Betrachtung über den Propheten Hesekiel

Kapitel 18

Der Herr geht in diesem Kapitel auf ein weiteres gangbares Sprichwort dieser Zeit ein. Wir machten bereits in Hesekiel 12,22 darauf aufmerksam, welchen Wert Gott dem Sprichwort der Menschen beimisst. Gott sieht den anstehenden Gegenstand so wichtig an, dass Er sich herablässt, dem Menschen seine Handlungsweise zu erklären. Wenn nun Gott seine Wege rechtfertigt, dann tut Er es nicht unvernünftigen Tieren gegenüber, sondern „verständigen und besonnenen“ Geschöpfen gegenüber. Macht uns Gott schon mit den Motiven seiner Handlungen bekannt, so liegt es an uns, sie zu überdenken und unser Herz und Gewissen danach auszurichten.

In Israel kannte man folgendes Sprichwort: „Die Väter essen unreife Früchte, und die Zähne der Söhne werden stumpf.“ Sie deuteten hiermit auf 2. Mose 34,7, wo Gott durch Mose spricht, dass Er keineswegs den Schuldigen für schuldlos halt, „der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und der vierten Generation.“ Die Kinder Israel benutzen diese Heimsuchung in den Regierungswegen Gottes auf der Erde zur Ausrede, um sich über ihre eigene Schuld hinwegzutäuschen. Doch lesen wir, was Kelly hierüber schreibt: „Ein Sünder muss selbstverständlich für seine eigenen Sünden bestraft werden; und wenn es schon damals die Gerechtigkeit erforderte, die Strafe für das Böse der Vorfahren zu erdulden, so kann man sich doch erst recht nicht weigern, das Urteil über das selbst begangene Böse anzuerkennen.“

Bei den Versen 5 bis 18 werden wir an drei Personen oder Personengruppen in der Geschichte Israels erinnert. Wenn jemand gerecht war und Recht und Gerechtigkeit übte – wie Vers 5 fordert –, so war es sicher Abraham, der große Erzvater dieses Volkes. Doch wir erkennen in seinem Sohn, der in Vers 10 ein Gewalttätiger genannt wird, die Nachkommen, die es sich selbst zur Gerechtigkeit anrechneten, Kinder Abrahams zu sein. Als diese nun zu Johannes dem Täufer kamen, bezeichnet er sie mit dem vor Gott wahren Namen: „Otternbrut“, nicht Kinder Abrahams. Sicher mögen diese Menschen, die das Alte Testament zur Genüge kannten, auch die Anspielung von Jesaja 59,4.5 begriffen haben, wo wir lesen: „Niemand ruft Gerechtigkeit aus, und niemand rechtet in Treue; man vertraut auf Nichtigkeit und redet Falschheit; man ist schwanger mit Mühsal und gebiert Unheil. Schlangeneier brüten sie aus, und sie weben Spinngewebe: Wer von ihren Eiern isst, muss sterben, und wird eins zertreten, so fährt eine Otter heraus;“.

Sehr interessant ist auch die dritte Kategorie in den Versen 14 bis 18: „Und siehe, es zeugt einer einen Sohn, und dieser sieht alle Sünden seines Vaters, die er tut.“ Werden wir hier nicht deutlich auf den gläubigen Überrest Israels hingewiesen, der gleich nach der Aufnahme der Versammlung in Herrlichkeit offenbar wird? Der Sohn erkennt all die Sünden seines Vaters. Auch der Überrest wird bald alle Sünden vor sich sehen. Psalm 106,6.7 sagt uns: „Wir haben gesündigt samt unseren Vätern, haben unrecht getan, haben gottlos gehandelt. Unsere Väter in Ägypten beachteten nicht deine Wundertaten, erinnerten sich nicht an die Menge deiner Gütigkeiten und waren widerspenstig am Meer, beim Schilfmeer.“ Es folgt nun in unserem Absatz ein Nachsatz: „Er sieht sie und tut nicht dergleichen.“ Hier tritt die praktische Gerechtigkeit, die den Überrest auszeichnet, hervor; das Ergebnis lesen wir in Vers 17: „Der wird nicht wegen der Ungerechtigkeit seines Vaters sterben; er wird gewiss leben.“ Der Schluss dieses Kapitels wirft ein helles Licht auf die Erfordernisse, um die es hier geht: „Kehrt um, und wendet euch ab von allen euren Übertretungen, dass es euch nicht ein Anstoß zur Schuld werde; werft von euch alle eure Übertretungen, womit ihr übertreten habt, und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Denn warum wollt ihr sterben, Haus Israel?“ (Verse 30. 31) Das steht in völligem Gegensatz zu dem Evangelium der Gnade, das heute noch verkündigt werden darf; dieses Evangelium stellt nämlich den Sünder als ohnmächtig hin, irgend etwas zu seinem Heil zu bewirken. Ohnmächtig, seine Übertretungen von sich zu entfernen, ohnmächtig, sich selbst ein neues Herz und einen neuen Geist, zu verschaffen. Doch das ist nicht alles. Wir finden auch hier nicht die Gedanken von Hesekiel 36,24ff, die Gott einst an dem Überrest ausführt: „Und ich werde euch aus den Nationen holen und euch sammeln aus allen Ländern und euch in euer Land bringen. Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und tut.“

Die Worte in unserem Kapitel können wir mit dem Ratschlag des Herrn Jesus in der Bergpredigt zu seinen Jüngern vergleichen: „Geht ein durch die enge Pforte.“ Dieses Eingehen durch die enge Pforte bedeutet, sich selbst im Hinblick auf die Regierungswege Gottes auf Erden eine praktische Gerechtigkeit zu erwirken, gemäß der Aussage Asaphs im Psalm 73,13: „Gewiss, vergebens habe ich mein Herz gereinigt und in Unschuld gewaschen meine Hände.“ Es ist die praktische Gerechtigkeit, der wir uns namentlich in dem ersten Buch der Psalmen an so mancher Stelle gegenübersehen, (Ps 24,3ff; Ps 25,12ff; Ps 26; Ps 34,13ff.). Dies öffnet uns den Weg, allerdings einen schmalen Weg, zum Leben (Mt 7,14). Er garantiert kein ewiges Leben, wie es deutlich aus Vers 24 hervorgeht: „Wenn aber ein Gerechter von seiner Gerechtigkeit umkehrt und unrecht tut, nach all den Gräueln tut, die der Gesetzlose verübt hat, sollte er leben? Aller seiner gerechten Taten, die er getan hat, soll nicht gedacht werden; wegen seiner Treulosigkeit, die er begangen, und wegen seiner Sünde, die er getan hat, wegen dieser soll er sterben.“ Wir haben hier nicht den „Abfall der Heiligen“ vor uns, sondern gemäß Matthäus 7 ein Verlassen des schmalen Weges, der zum Leben führt. Der neutestamentlich Gläubige, der Frieden für sein Herz und Ruhe des Gewissens in dem Werk des Herrn Jesus gefunden hat, folgt genau genommen nicht dem Weg, der zum Leben führt, denn er besitzt das ewige Leben. Wenn nun Paulus am Ende seines Lebens vom Ergreifen des ewigen Lebens spricht, so meint er nicht den schmalen Weg in praktischer Gerechtigkeit, sondern der bereits eingetroffene sittliche Verfall macht einen Kampf des Glaubens notwendig, um dasjenige zu ergreifen, was ebenso wie in den Tagen des Herrn Jesus nur für den zugänglich ist, der sich mit Gewalt einen Weg durch die von Menschenhand errichteten Hindernisse bahnt. In diesem Sinn müssen wir auch Vers 21 verstehen. „Wenn aber der Gesetzlose umkehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und alle meine Satzungen hält und Recht und Gerechtigkeit übt, so soll er gewiss leben, er soll nicht sterben. Aller seiner Übertretungen, die er begangen hat, soll ihm nicht gedacht werden; wegen seiner Gerechtigkeit, die er geübt hat, soll er leben.“ Wir begegnen hier einer grundsätzlich anderen Sprache als der des Evangeliums der freien Gnade Gottes, wie sie uns im Römerbrief entgegen strahlt.

Ich bin Gott sehr dankbar, dass ich mein Leben nicht in der Gerechtigkeit, die ich übe, suchen muss. Es wird in dieser Zeit der Gnade auch nicht von Erfolg gekrönt sein können. Paulus schreibt in Philipper 1,21 nicht: Denn das Leben ist für mich die Frucht meiner Gerechtigkeit, sondern: „Denn das Leben ist für mich Christus“, so dass er noch hinzufügen kann: „Und das Sterben Gewinn.“ Bald beginnt eine Zeit, wo Sterben keinen Gewinn mehr bringt, sondern der Gewinn nur noch in der praktischen Gerechtigkeit liegt, so lange auszuharren, bin das messianische Friedensreich angebrochen ist und mit der Zeit der Verbannung Satans, des Tieres und des falschen Propheten samt seinen Trabanten, auch die äußere Verführung ein Ende genommen hat. Dass dies eine Erleichterung und eine Erholung von der unter dem Druck der großen Drangsal stehenden Zeit bedeutet, bedarf wohl keiner weitschweifigen Beweisführung. Auf diesen Gewinn, nicht auf den des Paulus aus Philipper 1, weist unser Heiland in Lukas 21,19: „Gewinnt eure Seelen durch euer Ausharren.“ Hierauf zielt auch Hesekiel 18,22, wenn Gott dort sagt: „Wegen seiner Gerechtigkeit, die er geübt hat, soll er leben.“

All das Gesagte soll nicht ausdrücken, dass wir die Regierungswege Gottes in dieser Gnadenzeit außer Acht lassen dürfen. Ganz gewiss nicht. Wir begegnen hier dem Grundsatz des Lebens und des Sterbens auf dieser Erde, nicht aber dem des ewigen Lebens und des ewigen Todes (vgl. 1. Joh 5,16.17).

Beide Arten der Vergebung werden in der Geschichte Achans in Josua 7 deutlich: Wir müssen das ewige Urteil und das Leben hier auf der Erde unterscheiden. In Vers 19 bittet Josua Achan: „Mein Sohn, gib doch dem Herrn, dem Gott Israels, Ehre und lege ihm ein Bekenntnis ab; und teile mir doch mit, was du getan hast, verhehle es mir nicht!“ Die Stimme der Liebe fordert ihn als Sohn auf, mit Gott ins Reine zu kommen, ehe Er ihn gerichtlich belangen musste. Achan erkennt seine Sünde, bekennt sie und nimmt den Urteilsspruch entgegen. Das Tal Achor spricht mir persönlich vielmehr von einer „Tür der Hoffnung“ (Hosea 2,15) in Bezug auf Achan – auch wenn er in diesem Tal das Gericht erlitt –, als von einem gottlosen und verstockten Sünder. Ich glaube, dass Achan gemäß Hesekiel 36,25 mit reinem Wasser besprengt und rein geworden ist. Dennoch unterliegt dieser rein gewordene Achan den Worten aus unserem Heseskiel 18,24: „Wegen seiner Treulosigkeit, die er begangen, und wegen seiner Sünden die er getan hat, wegen dieser soll er sterben.“ Das wird durch die Worte Pinehas' aus Josua 22,20 unterstrichen; „Hat nicht Achan, der Sohn Serachs, Untreue an dem Verbannten begangen? Und ein Zorn kam über die ganze Gemeinde Israels; und er kam in seiner Untreue nicht als ein Einzelner um.“ Sollte dieser letzte Vers heißen, dass Achan für ewig verloren sei, so müssten wir auch annehmen, dass seine Söhne und Töchter, die mit ihm gesteinigt wurden, ebenfalls ewig verloren wären. Nichts aber spricht dafür, dass Pinehas berechtigt wäre, hierüber ein Urteil zu fällen, sondern wir sehen nur das Gericht Gottes gemäß seinen Regierungswegen auf dieser Erde, das mit Achan mehrere Personen traf. Pinehas berührt noch das eigenmächtige Handeln der 2 ½ Stämme, das noch ein weittragendes Gericht von Seiten Gottes entfesseln könnte.

Ich hoffe, durch diese Gedanken unser Kapitel einigermaßen beleuchtet zu haben. Es scheint mir gefährlich, derartige Grundsätze der Evangeliumsverkündigung anzupassen; auch nicht nach dem Motto: „Anhand des einen oder anderen Verses aus diesem Kapitel stelle ich den Menschen die Verantwortung in Bezug auf ihre Bekehrung zu Gott vor; dann füge ich das Evangelium der Gnade Gottes hinzu.“ Man kann diese Texte einfach nicht kombinieren. Ich drückte einmal gegenüber einem französischen Lehrer aus, dass die Buße von unserer Seite mit der Wiedergeburt von Gottes Seite gepaart ginge; prompt wies er ohne Umschweife diesen Gedanken zurück und bemerkte einfach „Tout est l'oeuvre de Dieu“ – alles ist das Werk Gottes. In Römer 2,4 steht: „Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte und Geduld und Langmut und weißt nicht, dass die Güte Gottes dich zur Buße leitet?“ So sieht der Römerbrief die Lehre des Heils. Doch in unserem Kapitel, wo wir nicht die Lehre des Heils, sondern die Regierungswege Gottes auf der Erde zum Gegenstand haben, wird uns nach der Buße die Gütigkeit Gottes zuteil.

In Bezug auf die Regierungswege vernehmen wir in Vers 30 die Worte: „Kehrt um und wendet euch ab von allen euren Übertretungen, dass es euch nicht ein Anstoß zur Schuld werde.“ Es geht um den Anstoß zur Schuld, die den Eingang in das Friedensreich verhindern würde. Matthäus 13,6-9 spricht über denselben Gegenstand, und auch in Matthäus 24,10 (der bekannten Ölbergrede) lesen wir: „Und dann werden viele zu Fall kommen (oder: Anstoß nehmen).“

Matthäus 24,13 fügt noch hinzu: „Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird errettet werden.“ Von diesem Ende berichtet Daniel 12,12: „Glückselig der, der ausharrt und 1.335 Tage erreicht!“

Einer von diesen Anstößen zur Schuld wird die Redensart sein: „Die Ungerechtigkeiten der Väter versagen mir die Güte Gottes“ oder aber: „Meine eigenen Sünden schließen mich von der Güte Gottes aus.“ Gott selbst „bereitet den Weg des Volkes; bahnt die Straßen, reinigt sie von Steinen“ (Jes 62,10). Er lässt uns auch aus Vers 32 unseres Kapitels erkennen, dass Er am Tod des Sterbenden kein Gefallen hat. „So kehrt um und lebt!“

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