Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 22

Uns wird nicht ausdrücklich gesagt, daß der Herr das Gleichnis vom Hochzeitsmahl genau zu dieser Zeit vorgetragen hat. Die Art, wie es hier eingeführt wird, ist so allgemein gehalten, daß wir fast annehmen könnten, es handle sich um dasselbe wie in Lukas 14. Dort finden wir auch genauere Zeitangaben. Wie dem auch sei – wie angebracht finden wir es im Matthäusevangelium als Fortsetzung des letzten Teils von Kapitel 21 berichtet! Der Weinberg stellt die gerechten Ansprüche des Herrn an Israel vor aufgrund dessen, was Er dem Volk anvertraut hatte. Das Hochzeitsmahl offenbart die neuen Wahrheiten. Daher ist es ein Gleichnis vom „Reich der Himmel“. Im Reich sucht Gott nicht die Früchte, die Ihm vom Menschen zustehen, sondern entfaltet die Hilfsquellen Seiner Herrlichkeit und Liebe zur Ehre Seines Sohnes. Auch der Mensch ist eingeladen. Das Gleichnis bezieht sich nicht auf die Kirche oder Versammlung; das Reich der Himmel steht vor Augen. Obwohl das Gleichnis über die jüdische Haushaltung hinausgeht, wie sie ausführlich im vorhergehenden Abschnitt geschildert wurde, und Christus nicht als persönlich auf der Erde anwesend darstellt, beschäftigt es sich keinesfalls mit gemeinschaftlichen Vorrechten. Statt dessen geht es um den Zustand des Einzelmenschen und wie Gottes Staunen erregende Barmherzigkeit sich um ihn auf verschiedene Weisen bemüht. Diese stehen in Verbindung mit dem Platz Christi als verherrlicht im Himmel und gehen von dort aus. Kennzeichnenderweise werden nicht die Wege Israels in Hinsicht auf den Herrn vorgestellt, sondern das Verhalten des Königs, der Seinen Sohn verherrlichen möchte. Dennoch begegnet dem Unglauben und der Rebellion unverändert eine gerechte Vergeltung. Es war schon bewiesen, daß Gott dem Menschen nicht vertrauen konnte. Würde jetzt der Mensch Gott vertrauen, auf Sein Wort hin herzukommen und an Seiner Freude über Seinen Sohn teilnehmen?

Offensichtlich befinden wir uns nicht mehr auf alttestamentlicher Grundlage mit ihren ernsten prophetischen Warnungen. „Das Reich der Himmel ist einem König gleich geworden, der seinem Sohn Hochzeit machte. Und er sandte seine Knechte aus, um die Geladenen zur Hochzeit zu rufen; und sie wollten nicht kommen.“ (V. 2–3). Unser Evangelist bleibt seinem Plan und der Absicht des Heiligen Geistes treu und stellt uns nach der Verwerfung des Messias dieses eindringliche Bild vor. Wie würde Gott jetzt handeln? Und wie würde der Mensch, insbesondere Israel, Seine Handlungsweise aufnehmen? Beiläufig erwähnt, im Lukasevangelium erfahren wir nichts von dieser haushälterischen Beziehung. Statt dessen zeigt uns der Heilige Geist ein Bild davon, wie Gott sich zu der Menschheit als solcher stellt. Deshalb spricht Er dort einfach von einem gewissen Menschen, der in beispielloser Großmut ein Abendmahl gibt, und nicht vom König, der seinen Sohn verherrlichen möchte. In beiden Evangelien versinnbildlicht das Gleichnis nicht die gerechten Forderungen unter dem Gesetz, sondern die Art und Weise, wie die Gnade hinausgeht zu „dem Juden zuerst als auch dem Griechen.“ (Römer 1, 16). „Er sandte seine Knechte aus, um die Geladenen [Israel] zur Hochzeit zu rufen; und sie wollten nicht kommen.“ Das Königreich war, als der Herr hienieden lebte, noch nicht da, sondern erst angekündigt. „Wiederum sandte er andere Knechte aus und sprach: Saget den Geladenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh sind geschlachtet; und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit.“ (V. 4).

Beachte den Unterschied! Bei der ersten Aussendung der Knechte wird nicht gesagt: „Alles ist bereit“, sondern nur bei der zweiten. Inzwischen war Christus gestorben und auferstanden und aufgrund Seiner Himmelfahrt das Reich der Himmel eingeführt worden. Im Vergleich zur früheren Evangeliumsbotschaft handelt es sich jetzt um jene nach der Erfüllung Seines Werkes. So werden die beiden Missionen voneinander unterschieden. Die Verwerfung Christi und Sein Tod wurden durch die Gnade Gottes zum Wendepunkt. Allein Matthäus berichtet uns diese auffallende Verschiedenheit. Lukas beginnt in Übereinstimmung mit seiner besonderen Aufgabe mit der zweiten Sendung: „Kommt, denn schon ist alles bereit“ (Lukas 14, 17) und verweilt dann bei Einzelheiten, die dem Matthäusevangelium fremd sind, nämlich bei den Ausflüchten des Herzens, mit denen es das Evangelium ablehnt.

Der König war es also, der tätig wurde und dessen Ehre auf dem Spiel stand, indem Er ein Fest machen wollte, das Seines Sohnes würdig war. Selbst das Kreuz Seines Sohnes brachte Ihn nicht von Seinem großen Plan ab, Sein Volk in Seiner Gegenwart glücklich zu machen. Im Gegenteil, wenn die Gnade ihrer selbst entsprechend wirkt, wird die unterbrochene Botschaft mit einem neuen und noch unendlich dringenderen Appell an die Eingeladenen erneuert. Das geschah durch andere Boten als früher die Zwölf oder die Siebzig. So finden wir am Anfang der Apostelgeschichte (Kap. 2–6) die besondere Botschaft an Israel als die Kinder des Bundes – an die „Geladenen“. Die erste Aussendung geschah demnach zu Lebzeiten des Messias, um das bevorrechtigte Volk zu rufen. Später erfolgte ein zweites und besonderes Zeugnis der Gnade an dasselbe Volk, nachdem das Werk der Erlösung vollbracht war.

Was war das Ergebnis? „Sie aber achteten es nicht und gingen hin, der eine auf seinen Acker, der andere an seinen Handel.“ (V. 5). Gott war nicht in ihren Herzen, sondern vielmehr ihr Feld oder ihr Geschäft. Und, ach!, als Gott das Zeugnis Seiner Gnade vergrößerte, wuchs auch die Verwegenheit des Menschen in Verachtung und Widerstand. „Die übrigen aber ergriffen seine Knechte, mißhandelten und töteten sie.“ (V. 6). Dies finden wir in einem gewissen Maß in der Apostelgeschichte geschildert. Die ersten Kapitel berichten, wie die Botschaft verworfen wurde. In den Kapiteln 7 und 12 werden die Knechte gewalttätig behandelt und erschlagen. Das Endergebnis wird dann vorweggenommen – sowohl die Juden als auch Jerusalem fanden ihr Gericht. „Der König aber ward zornig und sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um und steckte ihre Stadt in Brand.“ (V. 7). Wer sieht hier nicht das Schicksal der jüdischen Nation und die Zerstörung ihrer Stadt? Das lesen wir in Lukas' Gleichnis nicht. Wie gut diese Einzelheit in das Matthäusevangelium paßt, brauche ich wohl kaum zu zeigen.

Doch Gott will Sein Haus mit Gästen füllen. Wenn jene besonders bevorrechtigten Leute nicht kommen wollten und sogar Seinen äußersten Zorn herausforderten, läßt sich die göttliche Gnade trotzdem nicht durch menschliche Halsstarrigkeit auslöschen. Das Böse muß mit dem Guten überwunden werden. „Dann sagt er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Geladenen waren nicht würdig; so gehet nun hin auf die Kreuzwege der Landstraßen, und so viele immer ihr finden werdet, ladet zur Hochzeit.“ (V. 8–9). So beschäftigt sich das Evangelium ohne Unterschied mit jeder und jeglicher Seele. „Jene Knechte gingen aus auf die Landstraßen und brachten alle zusammen, so viele sie fanden, sowohl Böse als Gute. Und die Hochzeit wurde voll von Gästen.“ (V. 10). Das Evangelium wendet sich an Menschen, so wie sie sind; und wo immer es angenommen wird, bewirkt es durch die Gnade, was Gott angemessen ist, anstatt diese Angemessenheit zu fordern. Daher sind alle willkommen, sowohl Gute als Böse, ein sterbender Räuber sowie „die große Sünderin“, eine Lydia sowie ein Kornelius. Es geht nicht um ihren Charakter, sondern um das Fest des Königsohns. Umsonst dürfen sie kommen. Die Gnade fordert und sucht nichts im Menschen. Statt dessen gibt sie die Fähigkeit, in Frieden vor Gott zu stehen.

Ja, sie bewirkt eine notwendige, unerläßliche Tauglichkeit. Dem Hochzeitsfest geziemt ein Hochzeitsgewand. Dieses lieferte der König in Seiner glänzenden Freigebigkeit. Jeder Gast mußte es tragen. Welcher Mensch, der den König und diesen Anlaß ehren wollte, hätte sich geweigert? Die Knechte hielten draußen nicht nach solchen Kleidern Ausschau; denn sie wurden nicht auf den Landstraßen getragen, sondern drinnen bei der Hochzeit. Es war auch nicht so, daß die Gäste in ihrer besten Kleidung erscheinen sollten. Die Zuteilung der Kleider war Sache des Königs. Komme, wer da wolle – es war genug da, und nichts wurde gespart. Alles war bereit.

Das ist die große, unaufgebbare Wahrheit des Evangeliums. Weit davon entfernt, irgend etwas für Gott Angenehmes im Menschen zu suchen, wird die gute Botschaft von Gottes Seite auf der ausdrücklichen Grundlage verkündigt, daß der Sünder nur Ruin, Elend und Schuld mitbringt. „Wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Offenbarung 22, 17).

Wo jedoch das Herz vor Gott nicht richtig steht, unterwirft es sich Seiner Gerechtigkeit nicht. Der Mensch zieht in diesem Fall vor, auf seiner eigenen Grundlage zu stehen. Entweder meint er, aufgrund seines Wesens oder Tuns bei

Gott ein Recht geltend machen zu können oder er wagt sich, gleichgültig über seinen Zustand und Gottes Ehre, einfach „herein“. Solch ein Mensch war es, den der König ohne Hochzeitskleid vorfand. Damit verachtete er die Heiligkeit sowie auch die Gnade Gottes und bewies, daß er auf der Hochzeit ein absolut Fremder war. Was hielt er von den Gefühlen des Königs, der Seinen Sohn verherrlichen wollte, und wie achtete er sie? Denn darin liegt das wahre und wirkliche Geheimnis: Gott teilt um Seines Sohnes willen verschwenderisch Seine Barmherzigkeit an Sünder aus.

Hierdurch erhalten wir die Gelegenheit, Christi Name zu verherrlichen. Beugt sich meine Seele vor diesem Namen und Den, der Ihn trägt? Das ist Errettung. Das Herz mag durch viele Übungen gehen; doch der einzige Schlüssel zu Gottes erstaunlicher Güte gegen uns besteht in Seinen Gefühlen für Seinen Sohn. Wenn ich es so ausdrücken darf: Der Herr Jesus hat Gott den Vater gegen sich verpflichtet. Er hat in Seinem Leben und Sterben Gott so sehr um jeden Preis verherrlicht, daß Gott (ich sage es mit Ehrfurcht) verpflichtet ist, das, was Er ist, um Seines Sohnes willen zu offenbaren. Darauf beruht jener bemerkenswerte Ausdruck „die Gerechtigkeit Gottes“ in den Briefen des Paulus. Es geht nicht länger um die Gerechtigkeit des Menschen, welche vom Gesetz gesucht wurde. Gott ist jetzt gerecht in Christus, nachdem erwiesen ist, daß der Mensch völlig und in jeder Hinsicht versagt hat. Wegen des unendlichen Wertes des Kreuzes, liebt es Gott, Christus zu ehren. Wenn eine Seele Christi Namen geltend macht, ist Gottes Gerechtigkeit angesprochen, sodaß Er in Seiner Gnade die Seele umsonst rechtfertigt durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.

Wie treffend wird diese Wahrheit durch das Verhalten des Königs gegen den Eindringling, der Christus verachtete, demonstriert! „Als aber der König hereinkam, die Gäste zu besehen, sah er daselbst einen Menschen, der nicht mit einem Hochzeitskleid bekleidet war.“ (V. 11). Auf dieser Grundlage handelte Er mit ihm. Es ging nicht darum, was dieser Mensch gewesen war oder getan hatte. Die Knechte waren ermächtigt worden, sowohl Böse als Gute hereinzubringen. Der Apostel sagt: „Solches sind euer etliche gewesen.“ (1. Korinther 6, 11). Tatsächlich mochte jener Mensch der Tadelloseste, Anständigste und Religiöseste der ganzen Festgesellschaft gewesen sein so wie der junge Oberste, der den Herrn traurig verließ. (Matthäus 19, 22). Doch ob er ein verhärteter Sünder oder ein Selbstgerechter war – eines wissen wir ganz sicher: Er trug kein Hochzeitskleid. Das zog sofort das Auge des Königs auf ihn. Letzterer blickte nur auf dieses einfache Merkmal. Trug jeder Gast ein Hochzeitsgewand? Jener trug jedenfalls keins. Was besagte dies? Schreckliche Tatsache! Die Gnade des Königs wurde geringgeachtet, der Sohn offen verunehrt.

Das Hochzeitskleid ist Christus. Dieser Gast trat also vor den König ohne Christus. Er hatte Ihn nicht angezogen. Er mochte ernste Anstrengungen gemacht haben, heilig und gerecht zu sein; doch er brachte einzig und allein sich selbst und nicht Christus. Dies führt zum ewigen Verderben und zur Verdammung eines Sünders. Nehmen wir jedoch den Größten der Sünder, welcher Gott rechtfertigt, indem er Christus als das einzige Mittel für eine verlorene Seele annimmt, um vor Gott zu stehen! Dieser verherrlicht Gott und Seine Gnade. Er zeigt, daß er innerlich zusammengebrochen ist durch die Offenbarung dessen, was Gott in Christus ist. Er blickt dann auf und sagt: „Ich kann nicht auf mich selbst vertrauen. Ich kann nicht darauf vertrauen, was ich gewesen bin – selbst nicht darauf, was ich Dir, o Gott, sein möchte. Aber ich kann völlig darauf vertrauen, was Du in der Gabe Deines Sohnes für mich bist.“ Ein solches Vertrauen auf Gott bewirkt tiefen Abscheu vor sich selbst, echte Rechtschaffenheit der Seele sowie Gewissenhaftigkeit des Herzens und das Verlangen, den Willen Gottes zu tun. Nichts ist so demütigend, aber gleichzeitig auch so kräftigend wie das Ruhen des Herzens in der Gnade Gottes gegen uns in Christus.

Der Mann wurde nicht deshalb getadelt, weil er kein neues – egal wie glänzendes – Gewand mitbrachte. Im Gegenteil, seine Lage wurde so hoffnungslos böse wegen seiner Gleichgültigkeit gegen die großzügige Vorsorge des Königs. Warum sollte sein eigenes Kleid nicht genauso gut sein wie das des Königs? Er wußte und glaubte nicht, daß nichts von dieser Erde in Gottes Gegenwart paßt, es sei denn durch das kostbare Blut Christi erkauft. Er hatte kein Empfinden für die Gnade, die ihn einlud, noch für die Heiligkeit, die der Gegenwart Gottes geziemt. Folglich sagte der König zu ihm: „Freund, wie bist du hier hereingekommen, da du kein Hochzeitskleid anhast? Er aber verstummte.“ (V. 12). Er mochte noch so gut gekleidet sein; er mochte das Fest und seine Gäste lieben – er dachte jedoch nicht an den König, noch an Seinen Sohn, und wußte nichts zu sagen, als die ernste Frage kam. Dem Geist nach und vor Gott befand es sich vollständig außerhalb des Festes, sonst würde er gefühlt haben, wie unbedingt notwendig eine Bekleidung in Übereinstimmung mit der Freude des Königs und der Hochzeitsfeier des Sohnes war.

Das Gericht warf den Verächter des Königs von jenem Schauplatz, für den er kein Herz hatte, an den Ort, wo die Ungläubigen, wenn auch in hoffnungslosem Elend sowie mit Gewissensbissen und Vorwürfen gegen sich selbst, den Sohn ehren müssen. Hier handelt es sich nicht um Strafe in den Regierungswegen Gottes, wie sie durch die Vorsehung jene Mörder erschlug und ihre Stadt verbrannte. Statt dessen sehen wir das volle, endgültige Gericht über einen Menschen, der die Gnade mißbrauchte, indem er es vorzog, ohne Christus zu Gott zu kommen. Christus ist es, Den Gott für uns zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung gemacht hat (1. Korinther 1, 30). Jener Mensch zeigte eindeutig, daß er „weder Teil noch Los an dieser Sache“ hatte (Apostelgeschichte 8, 21). Bald wird das Gericht mit seiner Gewalt die ganze Wahrheit offenbaren. „Da sprach der König zu den Dienern [oder Aufwärtern; es sind nicht die Knechte der Verse 3, 4, 6, 8, 10]: Bindet ihm Füße und Hände, nehmet ihn und werfet ihn hinaus in die äußere Finsternis: da wird sein das Weinen und das Zähneknirschen.“ (V. 13). War dieses überaus ernste Urteil ein Sonderfall, weil nur eine Person angeführt wird? Nein, wahrhaftig nicht! „Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte.“ (V. 14).

Das beendete die doppelte Erprobung der jüdischen Nation – zuerst aufgrund ihrer Verantwortlichkeit unter dem Gesetz, als nächstes in der Prüfung durch die Botschaft der Gnade. Im übrigen Teil des Kapitels werden die verschiedenen Menschenklassen in Israel im einzelnen verurteilt, die nacheinander kamen, um den Herrn zu richten und zu umgarnen, wobei sie ihren wahren Zustand offenbarten. Zuletzt endet alles mit der einen Frage, die sie nicht beantworten konnten, solange ihnen des Herrn Stellung und gleichzeitig auch Seine herrliche Person unbekannt blieb.

„Dann gingen die Pharisäer hin und hielten Rat, wie sie ihn in der Rede in eine Falle lockten. Und sie senden ihre Jünger mit den Herodianern zu ihm.“ (V. 15–16). Was für eine Allianz! Die Vorkämpfer des strengen Judentums und des Gesetzes sowie die politischen Opportunisten jener Tage, welche von ersteren aufs tiefste gehaßt wurden, vereinigten sich in Schmeichelei, um Jesus bezüglich der Frage jüdischer Vorrechte vor jenen der Nationen zu umgarnen. Würde Er, der Messias, die Hoffnungen und Privilegien Israels als Nation leugnen? Wenn nicht – wie konnte Er dann der Anklage des Verrats gegen den Kaiser entgehen? Dahinter stand teuflische Schlauheit. Doch die göttliche Weisheit stellt die Wahrheit über Gott und den Menschen heraus. Damit verschwand die Schwierigkeit. Die Rebellion der Juden gegen Jehova war der Anlaß, daß Er sie heidnischen Herren unterworfen hatte. Das Unrecht Letzterer änderte nichts daran. Hatten die Juden sich dafür gedemütigt und die Hilfsquellen der Gnade Gottes gesucht? Nein! Sie waren stolz und prahlerisch; und gerade in jenem Augenblick standen sie in tödlicher Feindschaft, verbunden mit boshafter List, da, indem sie sich gegen ihren – Gottes – Messias verschworen hatten. „Sage uns nun, was denkst du: Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben, oder nicht? Da aber Jesus ihre Bosheit erkannte, sprach er: Was versuchet ihr mich, Heuchler? Zeigt mir die Steuermünze.“ (V. 17–19). Sie brachten einen Denar und mußten das Bild und die Überschrift des Kaiser auf derselben anerkennen. Daraufhin hörten sie den unwiderlegbaren Satz: „Gebt denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ (V. 21). Hätten die Juden Gott geehrt, wären sie nie in die Knechtschaft von Menschen geraten. Da sie sich jedoch jetzt wegen ihrer Sünde und Torheit in dieser Lage befanden, mußten sie ihre Erniedrigung akzeptieren. Weder die Pharisäer, noch die Herodianer fühlten die Sünde. Und während die einen das als Schande empfanden, dessen sich die anderen rühmten, zwang der Herr sie dazu, ihrer wahren Stellung, in welche ihre Bosheit sie versetzt hatte, ins Auge zu sehen. Dabei stellte Er heraus, was der unverzügliche Vorbote ihrer göttlichen Befreiung geworden wäre, wenn sie es nur angenommen hätten.

„An jenem Tag kamen Sadducäer zu ihm, die da sagen, es gebe keine Auferstehung; und sie fragten ihn und sprachen: Lehrer, Moses hat gesagt. . .“ (V. 23–24). Wir sehen, daß der Unglaube genauso falsch und unredlich ist wie eine vorgetäuschte menschliche Gerechtigkeit. Die einen verbanden sich mit den Herodianern und heuchelten Loyalität gegen den Kaiser, die anderen führten Mose an, als wäre das inspirierte Wort Gottes von bevollmächtigter Autorität über ihr Gewissen. Der Herr hatte die Heuchelei jener offengelegt, die als religiöse Menschen in hohem Ansehen standen. Nun entlarvte Er mit gleicher Sorgfalt, was diese Skeptiker niemals vermutet hätten: Ihre Schwierigkeiten entstanden nicht nur daraus, daß sie die Kraft Gottes nicht kannten, sondern vor allem auch aus ihrer äußersten Unwissenheit, wie groß auch ihre Selbstgefälligkeit und ihr Eigendünkel sein mochten. „Ihr irret, indem ihr die Schriften nicht kennt, noch die Kraft Gottes.“ (V. 29). Der Glaube hingegen sieht immer klar und rechnet mit Gott entsprechend der Offenbarung Seiner selbst, die Er in Seinem Wort gegeben hat.

Dem besonderen Gegenstand ihrer Frage begegnete unser Herr nicht nur damit, daß Er ihren Trugschluß als vollständiges Mißverständnis hinsichtlich des Auferstehungszustands nachwies. Er zeigte auch, indem Er sich ausschließlich auf Mose stützte, wie notwendig die Auferstehung der Toten als ein grundlegender Teil des Plans und der Wahrheit Gottes ist. Lukas 16 wurde inspiriert, uns einen zusätzlichen Hinweis über den Zwischenzustand der abgeschiedenen Geister zu geben. Doch in unserem Evangelium wird bewiesen, daß die Toten auferstehen, und zwar weil Gott sich als Gott der Väter bezeichnet hat nach deren Tod. Anerkanntermaßen ist Er nicht der Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Folglich müssen sie auferstehen, um wieder leben zu können. Wenn Er ihr Gott war in dem Zustand, in dem sie sich befanden, als Gott mit Mose sprach, mußte Er ein Gott der Toten sein. Die Sadducäer wären die ersten gewesen, um dies zu verneinen. Gottes Offenbarung an Mose in diesem Charakter war um so wichtiger, weil jener bald danach in dem Gesetz ein System von Bestimmungen mit seinen sichtbaren Belohnungen und Strafen einführen sollte. Dadurch war der sichere Ruin aller besiegelt, die im Unglauben an diesem Gesetz und den irdischen Dingen festhielten, indem sie die Verheißungen, welche mit „dem Samen“ und der Auferstehung verbunden waren, verachteten. So mußte der Unglaube hier gegen seinen Willen dazu dienen, daß Christus mit göttlicher Klarheit die Macht und die Absichten Gottes, wie sie in den Schriften geoffenbart waren, herausstellen konnte, und zwar auf Grund eines Problems, das besonders ausgewählt worden war, um Schwierigkeiten zu erzeugen. Damit wird Gottes Absicht, Israel in Auferstehungsmacht vollkommen zu segnen, bestätigt, unmittelbar nachdem Er Sein unumgängliches Handeln mit der Sünde des Volkes durch die gegenwärtige Unterwerfung unter die Nationen dargelegt hatte.

Auch wenn die Pharisäer sich verwundert zurückgezogen hatten, waren sie doch keineswegs besiegt. Ja, sie stachelten sich erneut an, als ihre skeptischen Rivalen zum Schweigen gebracht waren. Sie versammelten sich; und ein Gesetzgelehrter versuchte Ihn. Aber Er erhielt vom Herrn nur eine vollständige Zusammenfassung der praktischen Gerechtigkeit. Sie diskutierten nur darüber und wollten Ihn damit versuchen. Der Herr jedoch war der Ausdruck aller Vollkommenheiten des Gesetzes und der Propheten und – weit, weit darüber hinaus – das Bild Gottes in Gnade und Gerechtigkeit hienieden. Er war nicht wie Adam, welcher gegen Gott rebellierte, nicht wie Kain, der seinen Nächsten nicht liebte, sondern seinen Bruder erschlug. (V. 34–40).

Jetzt, am Ende, mußte der Herr ihnen die Frage aller Fragen, und zwar nicht nur für einen Pharisäer, sondern für eine jede Seele, vorlegen. „Was dünkt euch von dem Christus? wessen Sohn ist er.“ (V. 42). Ganz gewiß war Er Davids Sohn; doch war dies die Wahrheit, war es die ganze Wahrheit? „Wie nennt David ihn denn im Geist Herr, indem er sagt: „Jehova1 sprach zu meinem Herrn“?“ (V. 43–44). Wie konnte Er beides sein – Davids Sohn und Davids Herr? Das war die einfache Wahrheit, der Schlüssel zur ganzen Bibel, der Weg, die Wahrheit, das Leben, die Erklärung Seiner Stellung und die einzige Hoffnung für sie. Doch sie waren stumm. Sie wußten nichts und konnten nicht antworten, „noch wagte jemand von dem Tag an ihn ferner zu befragen.“ (V. 46).

Fußnoten

  • 1 Kelly hat hier „Jehova“ statt „Herr“. (Übs.).
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