Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Einleitung
Eine schwierigere Aufgabe, als eine Einleitung in ein Buch der Heiligen Schrift zu schreiben, ist wohl nicht denkbar. Je größer der Bereich ist, den man überschauen muss, um darüber etwas zu sagen, desto weniger ist Gelegenheit zur Phantasie gegeben, und desto mehr empfindet man, dass man völlig auf die Hilfe des Herrn angewiesen ist. Es stellt für einen erfahrenen Redner keine große Kunst dar, auf einen einzigen Textabschnitt eine glänzende Predigt aufzubauen. Ebenso mag es für jemanden, der sich in der Bibel auskennt, einfach sein, ein gewisses Kapital der Schrift auszulegen – doch eine Übersicht eines Buches der Bibel zu geben, ist eine mühevolle, oder wie es die Menschen auszudrücken pflegen, „undankbare“ Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass von all den Betrachtungen über Gottes Wort die Einleitungen am wenigsten gelesen werden. Doch gerade sie sind sehr nötig, da es keine bessere Voraussetzung für ein weiteres Eindringen mithilfe des Heiligen Geistes in die Gedanken Gottes über ein Buch gibt, als eine sogenannte „bewährte“ Einleitung.
Andererseits ist jedoch nichts gefährlicher als eine Einleitung zur Heiligen Schrift aus der Hand eines Bibelkritikers. Eine Einleitung, die die Bibelkritik des Schreibers widerspiegelt und beweist, dass dieser nicht bedingungslos die völlige Inspiration jedes einzelnen Verses anerkennt, kann durch eine Folge erhabener Gedanken und nützlicher Lehren nicht verbessert werden. Dadurch, dass der Wert der Einführungen in Gottes Wort vielerorts verkannt wird, hört man öfter auch die Bemerkung: „Ich kann mich zwar mit den Gedankengängen der Einleitung nicht völlig einsmachen, doch im Hinblick auf die schönen Ausführungen kann ich sie dir nur empfehlen.“
Das ist eine gefährliche Redensart – ein Spiel mit den kostbaren Seelen. Was würden wir von jemandem halten, der alle Gänge eines Festessens kosten würde und zu dem Schluss käme: „Zwar ist die Hälfte der Speisen vergiftet, doch der Rest ist so vortrefflich, dass ich das Essen nur wärmstens empfehlen kann.“
Von unseren Brüdern ist nur wenig Lektüre über das Buch Hesekiel vorhanden. Ich habe alle Schriften, die sich mit Hesekiel befassen, zu Rate gezogen und möchte anhand dieser Betrachtungen, die hauptsächlich die Werke zweier Brüder sind, einige Aufzeichnungen machen.
- Das eine Werk von Bruder H. Rossier Sommaire du Livre dʼHesekiel ist 1935 schon im fünften Druck erschienen.
- Das andere Buch mit dem Titel Quelques Pages dʼHesekiel (1958) ist der Serie Pour les jeunes croyants von Bruder G. André entnommen.
Ich übernehme ferner mit voller Übereinstimmung das, wovon Bruder André in seinem kurzen Vorwort in dem genannten Werk sagt: „Auf Besonderheiten, die speziell den prophetischen Teil betreffen, verweise ich auf den Kommentar J. N. Darbys über Hesekiel in der Synopsis. Für solche, die Englisch kennen, empfehle ich das Werk von W. Kelly: Notes on Ezekiel.1
Wir ziehen aus der Betrachtung des Buches Hesekiel großen Nutzen, wenn wir es neben den Brief an die Hebräer legen. Anders ausgedrückt: Die Linie des Briefes, die der Apostel Paulus, der sehr wahrscheinlich der Schreiber dieses Briefes ist, in Kapitel 13,13 angibt, deckt sich mit dem Boden des Buches Hesekiel.
Wenn die Hebräer den Leibern der Schlachtopfer folgten, deren Blut vom Hohenpriester ins Heiligtum getragen wurde, gelangten sie außerhalb des Lagers, fern von den religiösen Systemen, die in jenen Tagen in Jerusalem bestanden. Sie näherten sich einem „reinen Ort, dem Schutthaufen der Fettasche“ (3. Mo 4,12). Das ist für uns der Ort des Kreuzes unseres Heilandes, und nur dort findet die Heiligung des Volkes durch das Blut des Herrn Jesus wirklich statt (Heb 13,12). Wenn sie nun die Leiber der Schlachtopfer außerhalb des Lagers hinausbrachten, um sie auf Holzscheiten mit Feuer „auf dem Schutthaufen der Fettasche“ zu verbrennen, stellten sie sich bereits vor ihrem endgültigen Fall unter das Gericht, das Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. in seiner ganzen Schrecklichkeit erfahren sollte. Das Maß der Bosheit der Väter war damit voll.
Das, was die Hebräer in der Vorahnung des Gerichts zu tun hatten, haben Hesekiel, und die Weggeführten, in deren Mitte er sich befand, auch getan. Die verschiedenen Zeitangaben, die Hesekiel uns gibt, sind voller Bedeutung (1,2; 8,1; 20,1; 24,1; 26,1; 29,1.17; 30,20; 31,1; 32,1.17; 33,21; 40,1). Sie haben alle Bezug auf die denkwürdigen Ereignissen des Jahres 599 v. Chr., von denen wir in 2. Könige 24,10-16 lesen: „Zu jener Zeit zogen die Knechte Nebukadnezars, des Königs von Babel, nach Jerusalem herauf, und die Stadt kam in Belagerung. Und Nebukadnezar, der König von Babel, kam zur Stadt, während seine Knechte sie belagerten. Und Jojakin, der König von Juda, ging zum König von Babel hinaus, er und seine Mutter und seine Knechte und seine Obersten und seine Hofbeamten; und der König von Babel nahm ihn gefangen im achten Jahr seiner Regierung. Und er brachte von dort alle Schätze des Hauses des Herrn und die Schätze des Königshauses heraus, und er zerschlug alle goldenen Geräte, die Salomo, der König von Israel, im Tempel des Herrn gemacht hatte – so wie der Herr geredet hatte. Und er führte ganz Jerusalem weg, und alle Obersten und alle kriegstüchtigen Männer, 10 000 Gefangene, und alle Handwerker und Schlosser; nichts blieb übrig als nur das geringe Volk des Landes. Und er führte Jojakin weg nach Babel; und die Mutter des Königs und die Frauen des Königs und seine Hofbeamten und die Mächtigen des Landes führte er als Gefangene von Jerusalem weg nach Babel“.
Mit der Wegführung nach Babel war viel Schmach verbunden, und ebenso zieht auch das Hinausgehen außerhalb des Lagers Schmach und Verachtung nach sich – es sind die Tage „seiner Schmach“. Wenn wir Hesekiel in Kapitel 1,1 inmitten der Weggeführten am Fluss Kebar sehen, so haben wir in ihm ein eindrucksvolles Beispiel unseres Herrn Jesus, der der Mittelpunkt der gottesfürchtigen Juden, der Hebräer, war; sie folgten der Aufforderung des Apostels und gingen aus dem Lager hinaus, um dem religiösen System der Tage Jerusalems, das ursprünglich von Gott eingesetzt worden war, den Rücken zuzukehren und somit dem Gericht zu entfliehen.
So wundert es uns daher nicht, dass Hesekiel ab Kapitel 2,1 von Gott mit demselben Namen angesprochen wird, den der Herr Jesus als Titel seiner Erniedrigung wie seiner höchsten Verherrlichung trägt – den Namen Sohn des Menschen(oder Menschensohn). Dieser für uns so majestätische Name zieht sich durch das ganze Buch bis zu Kapitel 47,6.
In Verbindung mit diesem Namen Sohn des Menschen steht bei Hesekiel noch etwas, dass äußerst wichtig ist und das wir bei keinem anderen der Propheten finden, nämlich die Ermunterung Gottes, sowohl Israel als auch Jerusalem zu richten. „Willst du sie richten? Willst du richten, Menschensohn? ... Und du, Menschensohn, willst du richten, willst du richten die Stadt der Blutschuld? So tu ihr alle ihre Gräuel kund“ (Hes 20,4; 22,2).
Dabei müssen wir an die Worte in Bezug auf den Herrn Jesus als den Sohn des Menschen in Johannes 5,26.27 denken: „Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst; und er hat ihm Gewalt gegeben, Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist.“
Hesekiel wird zu Anfang dieses Buches (Kap. 1,3) auch als „der Priester“ bezeichnet – so steht auch im Hebräerbrief das Priestertum des Herrn Jesus im Vordergrund. In Kapitel 8,1 lesen wir von Hesekiel: „Ich saß in meinen Haus, und die Ältesten von Juda saßen vor mir“. Auch das erinnert uns an die Worte in Hebräer 3,6: „Christus aber als Sohn über sein Haus, dessen Haus wir sind, wenn wir nämlich die Freimütigkeit und den Ruhm der Hoffnung bis zum Ende standhaft festhalten.“
Die deutlichste Stelle zur Analogie zwischen dem Hebräerbrief und dem uns jetzt vorliegenden Buch, wie auch zwischen Hesekiel und Christus, der wir im Hebräerbrief begegnen, gibt uns Hesekiel 11,14-16. Diejenigen, die sich mit Hesekiel in der Verbannung befinden (Kap. 1,1), werden hier als „deine Brüder, die Männer deiner Verwandtschaft“ bezeichnet. Diese Worte erinnern uns an den Wert, den der Heilige Geist auf die Bedeutung von „Brüdern“ Christi in Hebräer 2,11.12.17 und 3,1 legt. Der Ausdruck „Verwandtschaft“ steht in enger Beziehung zum „Löser“ von 3. Mose 25,25.48 („sein Löser, sein nächster Verwandter“; in der englischen Übersetzung heißt es: „his nearest relation“, mit der Anmerkung „Gahal“: der nächste Verwandte; er hatte das Recht zur Lösung, siehe Psalm 69,19). Dieses Lösen unseres Heilandes im Blick auf die Brüder finden wir in den uns wohlbekannten Versen von Hebräer 2,14-16.
Die Einwohner Jerusalems sprachen zu den Männern „deiner Verwandtschaft …: Bleibt fern von dem Herrn; uns ist das Land zum Besitztum gegeben!“ (Hes 11,15). Ist dies nicht die Sprache der religiösen Führer in Jerusalem, die die Hebräer hören mussten? Hatten sie nicht, nachdem sie erleuchtet waren, wie die obigen viel „Schmach der Leiden“ zu ertragen? Doch in Hesekiel 11,16 folgt ein wertvolles Versprechen: „Obgleich … ich sie in die Länder zerstreut habe, so bin ich ihnen doch ein wenig zum Heiligtum geworden in den Ländern, wohin sie gekommen sind“. Ist es nicht so, als würden wir uns hier Jahrhunderte vor der neuen Offenbarung bereits auf dem Boden des Hebräerbriefes befinden? Als all das Sichtbare vor den Augen der Weggeführten verschwunden war, empfingen sie von Gott einen Platz des Glaubens, der völlig dem des Hebräerbriefes entspricht, wo ebenfalls der ursprünglich von Gott eingesetzte sichtbare Gottesdienst der herrlichen Person des Herrn Jesus Christus weichen musste.
Nach dem Empfang ihres Glaubens durch den Heiligen Geist werden sie wie in Hebräer 8,6-13 auf ihre herrliche Zukunft unter dem neuen Bund aufmerksam gemacht: „Und die Herrlichkeit des Herrn erhob sich aus der Mitte der Stadt und stellte sich auf den Berg, der im Osten der Stadt ist“ (Hes 11,23).
Was bleibt nun sowohl für die Weggeführten zur Zeit Hesekiels als auch für die gläubigen Juden im Hebräerbrief übrig, als sich die Herrlichkeit des Herrn aus der Mitte der Stadt erhob? Die Antwort folgt in den Versen 24 und 25: „Und der Geist hob mich empor und brachte mich im Gesicht durch den Geist Gottes zu den Weggeführten nach Chaldäa; und das Gesicht, das ich gesehen hatte, hob sich von mir weg. Und ich redete zu den Weggeführten alle Worte des Herrn, die er mich hatte sehen lassen.“
Für die Hebräer bleibt in Kapitel 13,8 übrig: „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ Sie sollen die Ermahnung von Hebräer 12,25 beachten: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der redet!“
Schließlich wird Hesekiel wie Johannes, der Seher auf Patmos, auf einen sehr hohen Berg geführt (Kap. 40,2), wo er den neuen Tempel sieht, der bald im Tausendjährigen Reich in Jerusalem stehen wird. In Bezug auf den Herrn Jesus geschieht dies nur, um alles dem Haus Israel zu berichten (Kap. 40,4). In Kapitel 43,10.11 wird uns gesagt: „Du, Menschensohn, berichte dem Haus Israel über dieses Haus, damit sie sich ihrer Ungerechtigkeiten schämen und den Bau messen. Und wenn sie sich über alles schämen, was sie getan haben, so zeige ihnen die Form des Hauses und seine Einrichtung und seine Ausgänge und seine Eingänge und alle seine Formen und alle seine Satzungen und alle seine Formen und alle seine Gesetze; und schreibe es vor ihren Augen auf, damit sie seine ganze Form und alle seine Satzungen behalten und sie tun.“
Der „geheiligte Schreiber“ (so nennt ihn Bruder Darby) des Hebräerbriefes macht sich in Kapitel 3 mit den gläubigen Juden eins und spricht von dem Herrn Jesus als dem „Apostel“ unseres Bekenntnisses, der mit der „himmlischen Berufung“ in Verbindung steht. „Betrachtet den Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses“ sagt er. Lasst auch uns Ihn bei unseren Überlegungen in Hesekiel betrachten. Er wird uns dann im Besonderen am Ende dieses Buches, wenn wir die zukünftige Herrlichkeit anschauen, alles, was das Haus Israel in Hesekiel betrifft, offenbaren.
Das ist nur möglich, wenn in unseren Herzen und Gewissen wie bei Israel ein moralisches Werk vorausgeht. Kapitel 43,11 lehrt uns: „Und wenn sie sich über alles schämen, was sie getan haben, so zeige ihnen die Form des Hauses und seine Einrichtung“. Erst wenn das Wort, das in unserem Mund süß wie Honig war, unseren Bauch bitter gemacht hat, wie es in Offenbarung 10,10 heißt, können wir das tun, was in Offenbarung 11,1 steht: „miss den Tempel Gottes und den Altar und die, die darin anbeten“ (Off 11,1).
Doch wie herrlich ist es, dass in Kapitel 43,10 zuerst gesagt wird: „berichte dem Haus Israel über dieses Haus, damit sie sich ihrer Ungerechtigkeiten schämen“. Die Tatsache, dass wir wiedergeboren sind und das neue Leben aus Gott in uns ist, befähigt uns, Unterweisungen durch den Sohn des Menschen über das Haus und seine Herrlichkeit, die bald unser Teil sein werden, aufzunehmen, um uns dann, nachdem ein Werk des Selbstgerichts stattgefunden und die sittliche Voraussetzung vorhanden ist, in die Feinheiten von Vers 11 einzuführen.
Möge der Herr dem Schreiber wie dem Leser zur Hilfe kommen. Vielleicht ist Er vor Beendigung unserer Betrachtung bereits gekommen; dann macht Er uns mit der Form des Hauses und seiner Einrichtung, seinen Ausgängen und seinen Eingängen und allen seinen Formen und allen seinen Satzungen und allen seinen Formen und alle seinen Gesetzen in Herrlichkeit droben bekannt.
Fußnoten
- 1 Die deutsche Übersetzung dieses Buches befindet sich auf https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/AT-26-Hesekiel-WKelly-D.pdf