Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 17
Dieses Kapitel ist von herausragender Bedeutung, wenn wir Hesekiel wieder als Vorbild von Christus sehen und als den, der dem Haus Israel ein Gleichnis vorstellt. Wir befinden uns damit auf der Linie von Psalm 78 und Matthäus 13. Das zeigt uns zwei Dinge bei Hesekiel: Er soll ein Rätsel aufgeben und ein Gleichnis vorlegen.
Ein Rätsel ist in der Schrift nicht dasselbe wie das, was wir darunter verstehen, nämlich eine Spitzfindigkeit. Es ist eine Sache, die für den menschlichen Verstand ungelöst bleibt, bis man den Schlüssel in Dingen gefunden hat, die höher sind als diese Erde. Es steckt also in dem Rätsel Simsons mehr Tiefe als die einfache Antwort in Richter 14,18: „Was ist süßer als Honig? Und was ist stärker als der Löwe?“ Die Auferstehung Christi allein gibt die wahre Erklärung für das, was in völligem Gegensatz zu dem ist, was wir hier auf der Erde sehen und was Texte wie Sprüche 30,15.16 und Hohelied 8,6 bestätigen.
So beispielsweise das Rätsel in Psalm 49,13: „Doch der Mensch, der in Ansehen ist, bleibt nicht; er gleicht dem Vieh, das vertilgt wird.“ Die Lösung findet sich nur in Gott: „Gott aber wird meine Seele erlösen von der Gewalt des Scheols“ (V. 16), und entsprechend dem göttlichen Licht, das auf das Rätsel fällt, lautet die abschließende Maxime daher: „Der Mensch, der in Ansehen ist und keine Einsicht hat, gleicht dem Vieh, das vertilgt wird“ (V. 21).
Dann das Rätsel in Psalm 78,2: Israel, das durch die Offenbarung sowohl der Väter als auch der Söhne unter alle Wohltaten und Segnungen Gottes gekommen ist, wird völlig außer Acht gelassen. Die Lösung ist das, was Gott in souveräner Gnade tut: „Da erwachte wie ein Schlafender der Herr, wie ein Held, der vom Wein jauchzt“ (V. 65).
Schließlich das Rätsel im Lied des Fluchs in Habakuk 2,6-20: Die Gewalttaten des Menschen hier auf der Erde enden (und darin liegt dann die Lösung des Rätsels), wenn der Herr in seinem heiligen Palast ist (V 20).
„Ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an verborgen war“, wie es in Matthäus 13,35 heißt. Das ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes für „Rätsel“. Aber auch hier ist es nicht ganz dasselbe, und nicht umsonst wird hier der griechische Text zitiert und nicht der hebräische. Es ist die Lösung der Rätsel: Es sind die Quellen der Gnade Gottes, die Er brachte, vorgestellt in der Person Christi in dem Augenblick, als das Volk Ihn verwarf und dadurch die Segnungen ablehnte. Das ist das „Verborgene“, eine Lösung, die Gott nur in sich selbst fand, ohne irgendeine äußere Ursache, wovon Mose in 5. Mose 29,29 sagt: „Das Verborgene ist des Herrn, unseres Gottes“.
So hier ist es auch hier in Hesekiel 17: Das Rätsel gipfelt schließlich in der Frage von Vers 15: „Wird er gedeihen? Wird er, der dies getan hat, entkommen? Da er den Bund gebrochen hat, sollte er entkommen?“, und dann folgt nicht nur die Antwort auf diese Frage, sondern die Lösung der Frage und damit des Rätsels von Gottes Seite in den Versen 22–24.
Doch nicht nur das: Hesekiel muss auch dem Haus Israel ein Gleichnis vorlegen. Die Tatsache an sich deutet auf das Gericht vonseiten Gottes hin. Wie der Herr Jesus in Markus 4,11.12 sagt: „Und er sprach zu ihnen: Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu erkennen; denen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil“damit sie sehend sehen und nicht wahrnehmen, und hörend hören und nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.‘„ Das enthält auch eine ernste Warnung an die Christenheit dieser Tage: Es hat mit dem Gericht der Verstockung zu tun. Das Reden in Gleichnissen geschieht, wenn von Seiten Gottes alles getan worden ist, um den Menschen zur Umkehr zu bewegen. Wenn „der Reichtum seiner Güte und Geduld und Langmut“ verachtet wird (Röm 2,4), wird die Offenbarung Gottes inmitten solcher Menschen zur Finsternis. Dieser Prozess ist gegenwärtig inmitten der Christenheit nach einer Zeit beispiellose Fülle von Güte, Geduld und Langmut von Gottes Seite voll im Gang. Das, was in ihrer Mitte jahrhundertelang die Quelle des Lichts war: Sein Wort, spricht zum modernen Menschen eine dunklere Sprache als die Geschichte von Ausgrabungen und Höhlenfunden.
Letzteres geschah, als die Wolkensäule „zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels“ kam. Und dann heißt es: „und sie wurde dort Wolke und Finsternis und erleuchtete hier die Nacht; und so näherte jenes sich diesem die ganze Nacht nicht“ (2. Mo 14,20).
Hier haben wir nun ganz den Charakter von Gleichnissen, wie wir eins hier in Hesekiel 17 finden. Für Israel war die Wolke die Finsternis. Ihr Licht war die Offenbarung Gottes in ihrer Mitte, und schließlich sagt der, der Gott in seiner Person offenbarte: „Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis!“ (Mt 6,23).
Doch zugleich erhellt auch die Wolkensäule die Nacht. Bei den Jüngern des Messias ist das Zeugnis zugebunden, das Gesetz versiegelt (Jes 8,16). Diese Jünger sieht der Herr Jesus prophetisch in den Jüngern, die Ihn hier auf der Erde auf seinem Weg umgeben, und Er sagt Matthäus 13,16 zu ihnen: „Glückselig aber eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören“. Und wenn wir in dieser Haushaltung moralisch den Platz der Jünger einnehmen, gilt glückselig auch für uns und wird das Licht des Wortes Gottes, das wir um uns her immer dunkler werden sehen, auf unserem Weg zur Herrlichkeit umso heller leuchten. Zugleich wird dort eine moralische Trennung entstehen: „und so näherte jenes sich diesem die ganze Nacht nicht“ (2. Mo 14,20).
Ich kann zum Beispiel jahrelang den Belehrungen eines ungläubigen Lehrers in einem bestimmten Fachgebiet folgen, aber wir werden nie in geistlicher Hinsicht zusammenfinden. Die Wolkensäule, die für mich Licht bedeutet und für ihn Finsternis, wird die „ganze Nacht“ anhalten, bis die Gläubigen entrückt werden.
Eine wichtige Frage für uns ist: Hat das Gleichnis mit der historischen Erfüllung, die Gott selbst unmittelbar danach vorstellt, seine praktische Bedeutung verloren? Das wäre so, wenn hinter dieser historischen Erfüllung keine prophetische Bedeutung stünde. Und dass es sie gibt, machen uns die Verse Hesekiel 17,22-24 deutlich. Es ist hier so, als würden wir mit dem Herrn Jesus in Matthäus 13 in das Haus eintreten und Ihm zuhören, wie Er in den letzten drei Gleichnissen des Reiches Gottes darlegt, dass es bei allem Versagen des Menschen noch ein Rettungsmittel bei Gott gibt: „So spricht der Herr, Herr: Und ich werde vom Wipfel der hohen Zeder einen Schössling nehmen und ihn setzen …“
Nun, Gott kommt in dem Augenblick mit seinem Rettungsmittel, wenn das, was unter Verantwortung steht, völlig versagt hat und unter Gericht gestellt wird: „Bis wann willst du [Samuel] um Saul trauern, da ich ihn doch verworfen habe, dass er nicht mehr König über Israel sei? Fülle dein Horn mit Öl und geh hin, ich will dich zu Isai, dem Bethlehemiter, senden; denn ich habe mir unter seinen Söhnen einen König ersehen“ (1. Sam 16,1). Hier in Hesekiel 17 kommt Gott also mit seinem höchsten Schössling der hohen Zeder, mit Christus und seiner herrlichen messianischen Herrschaft, wenn der Treuebruch des Königs und des Volkes Israel vollständig ist und das endgültige Gericht feststeht. Und das wird in Zukunft geschehen. Es gibt also in diesem Gleichnis sogar ein prophetisches Licht für einen Jünger „im Reich der Himmel“ (Mt 13,52), was die Bedeutung für das ungläubige Israel ist: „Mit Gehör werdet ihr hören und doch nicht verstehen, und sehend werdet ihr sehen und doch nicht wahrnehmen“ (Mt 13,14).
Der große Adler mit seinen Flügeln, langen Schwingen und Federn, von dem wir in Vers 3 lesen, ist zunächst Nebukadnezar, wie Gott selbst uns mitteilt. Aber Nebukadnezar ist nicht der einzige Herrscher, der mit diesem Vogel verglichen wird. Siehe zum Beispiel Vers 7, wo wir einen anderen großen Adler finden. In Jesaja 18 finden wir ein Land: „He! Land des Flügelgeschwirrs, jenseits der Ströme von Äthiopien“ (V. 1).
Offensichtlich sehen wir hier eine schützende Macht, die viele Völker unter ihre Flügel sammelt, und zwar jenseits des Horizonts Israels im Verhältnis zu den umliegenden Völkern. Also jenseits von Nil und Euphrat. Es handelt sich um eine Macht, die uns in der Schrift als das vierte Tier in den Nachtgesichten Daniels vorgestellt wird: das Römische Reich (Dan 7), und zwar dort in Jesaja 18 in seiner wiederhergestellten Form nach der Entrückung der Versammlung. Diese Macht, die auch das Emblem des Adlers in ihren Heeresstandarten bis an die äußersten Grenzen der damals bekannten Welt trug, gab den eigentlichen Anstoß für die Gefangenschaft und Hinwendung der Juden zum Handel. So heißt es in Jakobs großer prophetischer Rede über Israel in 1. Mose 49 nach der Offenbarung des Messias: „Sebulon, am Gestade der Meere wird er wohnen, und am Gestade der Schiffe wird er sein, und seine Seite gegen Sidon hin“ (V. 13). Merkwürdig ist auch, dass das „Händlerland“ und die „Stadt von Kaufleuten“ (Hes 17,4), wie Babel und seine Hauptstadt hier genannt werden, zur Zeit der Gefangenschaft den Juden nicht diesen Handelscharakter aufprägte, sondern dass der Blick nach Westen, „und seine Seite nach Sidon“, die Juden zum Handelsvolk Volk der Welt machte. So können wir die metaphorische Anwendung dessen, was wir hier finden, sehr deutlich sehen: „Den obersten ihrer Schösslinge brach er ab und brachte ihn in ein Händlerland, in eine Stadt von Kaufleuten setzte er ihn“ (Hes 17,4), nicht zu den Ereignissen unter Nebukadnezar zählte.
Doch das Folgende ist ebenso bemerkenswert: „Und er nahm vom Samen des Landes und setzte ihn in ein Saatfeld, er brachte ihn zu vielen Wassern, behandelte ihn wie einen Weidenbaum“ (Hes 17,5). Wenn dies nur mit der Einsetzung Zedekias als König von Juda zu erklären ist, warum dann hier diese weitreichende Beschreibung in Bezug auf jemanden, der sich bereits im Saatfeld befand, sehr wahrscheinlich als Angehöriger der königlichen Nachkommenschaft (ein Onkel des deportierten Jojakin in Jerusalem?). Hier gehen die Gedanken natürlich von einer Deportation, wie wir sie in den vorherigen Versen fanden, zu einer Rückkehr. Und der prophetische Sinn, der in diesem Gleichnis liegt, bezieht sich daher auf die mächtige Rückkehr der Juden in ihr Land, deren Vorspiel wir in unseren Tagen unter englischer Hegemonie gesehen haben, die aber bald nach der Entrückung der Versammlung unter der Schirmherrschaft des wiederhergestellten Römischen Reiches und seines Oberhauptes ihre volle Erfüllung finden wird.
Vom Samen des Landes wird „in ein Saatfeld“ gelegt werden. Erinnert uns das nicht stark an das, was Gott selbst gegenüber Israel tun wird, wenn dieser Same des Römischen Reiches gescheitert sein wird? „Und ich will sie mir säen im Land säen (Hos 2,22). Der Same wird „zu vielen Wassern“ gebracht und wie ein Weidenbaum gepflanzt werden. Allein vom Wortsinn her würde man hier eher an Babel als an Israel denken. Immerhin wird Babel in Jeremia 51,13 erwähnt: „Du, der du an vielen Wassern wohnst“. Aber auch hier ist der Sinn im übertragenen Sinn, und wir müssen daran denken, dass bald, wie damals und heute, die Interessen aller Weltmächte Israel berühren werden. Die Massen von Völkern, die wie Wasser in den Betten dieser Weltmächte fließen, werden bald alle nach Israel drängen. Nicht die Schweiz, sondern Israel wird bald zum Zentrum der Diplomatie werden (Jes 18,2), und wenn diese Diplomatie versagt, wird es zum Schlachtfeld der Nationen werden.
Diese Freundlichkeit gegenüber Israel wird nicht aus dem Verständnis der Gedanken Gottes kommen. Sie ist eine politische Angelegenheit aus Eigennutz, so wie es damals Nebukadnezar meinte, als er Zedekia auf den Thron setzte: „damit seine Ranken sich zu ihm hin wendeten und seine Wurzeln unter ihm wären“ (V. 6). Sie hatten nach Jesaja 18,2 Boten auf dem Meer entsendet, in Papyrusbooten über der Wasserfläche mit der Botschaft: „Geht hin, schnelle Boten, zu der Nation, die geschleppt und gerupft ist, zu dem Volk, wunderbar, seitdem es ist und weiterhin, der Nation von Vorschrift auf Vorschrift und von Zertretung, deren Land Ströme beraubt haben.“ Dort liegen ihre Interessen, dort liegen die Schwerpunkte der Diplomatie.
Tatsächlich werden diese Pläne mit Israel erfolgreich sein: Der Same des Landes (Gott kennt keinen anderen Samen des Landes als diesen) „wurde zu einem üppigen Weinstock von niedrigem Wuchs, damit seine Ranken sich zu ihm hin wendeten und seine Wurzeln unter ihm wären; und er wurde zu einem Weinstock und trieb Äste und breitete sein Laubwerk aus“ (Hes 17,6). Jesaja sagt es in Kapitel 18,5 so: „Denn vor der Ernte, sobald die Blüte vorbei ist und die Blume zur reifenden Traube wird“. Psalm 107,36-38 malt uns diese Zeit folgendermaßen: „und sie gründen eine Wohnstadt. Und sie besäen Felder und pflanzen Weinberge, die Frucht bringen als Ertrag; und er segnet sie, und sie mehren sich sehr, und ihr Vieh lässt er nicht wenig sein.“ Äußere Gunstbezeugungen Gottes, der weiß, wo das alles enden wird und der in Jesaja 18,4 angesichts seines Handelns in jenen Tagen gesagt hat: „Ich will still sein und will zuschauen in meiner Wohnstätte, wie heitere Wärme bei Sonnenschein, wie Taugewölk in der Ernteglut.“
Die Antwort Israels wird ein letzter Akt der Untreue sein. Es wird noch „ein anderer großer Adler mit großen Flügeln und vielem Gefieder“ kommen (V. 7a): Das ist der König des Nordens, die prophetische Erfüllung der Rolle, die Assyrien in der Geschichte Israels spielte. „Und siehe, dieser Weinstock streckte seine Wurzeln lechzend zu ihm hin und breitete seine Ranken nach ihm aus, damit er ihn tränke“ (V. 7b).
Vom König des Nordens heißt es: „durch seine Klugheit wird der Trug in seiner Hand gelingen; und er wird in seinem Herzen großtun und unversehens viele verderben“ (Dan 8,25). „Deshalb wendet sich hierher sein Volk, und Wasser in Fülle wird von ihnen geschlürft“ (Ps 73,10). Da sie wissen, dass ihr Tun ein diplomatischer Treuebruch gegenüber dem westlichen Verbündeten ist, sagen sie in Jesaja 28,15: „Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen und einen Vertrag mit dem Scheol gemacht: Wenn die überflutende Geißel hindurchfährt, wird sie an uns nicht kommen; denn wir haben die Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in der Falschheit uns geborgen.“
So antwortet Israel endlich auf das, was Gott einmal mehr in der Vorsehung tut, indem Er es verantwortlich macht, und ihm zu seinem Nutzen vorhält. „In ein gutes Feld, an vielen Wassern war er gepflanzt, um Zweige zu treiben und Frucht zu tragen, um zu einem herrlichen Weinstock zu werden“ (Hes 17,8). Damit soll nicht gesagt werden, dass Gott nicht wusste, was geschehen würde, sondern dass Er in seiner Vorsehung alle Faktoren zu Israels Gunsten mitwirken lässt.
Untreue ist eine schreckliche Sache in den Augen Gottes, ob sie nun von Zedekia an dem begangen wurde, der in der Ebene Dura ein Bild aufstellte (Dan 3), oder ob sie bald an dem begangen werden wird, für den – als „das Tier, „das die Wunde vom Schwert hatte und wieder lebendig wurde“ (Off 13,14) – ein Bild gemacht werden wird. Nicht umsonst heißt es von jenem Überrest, der verschont werden wird und bald vor Gott in Zion sein wird: „hat er zum Schaden geschworen, so ändert er es nicht“ und „nicht schwört zum Trug“ (Ps 15,4; 24,4); siehe dazu auch mit Hilfe einer Konkordanz die Stellen, die im Buch der Sprüche von den „Treulosen“ sprechen.
Das Wort des Herrn erging an Hesekiel, um ihm das Gleichnis zu erklären. Besser gesagt, um ihm ein Wort der Auslegung für das widerspenstige Haus zu geben. Es ist, so hoffe ich, nun allen klar, dass diese Erklärung nicht der tiefe Hintergrund ist, den das Gleichnis für den Eingeweihten und den, der in Gemeinschaft mit Gott ist, hat. Es ist die moralische Anwendung, die dem Augenblick angemessen ist und zum Heil und zur Errettung ergriffen werden kann. Und das ist an sich eine besondere Gnade. Es ist, wenn ich so sagen darf, „der Saum des Oberkleides“ (2. Mo 39), aber sogar in der Berührung dieses Saums, in der Anwendung auf Herz und Gewissen, liegt eine heilende Kraft gegen die Macht der Sünde.
Zedekia stimmte in diesen letzten Jahren der Krise, kurz bevor das große Gericht und die Strafe über Jerusalem hereinbrach, immer wieder mit den Großen des Landes in einer Erklärung überein. So finden wir in Jeremia 34,18.19, dass die Fürsten, getrieben von der Angst während der ersten Belagerung Jerusalems, sich feierlich verpflichteten, ihre durch Armut versklavten Mitbürger zu befreien. Hier handelt es sich um einen Schwur der Entweihung. Wir lesen über diesen Eid in 2. Chronika 36,13: „Und auch empörte er sich gegen den König Nebukadnezar, der ihn bei Gott hatte schwören lassen“.
Wir müssen uns bedenken, dass es kein Gesetzbuch gab, auf das sich die Parteien berufen konnten, wenn sie wieder auseinandergingen und Nebukadnezar in sein Land zurückkehrte. Es gab kein asiatisches Recht und keine Kontrolle durch die Vereinten Nationen. Nebukadnezar verlässt sich auf den Respekt, den jeder unterworfene Herrscher vor seinem eigenen Gott hat, und lässt daher Zedekia bei seiner Entweihung als König und seiner Einsetzung als Vasall nicht bei dem babylonischen Marduk, sondern bei dem Herrn Israels schwören. Es ist also eine Berufung zur Wahrhaftigkeit gegenüber seinem Gott, den Nebukadnezar an Zedekia richtet. Daher spricht Gott zunächst davon, dass Zedekia Nebukadnezars Eid verachtete und dessen Bund brach (Hes 17,16), dann in Vers 18 ganz allgemein: „Da er den Eid verachtet und den Bund gebrochen hat“ und schließlich in Vers 19: „So wahr ich lebe, wenn ich nicht meinen Eid, den er verachtet, und meinen Bund, den er gebrochen hat, ihm auf seinen Kopf bringe!“
Es ist gut – auch für uns – hier einen Moment bei der Bedeutung des Eides zu verweilen. Denn eigentlich ist der tiefe Sinn für uns derselbe. Wenn wir zum Eid aufgefordert werden, dann ist es so, dass die weltliche Macht, die Gott nicht kennt (wir gehen davon aus, dass der, der den Eid fordert ‒ als Vertreter der weltlichen Macht ‒ nicht gläubig ist), auch von dem Grundsatz ausgeht: Hier greift das Gesetz mit seiner Autorität zu kurz, und als letztes Mittel appelliere ich an die Wahrhaftigkeit deines Bekenntnisses als Gläubiger. Sollen wir in diesem Fall den von uns geforderten Eid ablegen? Man beruft sich auf die Worte des Herrn Jesus in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht“ (Mt 5,34). Meiner Meinung nach beziehen sich diese Worte jedoch darauf, den Namen Gottes leichtfertig anzurufen, oder besser gesagt, seinen Namen aus eigenem Antrieb anzurufen. Daher sollte ein Gläubiger niemals selbst einen Eid zur Bestätigung dessen ablegen, was er verspricht oder behauptet, auch nicht in der schwächsten Form, wie zum Beispiel mit der Aussage „das ist die Wahrheit“ oder ähnlichem. Wenn man aber zum Eid aufgefordert wird und die Wahrheit darin liegt, dann ist es nur ein Ausweichen vor einem Zeugnis wegen innerer Ungewissheit, wenn man die Herausforderung nicht annimmt. Ja, sogar wenn man in Gemeinschaft mit dem Erlöser ist und dadurch sein Ebenbild zeigen kann, wird man mehr geben, als im Eid gefordert wird, und damit seine moralische Überlegenheit gegenüber dem Kläger des Eides offenbaren.
Als ein Beispiel dazu verweise ich auf 1. Mose 21,22-24. Abraham befindet sich dort auf dem Höhepunkt seiner Würde als Gläubiger. Er hat Hagar weggeschickt und steht unmittelbar vor der letzten und großen Bewährungsprobe seines Glaubens. Im vollen Ernst des Augenblicks und unter völliger geistlicher Kontrolle der Umstände sagt er in Vers 24 ganz offen: „Ich will schwören“. Dieser Schwur, der sein Gewissen nicht einengt, gibt ihm die moralische Überlegenheit, Abimelech im nächsten Vers wegen eines Brunnens zurechtzuweisen, den Abimelechs Knechte ihm gewaltsam weggenommen haben. Und die Herausforderung ist nun auf seiner Seite. In Vers 30 verlangt er auf der Grundlage des ihm durch einen Eid verliehenen moralischen Rechts, dass Abimelech sieben Lämmer von ihm annimmt, als Zeugnis dafür, dass er und nicht Abimelech der rechtmäßige Eigentümer des Brunnens ist. Daraus ergibt sich, dass Abimelech moralisch verpflichtet ist, ebenfalls einen Eid abzulegen: Sie nannten diesen Ort Beerseba (Eidesbrunnen oder Brunnen der Sieben), weil sie beide dort geschworen hatten.
Und dann weise ich auf die große Herrlichkeit hin, die von dem Schwur des Herrn Jesus vor dem Hohenpriester in Matthäus 26 ausgeht. Auf ein falsches Zeugnis, das vor Gericht abgelegt wird, geht der Herr Jesus nicht ein. Kein deutliches Wort der Wahrheit oder dergleichen kommt über seine gesegneten Lippen, während Er wie ein Schaf dort steht, „das stumm ist vor seinen Scherern“ (Jes 53,7). Doch als die von Gott eingesetzte Autorität, der Hohepriester, von Ihm den Eid über die Tatsache, dass Er der Messias ist und seine Sohnschaft als solche verlangt, gilt: „wenn jemand … die Stimme des Fluches hört, und er war Zeuge“. Und da Er in seiner Vollkommenheit derjenige ist, der „gesehen oder gewusst hat“ (3. Mo 5,1), nimmt Er nicht nur den Anspruch auf, sondern bestätigt in dem Schwur viel mehr als nur, dass Er der Messias ist, sondern auch seine Sohnschaft, indem Er hinzufügt: „Doch ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr den Sohn des Menschen zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen“ (Mt 26,64). Dass der Hohepriester die Annahme der Herausforderung und das weit über die Forderung hinausgehende Zeugnis besser verstand als viele, die es heute lesen, bezeugt die Reaktion, die wir in den folgenden Versen lesen.
Da wir nun mit unseren Betrachtungen so weit gekommen sind, möchte ich von der Anwendung des Gleichnisses abrücken und mit Vers 22 zum Schluss die Aufmerksamkeit kurz auf Ihn lenken, den wir im vorigen Abschnitt gerade gesehen haben und auf den einmal alle Aufmerksamkeit gerichtet werden wird. Er wird hier der „Wipfel der hohen Zeder“ genannt. Zedekia wird in Vers 3 der „Wipfel einer Zeder“ genannt. Der Herr Jesus ist der „Wipfel der hohen Zeder“, und Gott nimmt „vom Wipfel der hohen Zeder“, das heißt, nicht den Wipfel als Ganzes. In dieser geheimnisvollen Bildsprache, in der es auf jedes Wort ankommt, sehen wir meines Erachtens den Hinweis auf das „Reich der Himmel“ mit seinem himmlischen und seinem irdischen Teil, in dem Er als das herrliche Haupt die Mitte des himmlischen Teils bleibt, auch wenn Er seine Herrschaft hier auf der Erde antritt. Wenn Er von seinem Gott „auf den hohen Berg Israels“ (V. 23) gepflanzt wird, hat der Himmel Ihn nicht als seinen Wipfel nicht verloren.
Wunderbar, dass Gott hier sagt, was Er bald tun wird. Das wird hier nicht so angedeutet, dass Er in Macht und Majestät kommt, sondern dass Gott Ihn abbricht und auf den Berg seines Erbteils setzt. Er ist „vom obersten ihrer Schösslinge“ der hohen Zeder. Er ist in der Herrlichkeit, nach unserer Zeitrechnung seit fast zweitausend Jahren, im Auferstehungsleben mit dem Vater, mit Gott. „Was er lebt, lebt Gott“ (Röm 6,10). Aber Gott sieht Ihn dort als den „obersten ihrer Schösslinge“. Der alte Baum Israels hat, weil der Geist Christi hier auf der Erde (nach der Aufnahme der Versammlung) in Herz und Gewissen des Überrestes wirkte, junge Schösslinge hervorgebracht.
Doch die Empfindungen, die unser Heiland hier auf der Erde hatte und durch denselben Geist vor Gott zum Ausdruck brachte, stimmen so völlig mit dem überein, was hier in den sündigen Menschenkindern gewirkt wurde, die ihre Schuld persönlich und als Volk vor Gott sehen, dass Gott Ihn auch in der Herrlichkeit vollkommen mit ihnen einsgemacht hat. Er nennt Ihn einen Schössling „vom obersten ihrer Schösslinge“ an der hohen Zeder des Israels Gottes.
Wunderbar, dass dies auch für uns gilt. Jeden sittlichen Wert vor Gott in den Empfindungen, die durch das Wirken seines Geistes in Herz und Gewissen aufkeimen, sieht Gott in Verbindung mit dem, was einst der Heilige Geist hier auf der Erde in Ihm gewirkt hat. Doch Er hat den erhabensten Platz. Wenn in einer Versammlung, in der jahrelang Unfruchtbarkeit und mangelndes Leben geherrscht haben, in Demut und Umkehr neues Leben aufbricht – dann sieht Gott diese jungen Sprösslinge immer in Verbindung mit dem Obersten.
Der Herr Jesus wird hier in Vers 22 ein zarter Schössling genannt. Eigentlich wird das Wort Zweig nicht erwähnt. Darby und Noordtzij übersetzen hier wörtlich „etwas Zartes“. Nun sind junge Schösslinge immer zart, niemand wird das bezweifeln. Aber wenn dann von diesen zarten Schösslingen etwas abgebrochen wird, das noch besonders als „etwas Zartes“ bezeichnet wird“ – liebe Freunde, wie zart muss unser Heiland sein, und zwar nicht nur hier während seines Erdenlebens, sondern in seiner Auferstehungsherrlichkeit! Ist nicht jedes Empfinden der Reue und Demut zart, und wird das, was der Heilige Geist in dieser Hinsicht in dem Herzen von Menschen wirkt, nicht oft durch Grobheit und Lieblosigkeit der Gläubigen zerrüttet? Nun, zarter als diese Empfindungen, die man anderen nicht beschreiben kann, ist unser Heiland, wie Er dort beim Vater in der Herrlichkeit ist.
Können wir Ihn bei aller Härte der Menschen in der Herrlichkeit so wertschätzen und uns an Ihm erfreuen? Der Überrest wird bald dazu in der Lage sein. – Wie der wahre Salomo wird Er bald zart wie „der einzige Sohn seiner Mutter“ sein (Lk 24,18). So wird seine Mutter, das wahre Israel Gottes, aus dem Er als Messias hier auf der Erde stammt, Ihn schätzen.
Doch Gott ist mit Ehrfurcht gesagt nicht egoistisch. Er stellt diesen zarten Schössling nicht in ein himmlisches Gewächshaus, um Ihn allein mit den Himmelsbewohnern zu genießen. Nachdem der Boden hier auf der Erde durch Gerichte für Ihn vorbereitet ist, pflanzt Er selbst diesen Schössling „auf einen hohen und erhabenen Berg“ (V. 22), „auf den hohen Berg Israels“.
In den Psalmen, in denen wir die Gefühle des Herrn Jesus unter allen Umständen finden, kommt auch das zum Ausdruck, was Er empfindet, wenn die Hand Gottes Ihn bald hier auf den hohen und erhabenen Berg gepflanzt haben wird. In Psalm 52 sagt Er: „Ich aber bin wie ein grüner Olivenbaum im Haus Gottes; ich vertraue auf die Güte Gottes immer und ewig. Ich werde dich preisen in Ewigkeit, weil du es getan hast; und auf deinen Namen werde ich harren – denn er ist gut – vor deinen Frommen“ (V. 10.11).“ Und in Psalm 92,11.13 lesen wir: „Aber du wirst mein Horn erhöhen wie das eines Wildochsen; mit frischem Öl werde ich übergossen werden. ... Der Gerechte wird sprossen wie die Palme, wie eine Zeder auf dem Libanon wird er emporwachsen.“ So will uns der Geist Gottes in die Gedanken dessen einweihen, den zu kennen in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ewiges Leben bedeutet.
Die segensreichen Folgen dieser Pflanzung für diese Erde sehen wir in den folgenden Versen. Wie ein Autor es ausdrückt, werden himmlische Winde durch die Zweige der Zeder rauschen. Denn die Erde wird vom Himmel aus und nach himmlischen Prinzipien regiert werden. Gottes Wege sind nicht mehr im Heiligtum: Alle Bäume des Feldes kennen Gottes Taten und können seine Wege an ihnen ablesen. Gott, der verherrlicht ist in dem Sohn des Menschen, verherrlicht nun diesen Sohn „in sich selbst“ (Joh 13,32). Am Kreuz hat der Sohn des Menschen Gott die Möglichkeit gegeben, sich in seiner ganzen moralischen Herrlichkeit zu zeigen.
Jetzt gibt Gott Ihm als Antwort darauf die Gelegenheit, durch die Auflösung all seiner Wege mit Nationen, Fürsten und einzelnen Menschen hier auf der Erde, in der ganzen Herrlichkeit seines Charakters als der Sohn des Menschen hervorzutreten. Der hohe Baum wird erniedrigt und der niedrige Baum erhöht. Das moralische Ergebnis, wie es uns in den Sprüchen auf allen Seiten angekündigt wird, sehen wir in Christus, der mit dem Überrest verbunden ist. Der grüne Baum verdorrte und der dürre Baum blühte auf, man sieht es an dem Überrest, der mit dem wahren Boas verbunden ist. Die Bäume des Feldes werden es sehen, die benachbarten Nationen, die in Gemeinschaft mit Gott stehen und seine Gedanken über das wiederhergestellte Israel kennen, werden die Namengeber des Christus in Verbindung mit dem dürren Baum sein, der zum Blühen gebracht wurde. Sie werden sagen: „Ein Sohn ist der Noomi geboren“ (Rt 4,17) und Christus als den wahren Obed, den „Diener“ und den „Anbetenden“ bezeichnen. Er führt im Dienst und stimmt den Lobgesang an, sowohl bei seinem himmlischen als auch bei seinem irdischen Volk (Ps 22,23).