 führen uns zu Römer 1,21: „Weil sie, Gott kennend, ihn weder als Gott verherrlichten, noch ihm Dank darbrachten.“ Alle Menschen, die Gott kennen, Ihm aber nicht in gebührender Weise Verehrung zollen, erwecken den Eifer Gottes. Bereits in den Tagen des Apostels Paulus befanden sich schon Elemente in der Versammlung, die Gottes Eifer erregten, doch Paulus ist als ein neutestamentlicher Pinehas für die Ehre Gottes eingetreten (2. Kor 11,1-3).

Die Verse 10 und 11 befassen sich mit dem Gegenstand von Römer 1,22 und 23: „Indem sie sich für Weise ausgaben, sind sie zu Toren geworden und haben die Herrlichkeit des unverweslichen Gottes verwandelt in das Gleichnis eines Bildes von einem verweslichen Menschen und von Vögeln und von vierfüßigen und kriechenden Tieren.“

Vers 14 erinnert uns an Römer 1,24: „Darum hat Gott sie hingegeben in den Begierden ihrer Herzen zur Unreinheit, ihre Leiber untereinander zu schänden;“ Das Beweinen des Tammuz war zur Verehrung von Adonis, der gemäß der griechischen Göttersage der Liebling der Venus gewesen sein soll. Die alljährliche Wiederkehr von Adonis aus der Unterwelt steht in engem Zusammenhang mit dem Wechsel der Jahreszeiten. „Wenn zur Zeit der Sommersonnenwende der reißende Adonisfluss zufolge der Schneeschmelze des Libanon seine rötlich gefärbten Wassermassen zu Tal führt – diese Färbung deutet auf das Blut des Jünglings Adonis hin –, so feiert man in der phönizischen Stadt Gebal (Hes 27,9) den Tod dieses Jünglings“ (Dächsel). Dieses Beweinen des Tammuz lässt bereits den nahen Abschied des Sommers ahnen; die Frauen und Priesterinnen drückten ihre innigen Gefühle aus, indem sie auf schändliche Weise die Ehrbarkeit ihrer fraulichen Körper preisgaben.

Zu den Versen 16 und 17 ziehen wir zum Schluss noch die Parallele zu Römer 1,25: „Die die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben anstatt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen.“ Dies ist wohl die letzte und ärgste Form der Gräuel in den Augen Gottes (vgl. Vers 15 Schluss). Menschlich gesprochen könnte man annehmen, dass der persische Sonnenkult weit edler ist als die schändliche Sittenlosigkeit und die Schamlosigkeit, die mit der Zeit der Sommersonnenwende in Verbindung steht. Doch Gott beurteilt diesen Umstand anders. Es ist die letzte, aber meist entartete Form des so feinen und spitzfindig begonnenen Baaldienstes der Verse 3 und 5: man spricht Gott nicht den ersten Platz zu. Sittlich endigt dieser Kultus darin, dass den Geschöpfen größere Ehre zukommt als dem Schöpfer selbst. Diese Verehrung gipfelt sodann in der letzten und vollendeten Form der Marienverehrung der römisch-katholischen Kirche. Die persische Verehrung leuchtet schon in der himmlischen Marienverehrung durch, doch wurden diesbezüglich die Augen der Menschen durch viele Jahrhunderte gehalten. Zur bestimmten Zeit aber wird sich das wahrhaft Echte der Kirche in seiner letzten verantwortlichen Form herauskristallisieren. Vers 10 zeigt uns noch in ernster Weise, wie die Abbilder von scheußlichem Gewürm und Vieh ringsumher an die Wand gemalt wurden; Gott sagt uns auch in Vers 12, wer dies tat: „Hast du gesehen, Menschensohn, was die Ältesten des Hauses Israel im Finstern tun, ein jeder in seinen Bildkammern? denn sie sagen: Der Herr sieht uns nicht, der Herr hat das Land verlassen!“ Gott allein weiß, welche Abbildungen an die Innenwände unserer Herzen gezeichnet sind. Von dem Zeitpunkt an, als wir den Herrn Jesus kennen lernten, wurden unsere Herzen durch den Glauben gereinigt (Apg 15,9). Obgleich die Sünde noch in uns wohnt, können und sollen wir sie dennoch – wie es Bruder Darby ausdrückt – durch die Kraft des Blutes Christi und des neuen Lebens als einen Dieb betrachten, der sich zwar noch im Hause aufhält, doch keinen Schaden mehr anrichten kann, da er sich doch aufgrund des über ihn gefällten Urteils hinter Schloss und Riegel befindet. Handeln wir ohne diese Kraft, so bemalt er mit seinem Farbquast die Innenwände unseres Herzens. Welche Bilder malt er denn? Ich möchte lieber über all die Gedankenbilder und Abbildungen der Herzenswände schweigen, es dient nicht zur Ermunterung. Wir aber zeichnen uns Bilder in unsere Herzen und sagen uns dabei – nicht in lauten Worten von der Kanzel –: „Der Herr sieht uns nicht, der Herr hat das Land verlassen!“ Diese Worte stammen nicht von Menschen, die eben erst den Pfad des Lebens betreten haben, sondern von den Ältesten des Hauses Israels, Personen, von denen man Weisheit und Verstand in der Sache des Herrn erwarten konnte. Obwohl es schön klingt, ist es doch eine gefährliche Sprache zu sagen: „Der Heilige Geist wohnt einerseits in jedem Gläubigen, andererseits aber wohnt Er in der Gesamtheit der Gläubigen“ mit dieser Rede schaltet man die Gegenwart des Heiligen Geistes in Bezug auf die Verantwortlichkeit der gesamten Kirche aus. Ich würde damit die Wege und Urteile Gottes, die Er in großer Geduld an denen offenbaren will, die in ihrer Verantwortlichkeit gefehlt haben, vor dem Kommen des Herrn anfechten und aufheben, indem ich die Redensart Laodicäas anwende (Off 3,17-18). Auch dann habe ich „allerlei Gebilde“ an die Innenwand der Herzen gezeichnet, Christus aber steht draußen. Wo Er im Herzen wohnt, bleibt kein Raum zum Bekleben anderer Bildnisse übrig, sondern allein der Eindruck von Ihm wird heute größer sein als gestern und morgen noch größer als heute.

Wie heißt der führende Mann inmitten der Ältesten des Hauses Israels? Vers 11 berichtet uns, dass es Jaasanja, der Sohn Schaphans war, der in den Tagen des Königs Josia eine leitende Stelle in dessen Regierung innehatte. Der Name seines Sohnes Jaasanja „Der Herr erhört“ wurde möglicherweise in Anlehnung an den trostreichen Bericht Gottes durch die Prophetin Hulda gewählt: „Weil dein Herz weich geworden, und du dich vor dem Herrn gedemütigt hast, ... so habe ich es auch gehört, spricht der Herr“ (2. Kön 22,19). Ein schönes Gegenbild der trostspendenden Worte in Offenbarung 3, die an Philadelphia gerichtet sind; es waren unsere Väter, die sich im vorigen Jahrhundert gleich Josia und seinen Getreuen vor Gott beugten, indem sie sich mit der Schuld der Gemeinde, die so schmählich gefehlt hatte, eins machten. Wir finden dies in den vorauf gehenden fünf Briefen in Offenbarung 2 und 3.

Wie aber stehen nun die Enkel und Urenkel dar? „Der Herr sieht uns nicht, der Herr hat das Land verlassen“, so lautet die Sprache derer, die von Hause aus die besten Erinnerungen an das von Gottes Geist in Israel gewirkte Erwachen mitbrachten. Kann es denn überhaupt möglich sein, dass wir all den hinterlassenen Betrachtungen und Konferenzberichten unserer Väter so fremd gegenüberstehen, geschweige denn, dass wir aus den Geschichtsbüchern der Jahrhunderte eine Lehre zu ziehen wissen. Ja, wir besitzen als Enkelkinder sogar noch eigenhändig geschriebene Briefe von denen, die Gott so hingebungsvoll gedient haben.

Zum Schluss sei noch bemerkt, dass sich die Herrlichkeit nicht nur langsam, sondern auch geräuschlos entfernte. Weder die Ältesten in Vers 11 noch die Priester aus Vers 16 hatten ein Empfinden dafür, dass die Herrlichkeit im Tempel weilte; deshalb konnten sie auch nicht merken, dass sich die Herrlichkeit in den Kapiteln 10 und 11 zurückzog. Doch stellen wir uns einmal die Frage, wer in unseren Tagen noch einsichtig ist. Ich frage nicht die Kirche im Allgemeinen, sondern speziell die Gläubigen, die sich in der Gegenwart des Herrn zu zweien oder dreien versammeln. Der Ruf „Der Herr kommt bald“ klingt uns sehr bekannt. Heißt es aber, dass Er aus der Mitte hinausgenommen wird, dann können wir die Tragweite dieser ernsten Tatsache schwerlich ermessen.

Möge der Herr uns Gnade schenken, dass wir – durch den Geist geleitet – die vor uns liegenden Kapitel 9, 10 und 11 auf uns selbst, nicht auf unseren benachbarten Namenchristen, anwenden. Von ihm können wir keine Früchte erwarten, noch können wir von ihm verlangen, dass er wie Hesekiel in Kapitel 9, 8 auf sein Angesicht niederfällt. Wir aber sollten diese Dinge wohl bedenken und uns danach ausrichten, denn wir können auf unsere Angesichter niederfallen in dem Bewusstsein, dass wir nach dem Verschwinden der Herrlichkeit den Platz einzunehmen gewürdigt sind, der uns aufgrund des Werkes am Kreuz zugesprochen wurde (Hes 43,2-5).

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