Betrachtung über den Propheten Hesekiel

Kapitel 2

Nachdem wir in Kapitel 1 mit der überwältigenden Majestät des HERRN Bekanntschaft gemacht haben, werden wir nun in diesem Kapitel mit etwas anderem was ebenfalls überwältigend ist, konfrontiert: der Herzenshärtigkeit des Volkes Gottes. Dieser Zustand des Volkes ist reif für das Gericht aus Kapitel 1. Der Geist, von dem wir in Hesekiel 1,20 lasen: „Wohin der Geist gehen wollte, gingen sie, dahin, wohin der Geist gehen wollte,“ kommt hier zu Hesekiel, dem „Sohn des Menschen“, und stellt ihn auf seine Füße, damit er zu den Kindern Israel mit der Botschaft gesandt werden kann: „So spricht der Herr, HERR.“

Welch ein Wunder der Gnade! Anbetungswürdige Herrlichkeit unseres Heilandes. Für einen solchen Auftrag konnte Gott keine mächtigen Ausführungsorgane für seine Gerichte, wie sie uns im 1. Kapitel vorgestellt werden, gebrauchen. Ihre bloße Anwesenheit hätte ein solch aufrührerisches Volk in einem Augenblick verzehrt. Wie hätten die Felgen, „hoch und furchtbar“ (V.18), das Übel in Israel ansehen können, ohne dass ein unerbittliches Gericht von Seiten Gottes die Folge gewesen wäre? Aus diesem Grunde sandte Gott Hesekiel als „Sohn des Menschen“ - wunderbares Vorbild unseres Heilandes, der in seiner Gottheit „von Augen zu rein ist, um Böses zu sehen“ und „Mühsal vermag er nicht anzuschauen“ (Hab 1,13). Er aber kam in einem von Gott bereiteten Leib und musste alle Ungerechtigkeiten seines Volkes anschauen; alle, Juden wie Heiden, rotteten sich gegen ihn zusammen. Sie brachten ihn gemeinsam ans Kreuz und offenbarten gemeinsam ihre bösen Herzen, von denen er in Psalm 22,13-19 spricht.

Wir stehen staunend vor der Tatsache, dass er, der als Mensch genauso rein von Augen war, wie Gott es uns in Habakuk gezeigt hat, all das Böse hatte ansehen können. Wir beugen uns am Fuß des Kreuzes nieder, so wie wir es als verlorene Sünder bereits einmal getan haben und es in alle Ewigkeit tun werden und rufen mit dem Dichter aus:

O Tag der Schmach, der Schande und der Schmerzen,
o Tag, erfüllt mit unfassbarer Not,
als Du am Leib, Herr Jesus, und im Herzen
für uns erduldet hast den Zorn von Gott!
Du littest stumm, es stillte nichts Dein Sehnen,
die Feinde weiden sich an Deiner Qual;
nur Schmähung, Spott und lästerndes Verhöhnen
kam aus den finstern Herzen ohne Zahl.

Es ist bemerkenswert, zunächst von Israel erwähnt zu finden, dass es „eine empörerische Nation ist“, die sich wider den HERRN empört hat. Das Wort „Nation“ heißt im Hebräischen „Goyim“. Ich möchte hier lediglich erwähnen, dass Israel an dieser Stelle mit der in den Ohren der Juden so verächtlich klingenden Bezeichnung „Goyim“ angesprochen wird, welche Völker meint, die Israel, dem Volke Gottes, gegenüberstehen. Israel wird, um seine Schuld anzudeuten, noch zweimal - diese Stelle ausgenommen - mit diesem Namen genannt; und zwar in Psalm 43,1: „Schaffe mir Recht, o Gott, und führe meinem Rechtsstreit wider eine lieblose Nation!“ und in Jesaja 1,4: „Wehe der sündigen Nation!“ (nicht aber dem, was folgt: „dem Volke, belastet mit Ungerechtigkeit.“).

Dieser Ausdruck wird in Psalm 2,1 auf die Völker angewandt: „Warum toben die Nationen?“ (nicht aber in der Fortsetzung: „und sinnen Eitles die Völkerschaften?“), sowie in Psalm 46,6: „Es toben die Nationen.“ Es ist sehr bemerkenswert, dass, nachdem das Volk seinen Messias verworfen und gekreuzigt und das Zeugnis des Petrus abgelehnt hatte, der Heilige Geist es für nötig erachtete, die Worte aus Psalm 2,1 sittlich auf sie anzuwenden; denn nachdem dieser Text in Apostelgeschichte 4,25 zitiert ist und Herodes und Pontius Pilatus genannt wurden, finden wir in Vers 27 folgenden Ausdruck: „mit Nationen und Völkern Israels“ - eigentlich steht an dieser Stelle „mit Nationen und Völker: Israel“.

In Vers 4 wird von den Kindern Israels gesagt, dass sie „schamlosen Angesichts und harten Herzens“ sind. Wie ist dies doch so zutage getreten, als unser geliebter Heiland unter ihnen wohnte und wandelte. Zeugt es nicht von Schamlosigkeit, als sie in Johannes 8 eine Frau vor den Herrn Jesus stellen, „die im Ehebruch, bei der Tat selbst, ergriffen worden war“? Als dann in Kapitel 19 „Jesus hinausging, die Dornenkrone und das Purpurkleid tragend“ und Pilatus ihn noch mitleidig losgeben wollte, zeugt es wiederum von äußerster Schamlosigkeit, wenn wir dort lesen: „Als ihn nun die Hohenpriester und die Diener sahen, schrieen sie und sagten: Kreuzige, kreuzige ihn!“ Muss nicht auch angesichts der ergreifenden Worte von Lukas 23,35 das gemeine Volk in der Beschuldigung, ein schamloses Angesicht zu haben, mit eingeschlossen werden? - „Und das Volk stand und sah zu.“ - Das äußerste körperliche Leiden unseres Heilandes, das mit der Herzlosigkeit des schamlosen Verteilens seiner Kleider, die er auf der Erde nicht mehr nötig haben sollte, gepaart ging, vermochte kein Erröten ihrer Angesichter hervorzurufen.

Doch wie hat der Herr Jesus ebenso gelitten unter der Schamlosigkeit derer aus den Nationen, wenn er in Psalm 22 über „Hunde“ klagt, eine „Rotte von Übeltätern“, die ihn umzingelte und umgaben: „Alle meine Gebeine könnte ich zählen. Sie schauen und sehen mich an.“ Kann man von einem Hund bezüglich irgendeines Ereignisses auf der Strasse ein Schamgefühl erwarten? Niemals! - Genauso war der Zustand Israels, und „schamlosen Angesichts und harten Herzens“ war auch unser Zustand, der sein Urbild (speziell der europäischen Völker) in den verhärteten Römern findet, die so gefühllos an der Kreuzigung und Tötung teilnahmen. Demgegenüber bewundert man die Liebe Gottes, der in Vers 4 unseres Kapitels in Hesekiel als Vorbild von Christo sagt: „Zu ihnen sende ich dich, und du sollst zu ihnen sprechen: So spricht der Herr, HERR!“

Hätten wir solchen Wesen noch ein Wort widmen können? Wären wir noch imstande gewesen, solchen Leuten eine Botschaft der Warnung zukommen zu lassen, wenn wir über Machtmittel verfügten, wie sie uns in Kapitel 1 beschrieben wurden, um alle Kreatur von dem Schauplatz dieser Erde auszurotten? Gott hat es getan!

Doch wenn Gott diesem schamlosen Geschlecht Vergebung anbietet, so ist die Verantwortung, die Botschaft zu verwerfen, doppelt so groß. Dann sollten sie wissen, „dass ein Prophet in ihrer Mitte war.“ Das sind höchst ernste Mitteilungen. Es geht hierbei nicht darum, ob der Herr Jesus als Messias oder als Heiland der Welt inmitten Israels auf der Erde weilte. Er lebte als ein Prophet in ihrer Mitte. Die furchtbare Verwüstung Jerusalems im Jahre 70, wie auch die Unterdrückung, die nach der Entrückung der Versammlung über die Juden kommt, sind nicht nur das gerechte Urteil Gottes, wegen der Verwerfung des Messias, sondern auch wegen der Propheten, die Gott gesandt hatte (5. Mo 18,19). Schwerwiegende Worte auch für Menschen unserer Tage, die den Herrn Jesus ablehnen. Nicht genug, dass man sich weigert, ihn als Heiland anzunehmen, man sträubt sich auch dagegen, ihn als Prophet, der im Namen Gottes Herz und Gewissen treffen möchte, anzuerkennen.

Die samaritische Frau in Johannes 4 dachte anders. Sie unterwarf sich ihm als Prophet, der, nachdem er ihr Herz gewonnen hatte, auch ihr Gewissen in den Versen 16 - 18 traf. Sie lernte ihn mit vielen anderen der Stadt als „Heiland der Welt“ kennen (V. 42).

Wir kommen in Vers 6 zu einer neuen Schönheit des wahren „Menschensohns“, wenn Gott zu Hesekiel spricht: „Und du, Menschensohn, fürchte dich nicht vor ihnen und fürchte dich nicht vor ihren Worten.“ Durch diese an Hesekiel gerichtete Ermunterung tritt die Macht dessen ans Licht, der sie nicht nötig hatte. Ebenso deutet das Waschen des Eingeweides und der Schenkel des Brandopfers in 3. Mose nur auf die Vollkommenheit dessen hin, der dieses Waschens nicht bedurfte. Das Räucherwerk aus wohlriechenden Gewürzen, das Aaron am Grossen Versöhnungstage ins Heiligtum hineintragen musste, ließ lediglich die Vortrefflichkeit dessen erkennen, der diese Spezereien in seiner Person Gott bereits darbrachte.

Wir sehen in den Evangelien keine Spur von Furcht vor Menschen noch vor ihren Worten bei dem Herrn Jesus. Wenn er sich auch - wie in Johannes 8,59 erwähnt - verbarg, so geschah es, um ihnen die Majestät seiner Person als der „Ich bin“, gegen den sie Steine aufhoben, zu entziehen, damit sie von dem Urteil „des Angesichtes des Herrn“ nicht verzehrt wurden. In Lukas 4,29 geht er „durch ihre Mitte hindurch“, so dass denen, welche ihn an den Rand des Berges geführt hatten, um ihn so hinabzustürzen, nicht das Urteil der Engel zuteil wurde, welche acht haben sollten, um ihn „auf den Händen zu tragen, damit er seinen Fuß nicht an einen Stein stöße“ (Ps 91,12). Er war in Wahrheit während seines Erdenlebens „der Löwe, der Held unter den Tieren, und der vor nichts zurückweicht“ (Spr 30,30).

Hesekiel wird in Vers 8 aufgefordert: „Und du, Menschensohn, höre, was ich zu dir rede; sei nicht widerspenstig wie das widerspenstige Haus: tue deinen Mund auf und iss, was ich dir gebe.“ Wie schön ist für Gott der abhängige Mensch, der in Jesaja 50,4 sagt: „Der Herr, HERR, hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben .... Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre gleich solchen, die belehrt werden.“ Mit Recht können wir sagen, dass der Vater noch nie ein solches bereitwilliges Ohr auf der Erde entdeckt hat, wie er es in seinem geliebten Sohn fand. Bruder Bellett äußerte einmal, dass der Ungehorsam der vortrefflichsten Männer in der Schrift nur die Herrlichkeit des Herrn Jesus vergrößerte. In Verbindung mit Jesaja 50,5 wird hier die Ermahnung an Hesekiel gerichtet: „Der Herr, HERR, hat mir das Ohr geöffnet, und ich, ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin nicht zurückgewichen.“

Wunderbarer Heiland! Was der Vater Dir ins Ohr sprach, bedeutete den Weg des Leidens bis in den Tod zu gehen, Gericht und Gottverlassensein auf Dich zu nehmen, damit der Vater mich lieben, und für ewig besitzen konnte! Wie soll ich Dir nur danken, dass Du bei diesem Auftrag nicht widerspenstig warst noch zurückgewichen bist, sondern Deinen Rücken den Schlagenden, deine Wangen den Raufenden und schnöden Sündern wie mich, dargeboten hast (Jes 50,6), die Dir den Weg, der Dir vom Vater bestimmt war, mit unsagbar schweren Leiden bereiteten, so dass Du endlich (Vers 7) dein Angesicht feststellen musstest wie einen Kieselstein, als die Schatten des Kreuzes auf Deinen Weg fielen, und Du dort am Kreuz sterbend alles, ja alles, für mich vollbracht hast!

Für Dich nur darf mein Leben sein,
Und was ich hab', für Dich allein,
Weil Du am Kreuze mich erworben.
Von Sünd' und Tod bin ich befreit
Und bin zu Deinem Dienst geweiht.
Ich lebe jetzt, weil Du gestorben.
O welche Huld! Wie liebst Du mich!
Ja, was ich bin, bin ich für Dich!

Ja, welch ein Weg war der des Heilands! „Denn Nesseln und Dornen sind bei dir“, sagt Gott in Vers 6 zu Hesekiel. Im Paradies konnte der erste Mensch sich nicht an Nesseln und Dornen verwunden. Doch nachdem durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen war und durch die Sünde der Tod (Röm 5,12), brachte die Erde nach dem Wort Gottes in 1. Mose 3,18 Dornen und Disteln hervor. Seither gleicht jedes Begräbnis dem des alten Vater Jakob „bei der Tenne Atad“, d.h. der Tenne des Wegdorns (1. Mo 50,10). Geziemt sich nicht auch für uns eine „große und schwere Klage“? Der Herr, der nicht nur als Gott, sondern auch als Mensch ohne Sünde und sittlich vollkommen war, machte keine Ausnahme und wohnte bei Dornen und Disteln. Nicht das Leiden im wortwörtlichen Sinne verwundete ihn am meisten, obschon auch das sehr viel Schmerz verursachte und die Menschen die schärfste Bosheit anwandten, indem sie ihm die Dornenkrone aufsetzten und darauf schlugen, sondern der Mensch selber, den er zu erretten gekommen war, war es, der in seinem moralischen Verhalten ihm gegenüber „Nesseln und Disteln“ verkörperte. Die sittlichen Leiden, die durch äußere Elemente (Schmach der Feuerflammen, Durst, Schwerthiebe) vorgestellt werden, sind weit größer als die Pein, die durch diese Bilder hervorgerufen wird. Jede Berührung des Menschen, die durch ihn in Liebe geschah, rief in seiner Seele das Leiden hervor, das wir empfinden, wenn wir über eine Brennnessel streichen oder in einen Dorn fassen. Wenn schon der treue Überrest in Psalm 57,4 klagte: „Mitten unter Löwen ist meine Seele, unter Flammensprühenden liege ich, unter Menschenkindern, deren Zähne Speere und Pfeile, und deren Zunge ein scharfes Schwert ist“, was muss dann unser Heiland im Verkehr mit uns Menschen gefühlt haben! „Nesseln und Dornen sind bei dir.“ Das war die Gesellschaft, die ihm zugewiesen wurde, der doch als der HERR zwischen den Cherubim thronte (Ps 99,1).

Du bist auf „Akrabbim“ gelagert (Vers 6). „Akrabbim“, oder mit dem vollen Namen „Maalah Akrabbim“ genannt, heißt so viel wie „Höhe“ oder „Pass der Skorpionen“ und erstreckt sich vor den Gestaden, die das tiefe Sumpftal El-Chor im Süden des Toten Meeres von dem höher gelegenen Araba scheiden. Dies Gebiet zog sich nach 4. Mose 34,3 und Josua 15,3 am südöstlichen Rand Judas entlang - in Richter 1,36 bildet es die Grenze mit den Amoritern. Im Buch der Makkabäer (5,3) wird uns berichtet, dass Judas Makkabäus die Edomiter in das Tal Akrabbim gejagt habe. Heute noch entdeckt man diese Skorpione in Araba; auf feuchten Klippen und alten Ruinen sitzend und auch in der Wüste Paran hausend, stellen sie eine gefährliche Plage dar. 5. Mose 8,15 stellt uns die Anwesenheit von feurigen Schlangen und Skorpionen als Inbegriff des „großen und schrecklichen Wüste“ vor, in der Israel zur Strafe ihres mehrmaligen Murrens vierzig Jahre umherwandern musste.

So nahm unser Herr und Heiland nicht nur den Platz ein, der dem Menschen geziemt, sondern auch den Platz, den Israel verdient hatte und den es sittlich bis zum heutigen Tage einnimmt. Er entäußerte sich nicht nur freiwillig des Segens, der dem gehorsamen Menschen im Paradies zugekommen wäre, sondern verzichtete als gehorsamer Israelit auf das Land Palästina, dem Land der Verheißungen Gottes. Er war in Wahrheit auf Akrabbim gelagert. Er ist die wahre Lade des Bundes des HERRN und der wahre Mose, der in 4. Mose 14,44, als die Kinder Israel in ausschweifendem Übermut auf den Gipfel des Gebirges hinaufzogen, um das Land einzunehmen, dessen Besitz sie am Vortag für sich verwirkt hatten, nicht aus der Mitte des Lagers wich. Er ist der HERR voller Gnade, der in 2. Samuel 7,7 sagt, dass er immer mit allen Kindern Israels gewandert ist.

Das herrliche Ergebnis für uns, die Gläubigen, besteht darin, dass er, nachdem er das Werk vollbracht hat, nun mit uns als barmherziger Hoherpriester Mitleid zu haben vermag, die wir uns in denselben Umständen befinden. Sind Nesseln und Disteln um uns her, und leiden wir unter den schmähenden und gehässigen Bemerkungen unserer Mitmenschen, dann hat er vollkommenes Mitgefühl mit uns. Sind wir auf Akrabbim gelagert und müssen gleich Josua und Kaleb die Folgen der Sünde des Volkes Gottes tragen, die er in seinen Regierungswegen mit dieser Erde sieht, so fühlt er unser Leid. Niemals beanspruchte unser Herr hier auf der Erde den Platz des Segens, um Sich der Zucht des Volkes Gottes zu entziehen. Welch ein Heiland ist er! Sei es für Menschen im Allgemeinen oder für das Volk Gottes auf der Erde im Besonderen, er wendet allen sein Mitleid zu, denn „in all ihrer Bedrängnis war er bedrängt.“ (Jes 63,9). Sein Mitgefühl kann uns jedoch nicht auf allen Wegen der Sünde begleiten.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel