Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 22
Das Urteil Gottes über Jerusalem, „die Stadt der Blutschuld“, wird vollzogen. Die Worte, die Hesekiel als Menschensohn ausspricht, erinnern an diejenigen von Johannes 5,22: „Denn der Vater richtet auch niemand, sondern das ganze Gericht hat er dem Sohn gegeben.“
Er wird dem Sohn zur Verwunderung der Juden „größere Werke“ zeigen, die in zweierlei Hinsicht mit der Auferstehung zu tun haben: das Lebendigmachen der Toten in leiblicher wie geistlicher Weise und das Gericht nach der Auferstehung des Gerichtes.
In unserem Kapitel wird der Menschensohn aufgefordert, der „Stadt der Blutschuld“ ihre Gräuel kundzutun. Es ist ein ernster Gedanke, dass die Stadt durch die beiden selben Elemente gekennzeichnet ist, die der alten Welt, die durch die Sintflut vergangen war, eigen waren: Gräuel und Gewalt auf der einen, und sittliche Verderbnis auf der anderen Seite. Diese beiden Elemente beschleunigten das Ende Jerusalems zusehends. Gott, der alle Dinge von Beginn an weiß, wusste auch in seiner göttlichen Allwissenheit und Vorsehung um das Los Jerusalems und kannte dessen Sittenlosigkeit. Doch das Blutvergießen und die Verunreinigung mit seinen Götzenbildern beschleunigten das Schicksal.
Dasselbe Handeln Gottes erkennt man meines Erachtens auch in Offenbarung 1,1. Dort gibt Gott dem Herrn Jesus eine Offenbarung, „um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss.“ Die Entwicklung in den Kapiteln 2 und 3, die bis zu dem abschließenden Zustand von Laodicäa führt, besagt nichts anderes als: „Und du hast deine Tage herbeigeführt und bist zu deinen Jahren gekommen.“ Dem Sohn des Menschen wird diese Offenbarung und Er nimmt sodann in Kapitel 5 die Buchrolle und eröffnet das Gericht.
„Dein Name befleckt und reich an Verwirrung“, so lautet der Befund über Jerusalem. Das also war der Lärm, der von dieser Stadt ausging. Dieser Lärm ging auch von dem Christentum zu den Völkern aus, die die äußerlichen Segnungen des Christentums in der Umwandlung von einem vorgesellschaftlichen Zustand zu einem besseren sozialen Zustand erfuhren, und mit für sie unbekannten Begriffen der Moral und des Anstandes bekannt gemacht wurden.
„Und siehe, ich schlage in meine Hand wegen deines unrechtmäßigen Gewinnes, den du gemacht hast, und über deine Blutschuld, die in deiner Mitte ist“ (Vers 13). Dieser Vers erinnert uns an Offenbarung 18, wo „der starke Engel“ über den Fall Babylons spricht: „Denn deine Kaufleute waren die Großen der Erde; denn durch deine Zauberei sind alle Nationen verführt worden. Und in ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von allen denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind“ (Off 18,23.24). „Und du wirst durch dich selbst entweiht werden vor den Augen der Nationen!“ Dies wird Jerusalem wie auch die Christenheit erwarten.
Der Geist Gottes wird nicht durch das Christentum allen Völkern die Heilsbotschaft verkünden, sondern sie werden sich selbst entweihen, wovon uns Offenbarung 17 und 18 ein anschauliches Bild liefert.
In den nun folgenden Versen 17 bis 22 wird der Zustand Israels in einem metallischen Reinigungsprozess gesehen. Der Maßstab dessen, was dem Feuer standhält, ist Silber. In diesem Zusammenhang sei auf das Bild aus dem Traum Nebukadnezars in Daniel 2 hingewiesen. Dort finden wir die assyrisch-babylonischen und medisch-persischen Weltreiche mit Gold beziehungsweise Silber verglichen, die europäischen Weltreiche und deren Grundsätze (griechisch und römisch) aber mit Metallen geringeren Wertes wie Kupfer und Eisen.
Wie erniedrigend für die Europäer, dass alles, was im Schmelzofen noch als Norm der Gerechtigkeit von Alexander dem Großen bis zum wiederhergestellten römischen Reich gilt, nur Silberschlacken bedeutet. Sprüche 14,34 belehrt uns: „Gerechtigkeit erhöht eine Nation, aber Sünde ist die Schande der Völker.“ Dies bestätigt sich auch in den Tagen des Gerichts vor dem Tausendjährigen Reich: „Wie man Silber und Kupfer und Eisen und Blei und Zinn in einen Schmelzofen zusammentut, um Feuer darüber anzublasen zum Schmelzen.“
Daraufhin stoßen wir in den Versen 23 und 24 auf einen merkwürdigen Gedanken: Juda ist ein Land, das nicht gereinigt, nicht beregnet wird am Tag des Zorns. Dieser Tag des Zorns wird – prophetisch gesehen – für das Land Juda noch eintreffen. Sittlich gesprochen aber hat Juda jede Gelegenheit vorbeiziehen lassen, um diesen „Tag des Zorns“, den Gott zwar in seiner Vorsehung über das Land angesetzt hat, zu verhindern. Sehr viele Plagen hatten das Land heimgesucht: Angriffe feindlicher Stämme, Plündereien der einfallenden Völker sowie Dürre, Wassernot und Heuschreckenplagen. Auch müssen wir an die großen Erdbeben in den Tagen Ussijas denken (Sach 14,5 und Amos 1,1). Alle diese Plagen, Vorläufer des großen Tages des Zorns, hatten nicht den sittlichen Erfolg, um dadurch die Gewissen der Einwohner zu treffen und somit einen reinigenden Einfluss auszuüben. Das Land wurde nicht beregnet, wie es bald zu Zeiten des Überrestes geschehen wird: „Von ihrem Glanz nach dem Regen sprosst das Grün aus der Erde“ (2. Sam 23,4). Jede Gelegenheit, die ihre Gewissen im Blick auf den großen Tag des Zorns hätte in das Licht Gottes bringen und eine heilsame Wirkung auf sie ausüben können, ließen sie ungenutzt vorübergehen.
Auch uns als Christen gelten diese Worte. Ab dem zweiten Siegel in Offenbarung 6 lesen wir von Gerichten, die besonders diese „prophetische“ Erde, die Mittelmeerländer, treffen sollen. Die Versammlung wird zu dieser Zeit bereits beim Herrn sein, doch ist für die schuldbeladene Christenheit dann der Tag des Zorns des Lammes angebrochen.1
Möge jeder, der den Herrn Jesus noch nicht als seinen persönlichen Heiland angenommen hat, heute noch seine Zuflucht zu Ihm nehmen. Es bietet sich noch die Gelegenheit, „ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und Milch“ zu kaufen. Anhand des Neuen Testamentes teilt uns der Heilige Geist die Liebe Gottes mit, die in seinem geliebten Sohn offenbart wurde, und bietet uns in dieser wunderbaren Gnadenzeit noch seine hilfreiche Hand dar. Auch an uns geht die Warnung, aus den geistlich Toten aufzustehen, die uns in der Christenheit umlagern. Lasst uns die Lampen mit Öl füllen und uns für das Kommen dessen bereithalten, der sich anschickt, seine Versammlung heimzuholen.
„Und ich suchte einen Mann unter ihnen, der die Mauer zumauern und vor mir in den Riss treten möchte für das Land, auf dass ich es nicht verderbe; aber ich fand keinen“ (V.30). Gott sucht einen bestimmten Mann!2 Er suchte nach einem Manne, der sich dieses moralischen Tiefpunktes gewachsen zeigte. Die Mauer musste dicht werden, doch dieser gesuchte Mann sollte selbst in den Riss treten und mit seinem eigenen Leib die Spalte ausfüllen.
„Aber ich fand keinen“, lautet das Ergebnis Gottes auf sein Suchen, so dass sich nun das Gericht anbahnt. Jerusalem und die umliegenden Landstriche werden eingenommen und der Verwüstung preisgegeben. So findet Gott niemanden, der aufgrund seiner sittlichen Größe noch das Gericht über das Abendland verhindern könnte.
Unsere Gedanken gehen über 2000 Jahre zurück zu dem Garten Gethsemane. Damals war es höchste Zeit, dass jemand gefunden wurde, um in den Riss zu treten, der, durch Adam und Eva im Garten Eden hervorgerufen, immer breiter wurde. Er kam zur „bestimmten Zeit“ – kein Tag später konnte sich Christus, da wir noch kraftlos waren, für Gottlose verwenden, um für sie zu sterben (Röm 5,6), oder es wäre für immer zu spät gewesen.3
In Johannes 18 sehen wir Ihn in diesen Riss treten. Als Judas, die Schar und die Diener der Hohenpriester und Pharisäer gekommen waren, tritt Er in der ganzen sittlichen Herrlichkeit seiner Person vor unsere Blicke. Als der „Ich bin“ des Alten Testamentes stellt Er sich uns zugleich als der vollkommen gehorsame Mensch in seiner sittlichen Schönheit vor, wie Er dann den Kelch, den Ihm der Vater gegeben hatte, annimmt und sagt: „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ (Joh 18,11). Und nachdem sie zum zweiten Male antworteten, dass sie Jesus, den Nazaräer suchten, bat Er um freies Geleit für seine Jünger. Gott selbst gibt ihnen dieses freie Geleit – ja, noch mehr als dieses, denn wohin sollten wir uns wenden, wenn wir von unserem Heiland nur freies Geleit zugesprochen bekämen? Wir wären uns selbst ausgeliefert, und sicherlich würden wir gleich Petrus einige Augenblicke später unseren Herrn in undankbarer Weise verleugnen. Nein, in Sacharja 13,7, wo das Schwert sich nicht gegen die schuldige Herde aus Kapitel 11, sondern gegen den Hirten, den „Genossen Gottes“, wendet, reicht Gott, nachdem der Hüter geschlagen ist, den verstreuten Schafen, dem armen Überrest, seine Hand entgegen.
Gott will auch dir, der du diese Zeilen liest und noch nicht einen Gott und Vater in dem Herrn Jesus kennst, seine Hand zuwenden. Es ist dieselbe Hand, die Ihn geschlagen hat, der vor seinem Angesicht „in den Riss getreten“ ist. Seine Hand schützt jeden, der in Reue und Erkenntnis seiner Schuld, Zuflucht zu dem Hirten und Heiland Jesus Christus nimmt. Er wird dich dann mit unendlich göttlicher Liebe an seiner Hand durch dieses Tränental zu der Stätte ewiger Ruhe und Herrlichkeit führen.
Fußnoten
- 1 D.Boom schreibt hier weiter: „Der Tag fand bereits seine anfängliche Erfüllung von den Tagen der Eroberungszüge des Kaisers Trajan (98–117 n. Chr.) bis zum Beginn der großen Völkerwanderung. Die vier ersten Posaunen von Kapitel 8 zeigen uns die Völkerwanderung selbst und den mit ihr verbundenen Zusammenbruch des weströmischen Reiches. Schließlich erkennen wir in der fünften und sechsten Posaune den Einfall der Mohammedaner und Türken ins römische Gebiet. Wurde die Christenheit durch diese Geschehnisse oder deren Folgen „gereinigt“ oder „vom Regen getränkt“? Wir sind eines besseren belehrt. Zu allen Zeiten kannte der Herr die Seinen. Ein Abstehen von der Ungerechtigkeit derer, die den Namen des Herrn in äußerlichem Bekenntnis anrufen, geschah nicht, selbst nicht, als zu Kriegszeiten Europa von Katastrophen heimgesucht wurde. Derartige Ereignisse (Kap. 6. 8. 9.) werden das Römische Reich nochmals treffen, doch dann in dem vollen Maße prophetischer Vorsehung am Ende. Wir führen dies nicht in der Absicht der Wissensbereicherung an, sondern um vor dem Ernst dieser Ereignisse zu warnen.“ Diese historische Auslegung der Offenbarung muss als unzutreffend angesehen werden. Die Worte in Offenbarung 4,1: „Nach diesem sah ich: und siehe, eine Tür war aufgetan in dem Himmel, und die erste Stimme, die ich wie die einer Posaune mit mir hatte reden hören, sprach: Komm hier herauf, und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muss“ deuten (in Verbindung mit der Dreiteilung des Buches nach Kapitel 1,19) die Entrückung der Versammlung an, und ausnahmslos alle in Kapitel 4 bis 19 beschriebenen Ereignisse finden erst zeitlich danach statt. (RWV)
- 2 D.Boom vergleicht an dieser Stelle das Handeln Gottes mit dem Handeln des Philosophen Socrates, der am helllichten Tage mit einer Laterne vergeblich einen Menschen gesucht haben soll, der Anstand hatte und edel war. Dieser Text wurde vom Überarbeiter entfernt, da es ihm unpassend erschien, das Handeln des heiligen Gottes mit dem eines gottlosen Philosophen zu vergleichen.
- 3 Es gibt in der vorliegenden Betrachtung eine ganze Reihe von Thesen, bei denen ich eine schriftgemäße Begründung vermisse; diese gehört auch dazu. (RWV)