Betrachtung über den Propheten Hesekiel

Kapitel 4

Dieses Kapitel führt uns zu einem wichtigen Grundsatz in Verbindung mit den letzten Versen von Kapitel 3. Als kein Zeugnis inmitten Israels mehr vorhanden war, musste notwendigerweise ein Zeugnis gegen Israel bestehen. Dieses Prinzip ist zu jeder Zeit gültig. Sobald der Zustand eines Volkes, dem Gottes Zeugnis bekannt war, dessen heiligen Ansprüchen nicht mehr genügt, richtet sich Gottes unwiderrufliches Urteil daraufhin gegen dieses Volk, und Gott muss, obgleich Er zuvor zur Umkehr gemahnt hat, das Gericht ankündigen.

Wir finden ein Beispiel in dem Volk Israel. Die Worte in Vers 2 haben bemerkenswerte Ähnlichkeit mit jenen, die der Herr über die bevorstehende Belagerung Jerusalems in Lukas 19,43.44 ausspricht: „Denn Tage werden über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall gegen dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten bedrängen; und sie werden dich dem Erdboden gleichmachen und deine Kinder in dir zu Boden strecken und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen, darum, dass du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“ Diese Worte sagte der Herr, als er sich damals der Stadt Jerusalem näherte. Auch als er auf dem Weg zum Kreuz von den Hohenpriestern und den Obersten des Volkes weggeführt wurde (denn so wird es uns in Lukas vorgestellt), richten sich seine Worte gegen die Stadt: „Töchter Jerusalems, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und über eure Kinder denn siehe, Tage kommen, an denen man sagen wird: Glückselig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden sie anfangen, zu den Bergen sagen: Fallt auf uns! Und zu den Hügeln: Bedeckt uns! Denn wenn man dies tut an dem grünen Holz, was wird an dem dürren geschehen?“ (Lukas 23,28-31)

Dieses Zeugnis rief den größten Hass seitens derer hervor, gegen die es gerichtet war. Sind wir nun von Natur aus den gehässigen Angriffen derer, in deren Mitte ehemals das Zeugnis bestand, gewachsen? Nein, das sind wir nicht. Gott aber schafft hier Abhilfe, indem er befiehlt: „Nimm dir eine eiserne Pfanne und stelle sie als eine eiserne Mauer zwischen dich und die Stadt.“ In Apostelgeschichte 7,54 sehen wir bei Stephanus diese eiserne Pfanne zwischen ihm und der Stadt. Als die Herzen der jüdischen Führer durchbohrt waren, und sie mit den Zähnen knirschten, lesen wir weiter: „Als er aber, voll Heiligen Geistes, unverwandt zum Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes, und Jesus zur Rechten Gottes stehen.“ Paulus dagegen hält in Apostelgeschichte 23,1, als er das Synedrium unverwandt anblickte, nicht diese eiserne Pfanne zwischen sich und die Stadt. Er verteidigt sich selbst, indem er sagt: „Brüder! Ich habe mit allem guten Gewissen mein Leben vor Gott geführt bis auf diesen Tag.“ Diese Selbstverteidigung, die Paulus noch fortsetzen wollte, machte ihn tief unglücklich und wurde von Gott selbst unterbrochen, indem er dem Hohenpriester Ananias befahl, ihm auf den Mund zu schlagen.

Die Verse 4 bis 15 führen uns zu dem ergreifendsten Teil dieser Betrachtung. Hier haben wir wie in Jesaja 53 das erlöste Volk des Herrn, das zur Erkenntnis gelangt, dass der Herr Jesus Christus die Schuld als heiliges Schlachtopfer getragen hat. Geliebte, berührt es nicht unser Herz, dass derselbe, der prophetisch die Belagerung gegen das verdammungswürdige Jerusalem bewirkt hat, in den drei Stunden der Finsternis ihre Schuld auf sich nahm? Wenn wir an unsere eigene Schuld denken, die dort auf ihn gelegt wurde, drängt es uns, auszurufen:

O Lamm, sei hoch gepriesen!
Du trugst die ganze Schuld.
Dank dir, du hast erwiesen
nur Gnade, Lieb’ und Huld.

Die Ungerechtigkeiten des Hauses Israels, die Jahre ihrer Ungerechtigkeiten, werden nach der Zahl der Tage auf Hesekiel gelegt. Nein, um es noch deutlicher zusagen, er selbst musste sie auf seine Seite legen (Vers 4). Wir werden hierbei unmittelbar an die Worte in Jesaja 53 erinnert: „Fürwahr, er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen.“ Ohne Zweifel wird uns in Hesekiel die hingebungsvolle Bereitwilligkeit des stellvertretenden Sündenträgers vorgestellt, indem auch er sich auf seine Seite legte.

Eine bewunderungswürdige, göttliche Liebe strahlt uns in Ihm entgegen, der uns bis in den Tod geliebt hat! Er konnte zu dem schuldigen, aber nun befreiten Volk sagen: „Reiche deinen Finger her und sie meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite“ (Johannes 20,27). Hat der gläubige Überrest den Mut, der Aufforderung zu folgen und seine Hand an die Stelle des Leibes des Herrn zu legen, auf die Er selbst in seiner großen Liebe ihre Ungerechtigkeiten gelegt hat, und wohin Er mit dem Speerstoß getroffen worden war? Nein, sie sollen vielmehr voll Anbetung mit den Worten niederfallen: „Mein Herr und mein Gott.“

Gott hat nicht die geringste Ungerechtigkeit vergessen. Er lässt kein einziges Jahr aus, denn Er kennt die Geschichte Israels von dem Augenblick an, als das Zehnstämmereich aufgerichtet wurde, bis zur Verwüstung Jerusalems durch Nebukadnezar. In seinen Regierungswegen führte Er die zehn Stämme nach Assyrien, Juda aber setzte seine Geschichte fort. Aus 2. Könige 17,13-20 wird deutlich, dass Er trotz der Wegführung der zehn Stämme Israel nicht auflöste, jedoch lesen wir, dass „der Herr den ganzen Samen Israels verwarf und sie demütigte.“

Ja, Gott vergaß auch die Jahre meiner Ungerechtigkeiten nicht, bis der Heiland meine Sünden hinweg getan hat. Nicht allein meiner bereits begangenen Ungerechtigkeiten wird in seinen Regierungswegen nie mehr gedacht werden, sondern auch die Ungerechtigkeiten, die ich noch tun werde und die ebenfalls unter dem Grundsatz der Gesetzlosigkeit stehen (1. Johannes 3,4), werden hinweg getan werden: alles hat sein Ende im Gericht auf dem Kreuz gefunden. Unser geliebter Herr hatte alle Ungerechtigkeiten als die seinen auf dem Kreuz getragen: „meine Ungerechtigkeiten haben mich erreicht, dass ich nicht sehen kann“ (Psalm 40).

Nicht nur die 390 Tage für Israel, sondern auch die in Vers 6 erwähnten 40 Tage für Juda haben uns etwas zu sagen. Die 40 Tage reden von der friedlichen Regierung unter Salomo. „Man kann eigentlich sagen, dass Israel seit Aufrichtung des Königreiches nichts als Böses vollbracht hat. Es war lediglich die Zeit Salomos, wo man von einer auf Frieden bedachten Regierung sprach. David hatte das Reich errichtet. Die Verantwortlichkeit seiner Familie begann mit Salomo (2. Samuel 7) (Synopsis IV J.N.D). Nach der soeben angeführten Stelle aus 2. Könige 17,20 wird Israel von dem Augenblick an, da es sich vom Haus Davids getrennt und Jerobeam zum König gemacht hatte, als unterdrückt und in der Hand der Räuber angesehen.

Alle unsere Sünden, sowohl die, welche wir unbewusst, als auch die, welche wir unter der vollen Verantwortlichkeit taten, sind ein für allemal am Kreuz gesühnt worden. Ob es das Lügen gegen den Heiligen Geist, oder aber die größten Ungerechtigkeiten der Gläubigen in der Kirchengeschichte ist: Das Kreuz steht jedermann offen.

Unser Herr und Heiland trug alle Sünden in vollkommener Ausdauer, Geduld, Feinfühligkeit und Unterscheidung. Er unterlag nicht, denn jedes Unterliegen hätte wie jede Betäubung die moralische Würde, die mit dem Tragen der Ungerechtigkeiten vor Gott in Verbindung steht, zunichte gemacht. Er musste erfahren, was es heißt, unter das gerechte Urteil des heiligen und unbestechlichen Gottes zu kommen. Die Zahl 6 spricht in den sechs Arten von Feldfrüchten (Vers 9) und dem sechsten Teil eines Hin Trinkwassers (Vers 11) von dem standhaften Ausharren unseres Herrn, wie er in voller Klarheit und ungetrübtem Empfinden die ganze Sündenlast getragen hat („was Hesekiel an Speise und Trank bedurfte, die ihn von Erschöpfung fernhielten, war nicht ausreichend, um das Leben zu erhalten“, sagt Taylor in seiner Schrift „Readings on Ezekiel“).

Gerstenbrot spricht meines Erachtens sehr deutlich von dem Herrn Jesus, wie Er in Jesaja 53 beschrieben wird: „Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt.“ Gerste war die billigste Getreidesorte, kaum halb so teuer wie Weizen (vgl. 2. Könige 7,1 und Offenbarung 6,6). Darum ersetzt sie auch unseren Hafer als Viehfutter. Andere Stellen sprechen ebenfalls von der Verächtlichkeit der Gerste; ich entlehne sie dankbar der Erklärung in „Plantenleven in de Bijbel“ von Möller-Christensen und Jordt Jörgensen: Hosea 3,2; 4. Moses 5,15; Hesekiel 13,9 und Richter 7,13. Auch in unseren Tagen, so wird gesagt, ist Gerstenbrot ein Schimpfwort der Beduinen. Jemand, auf den man verächtlich herabsieht, beschimpfte man mit dem Ausdruck „Gerstenbrot“.

Die vorbildliche Bedeutung der Handlung, als dieser Gerstenkuchen „auf getrockneten Ballen von Menschenkot“ vor den Augen des Volkes gebacken wurde, ist überaus ergreifend: Der Herr wurde verachtet und mit dem Unwürdigsten des Menschen, mit dem ganzen Schmutz, der Unreinheit des Kotes als Bild der Sünden, in Berührung gebracht. Nichts blieb ihm an Abscheulichkeit und Gestank der Sünden gegenüber einem heiligen und gerechten Gott erspart. Unser Herr und Heiland fühlte in den drei Stunden der Finsternis die Unreinheit in dem Maß, wie Gott in seiner Heiligkeit und Reinheit verunehrt worden war. Es ist ein erbärmlicher Anblick, wenn ein Kind sich verunreinigt hat und schreit, indem es sich selbst schämt. Dies gibt etwas von dem wieder, was wir hier vor uns haben. Die Worte Hesekiels spiegeln etwas von dem wider, was der Herr Jesus in seiner Seele empfand: „Da sprach ich: Ach Herr, Herr! Siehe, meine Seele ist nie verunreinigt worden, und weder Aas noch Zerrissenes habe ich von meiner Jugend an bis jetzt gegessen, und kein Gräuelfleisch ist in meinen Mund gekommen.“ Hier liegt ein sündiger Mensch gleich uns allen angesichts der Abscheulichkeit der Sünde. Warum? Um etwas von den Leiden zu verdeutlichen, die der Herr Jesus wegen der schrecklichen Sünde auf sich nahm, meiner und deiner Sünde, als Er für uns zur Sünde gemacht wurde. Nicht allein kam Er mit all dem Schmutz in Berührung, sondern Er verkörperte für Gott auch das Prinzip der Sünde. Er fand keine Schonung wie Hesekiel, dem Gott Rindermist statt Menschenkot gestattete, damit er damit Brot zubereiten konnte.

In dieser Gegenüberstellung des verächtlichen Menschenkotes und dem Rindermist möchte der Heilige Geist nochmals die Furchtbarkeit der Sünde des Menschen in Gottes Augen betonen. Jesaja 1,3 und Jeremia 8,7 machen das natürliche Benehmen der Tiere im Gegensatz zu der Unnatürlichkeit unseres Betragens Gott gegenüber klar. So konnte es für unseren geliebten Herrn am Kreuz keine Schonung geben. In keiner Hinsicht blieben Ihm die tiefen Leiden erspart; sondern Er bekam dort die ganze Abscheulichkeit der Sünde zu spüren.

Unser Kapitel endet mit den Worten: „Menschensohn, siehe, ich will in Jerusalem den Stab des Brotes zerbrechen; und sie werden Brot nach dem Gewicht und in Angst essen und Wasser abgemessen und in Entsetzen trinken, weil Brot und Wasser mangeln werden und sie miteinander verschmachten und in ihrer Ungerechtigkeit hinschwinden werden.“ In Gottes unergründlichen Ratschlüssen ist uns durch die Armut in Jerusalem und unter dem ganzen Volk Heil geworden. Das Urteil über den ungläubigen Teil Israels wartet in seiner vollen Tragweite noch auf seine Ausführung. Es gibt, während Kanaan hungert, im ganzen Land Ägypten Brot (1. Mose 41,53 ff). Während das Vlies trocken war, war auf dem ganzen Boden Tau (Richter 6,40). Der Fall Israels bedeutet den Reichtum der Welt, ihre Verkürzung heißt Wohlstand für die Völker; ihre Verwerfung hat die Versöhnung der Welt zur Folge (Römer 11,11.15). Doch, wehe dem, der in dieser Gnadenzeit den Reichtum an „Brot und Wasser“, die Gott ihm in der Person des Herrn Jesus Christus anbietet, ausschlägt. Wehe dem, der dieses von Gottes Hand gegebene, verächtlich erscheinende Gerstenbrot, wie Israel es einst tat, ablehnt. Er soll „in seiner Ungerechtigkeit hinschwinden“: nicht die Vernichtung, sondern der ewige Tod wird sein Teil sein.

Der Mann der Schmerzen, unser Heiland, hat uns ein herrliches Teil bereitet! Für uns spricht das Gerstenbrot nicht von Verachtung, sondern von der Auferstehung unseres Herrn, der als Erstgeborener aus den Toten um meinetwillen diese furchtbaren Leiden ertrug, sodass bei uns wegen all der Bitterkeit der Sünde Tränen in den Augen und Betrübnis im Herzen hervorgerufen werden. Doch Er bildet den herrlichen, glanzvollen und ewigen Mittelpunkt, sowohl für Gott als auch für den, der Ihm gehört.

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