Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 15

In diesem Kapitel finden wir auffallende Hinweise auf den großen Wechsel infolge der Verwerfung Jesu durch Israel, der jetzt schnell herannahte. Zuerst sehen wir gewisse religiöse Führer, „Schriftgelehrte und Pharisäer von Jerusalem.“ (V. 1). In ihrer Nation lebten sie in den günstigsten religiösen Umständen. Diese kamen im vollen Geruch ihrer Altehrwürdigkeit und äußeren Heiligkeit zu Ihm und stellten die Frage: „Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten? denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen.“ (V. 2). Der Herr versucht, ihre Gewissen zu erreichen. Er beginnt nicht eine allgemeine Diskussion über die Überlieferung, auch disputiert Er nicht mit ihnen über die Autorität der Ältesten. Statt dessen macht Er sofort klar, daß sie in ihrem Eifer für die Überlieferung der Ältesten schnurstracks dem eindeutigen, ausdrücklichen Gebot Gottes entgegen handelten. Das ist, wie ich glaube, unveränderlich die Wirkung der Überlieferung, egal, wer durch sie geleitet wird. Wenn wir die Geschichte der Christenheit betrachten und jede kirchliche Regel, die jemals erfunden wurde, entdecken wir, daß alle, die letzterer folgten, in direkten Widerspruch zu den Gedanken Gottes geführt wurden. Dabei mögen solche Regeln auf dem ersten Blick so vernünftig wie möglich erscheinen und von den neuen Umständen der Kirche (Versammlung) gefordert zu sein. Wir befinden uns jedoch stets auf der unsicheren Seite, wenn wir um anderer Normen willen Gottes Wort verlassen.

Das heißt nicht, daß wir für eine rein buchstäbliche Auslegung der Bibel kämpfen. Wenn das Wort Gottes Seinen Heiligen eine bestimmte Verfahrensweise im Umgang mit der einen Art des Bösen vorschreibt, mag diese noch lange nicht bei einer anderen Schwierigkeit verpflichtend sein. Neue Umstände verändern den Weg, den die Kirche zu verfolgen hat. Wenn wir die Anweisungen bezüglich Unsittlichkeit auf das Verkünden verhängnisvoller Irrtümer bezüglich der Person unseres Herrn übertragen, erhalten wir eine sehr unzureichende Art von Zucht. Falsche Lehre berührt nicht so sehr das natürliche Gewissen wie anstößiges Verhalten. Ja, wir erleben häufig, daß ein Gläubiger durch seine Gefühle veranlaßt wird, jene zu entschuldigen, die grundsätzlichen Irrlehren anhängen. Wenn das Auge nicht einfältig ist, wird das Herz von aller Art Schwierigkeiten erfüllt. Auf diese Weise werden manche in falsche Lehren verwickelt, ohne sie selbst zu vertreten. Wenn ich den Grundsatz festhalte, daß ich mich nur mit denen zu beschäftigen habe, welche die Lehre Christi nicht bringen, so genügt das nicht; denn es mögen auch noch andere in den Irrtum verwickelt sein. Was bedeutet ein Einzelner, was die Kirche, im Vergleich zum Heiland, dem Sohn des Vaters? Folglich ist die vom Heiligen Geist niedergelegte Verhaltensregel zur Verteidigung der Person Christi gegen lästernde Angreifer und ihre Parteigänger unendlich bindender als jede Vorschrift gegen sittliches Verderben, mag es noch so übel sein.

Andererseits neigen wir dazu, unsere frühere Handlungsweise zur Regel zu machen. Wenn dann wieder etwas Böses auftritt, bestehen wir darauf, genauso zu handeln wie früher oder wie wir es immer getan haben. Statt dessen sollten wir erneut Gott befragen und das Wort Gottes untersuchen in Hinsicht auf den neuen Fall vor uns und unsere Verantwortung. Um richtig mit Gott wandeln zu können, benötigen wir den Geist der Abhängigkeit. Das geschriebene Wort Gottes genügt allen unseren Bedürfnissen. Doch jeder neue Fall sollte uns veranlassen, das Wort in Gegenwart Dessen zu befragen, Der es gegeben hat. Die Menschen lieben es, mit sich selbst in Übereinstimmung zu sein und frühere Meinungen und Praktiken beizubehalten.

Unser Herr streicht an dieser Stelle heraus, daß die Achtung vor rein menschlichen Überlieferungen zu unmittelbarem Ungehorsam gegen Gottes Willen führt. Händewaschen scheint durchaus vernünftig zu sein. Niemand kann behaupten, daß die Schrift es verböte; und die jüdischen Gelehrten vermochten zweifellos seine sittliche Bedeutung nachdrücklich darzulegen. Sie konnten durchaus vorbringen, wie angemessen es sei, immer die Reinheit, die Gott verlangt, im Gedächtnis zu haben. Insbesondere sollten wir niemals etwas aus Seinen Händen in Empfang nehmen, ohne vorher jede Beschmutzung unserer eigenen Hände entfernt zu haben. Damit argumentierten sie vor einem Volk, das jede äußerliche Routine liebte. Auf jeden Fall konnten sie fragen: Was schadet eine solche Überlieferung? Welcher Nachteil kann daraus entstehen, wenn die Leute ihre Hände waschen? Es ist doch nur zum Guten? Unser Herr kommt jedoch zu der einzigen Schlußfolgerung: „Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen?“ (V. 3). Nicht trotz, sondern wegen ihrer Überlieferung gehorchten sie Gott nicht.

Diese Wahrheit belegte Er mit einer in Israel sehr wichtigen Familienbeziehung. Der Apostel Paulus zitiert in seinem Brief an die Epheser das Gebot, seinen Vater und seine Mutter zu ehren, als das erste Gebot mit Verheißung. (Epheser 6, 2). Andere Gebote waren mit einer Androhung des Todes verbunden. Doch dieses Gebot wurde von Gott ausgezeichnet, indem Er seine Erfüllung mit einem langen Leben auf der Erde belohnen wollte. Die Überlegungen des Apostels gingen nun dahin: Wenn ein jüdisches Kind verpflichtet war, ja, geradezu durch eine solche Verheißung ermutigt wurde, seine Eltern zu ehren, wieviel mehr ein christliches Kind! Es sollte seinen Eltern im Herrn gehorchen – nicht nur im Gesetz, sondern im Herrn. Dieses Beispiel greift der Herr hier auf. „Gott hat geboten und gesagt: „Ehre den Vater und die Mutter!“ und: „Wer Vater oder Mutter flucht, soll des Todes sterben.““ (V. 4). Auf der einen Seite würdigte Gott die Ehrerweisung, auf der anderen war Mißachtung in Seinen Augen todeswürdig. „Ihr aber saget: Wer irgend zu dem Vater oder zu der Mutter spricht: Eine Gabe sei das, was irgend dir von mir zunutze kommen könnte; und er wird keineswegs seinen Vater oder seine Mutter ehren.“ (V. 5). Die Juden betrogen ihr Gewissen, indem sie sich von dem Zwang ihrer Kindespflichten befreiten. Sie brauchten nur die Worte „Eine Gabe!“ (Korban) auszurufen und durften ihre Eltern vergessen. Zweifellos war das eine ihrer bevollmächtigten Überlieferungen – und zum Vorteil des Priesters! Doch es war genauso zweifellos in den Augen Gottes eine unheilige Handlung und eine unmittelbare Verletzung Seines Gebots. „Ihr habt so das Gebot Gottes ungültig gemacht um eurer Überlieferung willen.“ (V. 6). Dies ist so ernst, daß wir immer daran denken sollten; denn wir dürfen diesen Grundsatz nicht ausschließlich auf jenes menschliche Verwandtschaftsverhältnis beziehen. Wenn wir uns die Mühe machen, jede von Menschen eingeführte religiöse Regel nicht nur im Papsttum, sondern auch im Protestantismus zu untersuchen, finden wir ständig diese Wahrheit. Jede Hinzufügung zur Bibel ist verderblich. Es spielt dabei keine Rolle, wer so handelt und welche heiligsten Beweggründe angeführt werden. Gott wacht eifersüchtig über Sein Wort und möchte nicht, daß es erweitert oder ergänzt wird. Die göttliche Offenbarung ist vollständig; und wir sollen einfältig dem Wort Gottes gehorchen.

Wir könnten viele Beispiele anführen. Nehmen wir das verbreitetste: Die Wahl eines Predigers! Die Leute, Christen, sagen: Wir müssen verschiedene Prediger zu uns kommen lassen und den für uns geeignetsten aussuchen. Ich bin bereit, ihnen bei der Beurteilung Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ohne Parteilichkeit und Voreingenommenheit zuzubilligen. Doch wo ist die Vollmacht, um jemand zu wählen, der das Evangelium verkündigen oder die Kirche belehren soll? Gibt es dazu eine Vorschrift oder ein einziges Beispiel im ganzen Neuen Testament? Sah Gott denn die Schwierigkeiten und die Bedürfnisse der Gemeinden nicht voraus? Natürlich sah Er sie! Warum fehlen dann alle Anweisungen diesbezüglich? Weil es Sünde ist, so zu handeln. Es entspricht nicht Seinem Willen, ja, es widerspricht ihm geradezu. In der Bibel finden wir kein Beispiel einer solchen Wahl oder Ähnlichem von der Zeit an, da der Heilige Geist an Pfingsten auf die Erde kam bis zur Vollendung der Schriften des Neuen Testaments. Dabei wird in der Bibel von einer großen Anzahl Versammlungen gesprochen. Was hat eine Gemeinde also zu tun, wenn sie einen Mann für einen geistlichen Dienst benötigt? Warum untersucht sie nicht die Heilige Schrift, um den biblischen Weg zur Lösung einer solchen Verlegenheit zu erfahren? Die Schwierigkeit liegt darin, daß sie sich schon in einer falschen Stellung befindet; denn die zentrale Wahrheit für die Kirche (Versammlung) ist die Gegenwart des Heiligen Geistes.

Wir sprechen von einer christlichen Versammlung, in welcher der Heilige Geist persönlich anwesend ist, um nach Seinem Willen zu handeln inmitten von Jüngern, die zusammengekommen sind, um Gott zu verherrlichen und Christus zu erhöhen. Wo eine Zusammenkunft in dieser Weise stattfindet, erhebt sich nicht die Frage nach Wahl eines Predigers. Wenn nur Zwei oder Drei gemäß den Richtlinien Gottes (das ist, auf dem Boden der Versammlung Gottes) versammelt sind, dann bilden sie, wenn ich so sagen darf, eine Versammlung Gottes, wenn nicht sogar die Versammlung. Falls dreitausend wirklich Erlöste beisammen sind, aber nicht nach den Grundsätzen Gottes, dann sind sie weder die Versammlung, noch eine Versammlung Gottes, obwohl alle Anwesenden als Glieder zum Leib Christi gehören. Die übliche protestantische Tradition, einen Geistlichen zu wählen, ist ausschlaggebend. Sie stellt jene, die so handeln, in entschiedenen Gegensatz zum Wort Gottes. Es ist gut für eine christliche Versammlung, ihre Schwachheit zu fühlen. Möglicherweise ist keiner mit einer besonderen Gabe unter ihnen. Der eine oder andere vermag vielleicht beim Gebet oder Lob Gottes zu helfen, aber nicht predigen oder lehren. Doch der gesegnete Trost liegt darin, daß trotz des Fehlens von Brüdern, die im Dienst des Wortes besonders begabt sind, der Heilige Geist auch ohne diese die Erlösten belehren kann. Andererseits mag eine Versammlung alle Gaben im Überfluß besitzen, jedoch in falscher Weise. Dann werden der Wille und die Herrlichkeit Gottes weitgehend beiseite gesetzt und der Segen vermindert. Auch wenn kein Bruder mit einer besonderen Gabe anwesend ist, wird es wirklichen Segen geben, vorausgesetzt die Augen sind auf den Herrn gerichtet.

Der Heilige Geist möchte die Seelen der Erlösten in unmittelbare Verbindung mit dem Herrn bringen. Dabei mag es Gott in Seiner Weisheit gefallen, in einer bestimmten Versammlung keine besondere Gabe zu erwecken, während Er anderswo zwei, drei oder noch mehr Diener des Wortes hin sendet. Ich glaube nicht, daß ein einziger Mann genug Gaben für die Kirche (Versammlung) Gottes hat. Die Ansicht, daß ausschließlich eine Person für die Mitteilungen Gottes an Sein Volk zuständig sei, ist ein Unrecht gegen dasselbe und vor allem gegen den Herrn. In jeder Hinsicht widerspricht sie dem Willen Gottes bezüglich Seiner Versammlung und macht ihn zunichte. Es mag viele gute Gründe geben, warum man einen Prediger wählen sollte. Höre jedoch niemals auf eine Rechtfertigung für etwas, das du nicht im Wort Gottes findest! Wir können schlecht beurteilen, was für uns am besten ist. Menschen machen große Fehler. Der Glaube verharrt auf dem Grundsatz, daß Gott keinen Fehler machen kann. Er trägt in Seinem Wort für alles Vorsorge. Gott legt momentan diese Wahrheit besonders auf unsere Herzen. Zur Zeit der Reformation ging es darum, allen Leuten die Bibel zu bringen, damit arme Seelen die Möglichkeit hatten, zu ihrer Errettung Christus kennenzulernen. Damit endete dann fast alle Erkenntnis über die Wahrheit. Die Reformation befaßte sich nie richtig mit dem Problem der wahren Kirche (Versammlung); denn die Reformatoren hatten sich mit einem rauhen Feind auseinanderzusetzen. Sie mußten sozusagen die vielen Felsen im Steinbruch sprengen. Darum dürfen wir uns nicht beklagen, wenn sie die Steine nicht mit gleicher Sorgfalt behauen und aufbauen konnten. Andererseits sollten wir nicht bei ihrer „Steinbearbeitung“ stehen bleiben.

Die Überlieferung darf in keiner Form irgendwie festgehalten werden. In unseren Versen ging es nicht einfach um das Ausleben einer Gewohnheit. Die Juden mißbrauchten die Tradition sogar, um einer scheinheiligen Selbstsucht zu frönen. „Heuchler!“, sagt unser Herr. „Trefflich hat Jesaias über euch geweissagt, indem er spricht: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir.““ (V. 7–8). Jene Männer, die solchen Eifer für das Gesetz vortäuschten, zerstörten gleichzeitig seine Grundlagen. Vater und Mutter stehen am Anfang jener Vorschriften des Gesetzes, die sich mit den Menschen beschäftigen. (2. Mose 20). So machte ihre Überlieferung, welche eine Entehrung dieser Anordnungen zuließ, Gottes Autorität null und nichtig, und zwar in Hinsicht auf die allerwichtigste irdische Beziehung in Israel. Jesaja zeigt, daß schon die Propheten sie verdammten, weil sie durch ihre Überlieferung das Gesetz aufgaben. „Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren.“ (V. 9).

Nachdem Er dieses Thema beendet hatte, rief Er die Volksmenge herzu und sprach zu ihnen: „Höret und verstehet! Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen.“ (V. 11). Es sind vor allem die Hauptführer einer Religion, die sich mit der Überlieferung beschäftigen. Der große Fallstrick besteht in der Leugnung des Bösen im Menschen. Satan benutzt jetzt beständig die Idee als Waffe, daß der Mensch nicht zu schlecht sei, um durch sittliche Kultur gebessert zu werden. Uns wird gesagt, daß der Fortschritt in der Welt erstaunlich sei. Es gibt Gesellschaften, die jeden menschenfreundlichen Plan, bis zum Schutz der Tiere vor Grausamkeit, unterstützen. Hier lesen wir ein Wort, welches diese Bemühungen in Bausch und Bogen verurteilt. „Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen.“ Das wahre Geheimnis für den bejammernswerten Zustand des Menschen liegt in seinem Herzen, welches alles in ihm beeinflußt.

Dabei hat Gott dasselbe keineswegs so erschaffen. Der Mensch ist ein verdorbenes Geschöpf, das seine Verderbnis allem mitteilt, was es anfaßt. Darum ist jede Bezähmung des Fleisches in den Augen Gottes völlig nutzlos und notwendigerweise falsch. Der Herr sagt der Volksmenge: „Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen.“ Beachten wir, daß Er mit Jerusalem und der Überlieferung abgeschlossen hat! Er spricht über die menschliche Natur. Der Mensch ist verloren. Aber niemand glaubt das wirklich in Hinsicht auf seine eigene Person, bevor er Christus gefunden hat. Vielleicht glaubt er, daß er ein Sünder ist. Doch denkt er auch, daß er zu schlecht ist, um etwas Gutes hervorzubringen? Beruht nicht die heute vorherrschende Theorie auf der Annahme, daß der Mensch zu verbessern sei? Unser Herr erklärt jedoch, daß diese Besserung nicht durch äußere Mittel bewirkt werden kann, indem man den Menschen mit Gutem füttert oder Böses von ihm fernhält. Das Herz ist schlecht. Bevor nicht das Herz erreicht wird, ist alles umsonst. „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.“ (Römer 10, 8). Für einen Christen sollte Gottes Handlungsweise mit dem Herzen das Wichtigste sein. Was ist so einfach, so gesegnet und so gewaltig wie das Evangelium? Wer sagt, daß das Evangelium eine „Magd“ benötigt? Die „Magd“ hat ihre Aufgabe verloren und wurde entlassen. (Galater 4, 21–31). Hagar wurde aus dem Haus geschickt; denn sie kann uns nur Ismael geben – den Sohn nach dem Fleisch, welcher das Kind der Verheißung verspottet. Der Mensch befindet sich nicht mehr in einem Zustand der Erprobung. Die Prüfung wurde schon vorgenommen. Gott hat Sein Urteil verkündet, nämlich daß das Fleisch völlig wertlos ist. Trotzdem stellt der Mensch dieses Urteil immer wieder in Frage, anstatt Gott zu glauben.

Die Jünger kamen zum Herrn, um mit Ihm darüber zu reden. Sie konnten an dem, was Er gesagt hatte, keinen Geschmack finden; darum sprachen sie zu Ihm: „Weißt du, daß die Pharisäer sich ärgerten, als sie das Wort hörten?“ (V. 12). Auch wenn sie selbst vielleicht keinen Anstoß nahmen, so neigten sie doch dazu, mit jenen Leuten zu sympathisieren, die es taten. Hätten wir nicht gedacht, daß die Volksmenge sich am meisten ärgern würde? Aber nein; die Pharisäer, welche auf dem Boden der Überlieferung standen, hatten nicht mehr Bewußtsein vom wahren Ruin der menschlichen Natur in den Augen Gottes als die arme Volksmenge in all ihrer Unwissenheit. Nichts blendet die Gedanken so wie die Überlieferung. Die Pharisäer ärgerten sich also; und die Jünger versuchten zwischen ihnen und unserem Herrn zu vermitteln. Er antwortete jedoch noch ernster: „Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden.“ (V. 13). Wir benötigen ein neues Leben von Gott und nicht eine Verbesserung des alten. Eine Pflanze muß gepflanzt werden, und zwar durch unseren himmlischen Vater. Jede andere Pflanze wird ausgerottet. „Laßt sie; sie sind blinde Leiter der Blinden.“ (V. 14). Wir sollen nicht unsere Zeit verschwenden und mit diesen Pharisäern diskutieren. Es ist völlig umsonst. Die richtigen Grundlagen müssen erst gelegt und ein Werk Gottes in ihren Seelen geschehen sein. Jede Diskussion ist folglich nutzlos und fortgeworfene Zeit. „Laßt sie; sie sind blinde Leiter der Blinden.“ Er sprach diese Worte nicht über die Volksmenge aus, sondern über die Führer des Volkes, welche die Lehre von der totalen Verderbnis des Menschen straucheln ließ. Solche überläßt man am besten ihren eigenen Vorstellungen. „Laßt sie!“ Wenn Blinde durch Blinde geleitet werden, fallen sie zusammen in eine Grube.

Der Herr führte jedoch Seine Jünger weiter. Petrus antwortete und sagte zu Ihm: „Deute uns dieses Gleichnis.“ (V. 15). Das ist äußerst lehrreich. Was meinte Petrus, als er die Worte des Herrn ein Gleichnis nannte? Er verstand sie selbst nicht. Da stand ein Mann, der Führer unter den zwölf Aposteln, und konnte nicht verstehen, was unser Herr meinte, als Er ihnen sagte, daß der Mensch – und zwar vor allem sein Herz – durch und durch böse ist! Es war ihm unverständlich, daß das, was aus dem Menschen herauskommt, schlecht ist, und nicht das, was in ihn eingeht. Und er nennt diese Wahrheit ein Gleichnis! Die Schwierigkeiten beim Verständnis der Bibel entstehen weniger aus ihrer schwer verständlichen Sprache, als vielmehr aus ihrer unangenehmen Wahrheit. Letztere steht den Wünschen der Menschen entgegen; und sie können sie nicht erkennen, weil sie sie nicht annehmen wollen. Ein Mensch ist sich dieser Tatsache nicht immer bewußt. Sie ist zwar verborgen, doch vor Gottes Augen offen. Das Hindernis liegt im Widerwillen des Menschen gegen die Wahrheit. Petrus sagte: „Deute uns dieses Gleichnis. Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig?“ Denke dir: Da ist ein Jünger, der die Worte seines Herrn unverständlich fand, als dieser verkündete, daß der Mensch durch und durch schlecht und wertlos ist!

„Begreifet ihr noch nicht, daß alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in den Abort ausgeworfen wird? Was aber aus dem Munde ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen.“ (V. 17–19). Die Quelle des Bösen beim Menschen liegt in seinem Innern. Und darum ist alles Bemühen nutzlos, bevor er ein neues Leben empfangen hat und aus Wasser und Geist wiedergeboren ist. „Diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen, verunreinigt den Menschen nicht.“ (V. 20). Damit enden die gesegneten und wichtigen Belehrungen unseres Herrn, in denen Er verkündete, daß der Tag des äußeren Formenwesens vorbei war. Jetzt ging es um den wahren Zustand des Menschen in den Augen Gottes. Das stellte Er mit größtmöglicher Klarheit vor die Jünger, welche es trotzdem nicht verstanden. Das sollten wir wirklich gut bedenken.

Danach sehen wir unseren Herrn sich einem anderen Gegenstand zuwenden. Er verließ diese Schriftgelehrten und Pharisäer und ging in die Gegenden von Tyrus und Sidon, das heißt, zur äußersten Grenze des Heiligen Landes und zu jenen besonderen Landstrichen, welche der ausdrückliche Schauplatz des Gerichts Gottes sind. In Kapitel 11 bezog sich der Herr auf sie und sagte, daß es Tyrus und Sidon am Tag des Gerichts erträglicher ergehen wird als den Städten, wo Seine mächtigen Wunderwerke geschehen waren. Tyrus und Sidon waren sprichwörtlich als Denkstätten der Rache Gottes unter den Nationen. Dort begegnete unser Herr einer Kanaaniterin, die aus jenen Gegenden kam. Wenn irgendein Volk in diesen Gebieten ganz besonders unter dem Bann Gottes stand, dann Kanaan. „Verflucht sei Kanaan!“, sagte Noah. (1. Mose 9, 25). Welch ein tief verwerflicher Charakter wurde schon in dem jungen Kanaan sichtbar, der wohl seinen Vater bei seiner Bosheit gegen seinen Großvater Noah in besonderer Weise geführt hatte! „Verflucht sei Kanaan! ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern!“ So sollten auch die Kanaaniter beim Einzug Israels in das Land ohne Barmherzigkeit ausgerottet werden. Es waren Völker, deren Greuel bis an den Himmel reichten und nach Vergeltung seitens Gottes schrieen. Und jetzt kam aus jenem Gebiet des

Landes Kanaan diese Frau und rief Jesus an: „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! meine Tochter ist schlimm besessen.“ (V. 22). Wenn wir uns einen Fall vorzustellen hätten als das genaue Gegenteil des vorigen – nämlich der Begegnung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern voller Gelehrsamkeit und äußerlicher Ehrung des Gesetzes, die von Jerusalem kamen –, dann haben wir ihn in dieser armen Frau aus Kanaan.

Schon ihre Umstände waren schrecklich. Nicht nur daß sie in der Gegend von Tyrus und Sidon wohnte, welche das Gericht Gottes herausforderten – ein Dämon hatte ihre Tochter ergriffen! Alle diese Umstände zusammen machten diesen Fall verzweifelter als jeden anderen. Wie würde der Herr sie behandeln? Er wechselte beim Umgang mit ihr gänzlich Sein übliches Verhalten. Wir haben gesehen, wie die Juden „Heuchler“ genannt wurden. Ihr Gottesdienst war unerträglich für Gott. Dieses hatten ihnen schon ihre eigenen Propheten verkündet; denn wenn der Herr jene Männer als Heuchler darstellte, dann geschah es durch die Worte ihres Propheten Jesaja. Jetzt kam jemand, den nicht das kleinste Band mit Israel verknüpfte. Früher war es sogar die Pflicht Israels gewesen, die Kanaaniter zu töten. Wie würde der Messias ihr begegnen? Sie schrie zum Herrn: „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! meine Tochter ist schlimm besessen. Er aber antwortete ihr nicht ein Wort“ (V. 22–23). Nicht ein Wort!

Warum? Sie befand sich auf völlig falschem Boden. Was hatte sie mit dem Sohn Davids zu tun? Wäre der Herr ihr als Sohn Davids begegnet, was hätte Er anders mit ihr tun können, als sie zur Hinrichtung führen zu lassen. Wäre Er ausschließlich der Sohn Davids gewesen – hätte Er ihr dann die Segnungen, die in Seinem Herzen waren, geben können? Sie wandte sich an Ihn, als gehörte sie zum auserwählten Volk und hätte Anrechte an Ihn als den Messias. Wurde irgendwo verheißen, daß der Messias die Kanaaniter heilen sollte? Kein Wort davon! Wenn der Messias als Sohn Davids kommen wird, gibt es keine Kanaaniter mehr. Lies Sacharja 14! Dort steht für die Zeit des Königtums unseres Herrn über die ganze Erde: „Es wird an jenem Tage kein Kanaaniter mehr sein im Hause Jehovas der Heerscharen.“ (Sacharja 14, 21). Somit wird klar, daß das Gericht, welches von Israel wegen seines fehlenden Vertrauens auf den Herrn nicht vollständig ausgeführt worden war, bald erfüllt wird, bevor der Sohn Davids Sein Erbe in Besitz nimmt. Diese Frau war hinsichtlich dieser Wahrheit ganz und gar verwirrt. Sie war davon überzeugt, daß Er weit mehr als der Sohn Davids war; sie wußte jedoch nicht, wie sie es ausdrücken sollte.

Ich denke, das gleicht in vieler Hinsicht dem Verhalten von Menschen heutzutage, welche wegen ihrer Sünden Angst haben. Sie versuchen es mit dem Gebet des Herrn („Vaterunser“) und bitten den Vater, ihnen ihre Sünden zu vergeben, wie auch sie es anderen gegenüber tun. Sie gehen zu Gott als ihrem Vater und bitten Ihn, sie als Seine Kinder zu behandeln. Dabei ist gerade diese Frage noch gar nicht entschieden. Sind sie überhaupt Kinder? Können sie sagen, daß Gott ihr Vater ist? Davor würden sie zurückscheuen. Sie verlangen danach mit äußerstem Ernst; doch sie fürchten, daß es nicht so ist. Das bedeutet: Sie haben kein Recht vor Gott auf dem Boden einer Beziehung zu nahen, von der sie gar nicht wissen, ob sie überhaupt besteht. Wenn Menschen auf diese Weise verwirrt sind, erhalten sie nie vollkommenen Frieden für ihre Seelen. Einmal hoffen sie, Kinder Gottes zu sein; ein anderes Mal befürchten sie das Gegenteil, indem sie das Böse in ihnen selbst empfinden und niedergedrückt werden. Das liegt daran, daß sie ihre Lage überhaupt nicht verstehen. Es ist völlig richtig, daß sie sich zu Gott wenden; aber sie wissen nicht wie. Sie wollen nicht in all ihrer Not, so wie sie sind, zu Gott gehen und jeden Gedanken an empfangene Verheißungen und Ähnlichem aufgeben. Das erklärt den Fehler ängstlicher Seelen, die Gott auf dem Boden von Verheißungen suchen. Es wird viel davon gesprochen, daß Sünder die Verheißungen für sich in Anspruch nehmen sollen. Aber haben sie denn wirklich irgendein Recht dazu? Wem wurden sie gegeben? Im Alten Testament Israel, im Neuen den Christen! Du bist jedoch kein Israelit und auch nicht sicher, ob in dem genannten Sinn ein Christ? Kein Wunder, wenn du verwirrt bist.

Es ist für eine Seele gut, wenn sie zu dem Punkt gelangt, daß sie sagt: „Ich habe überhaupt kein Recht auf irgend etwas von Seiten Gottes. Ich bin ein verlorener Sünder.“ Wenn Gott alles von einem Menschen abstreift, worauf er kein Recht hat, und ihn von allem löst, dann will Er ihm einen Segen geben, wozu nur Er, Gott, ein Recht hat, ihn mitzuteilen. Die Menschen vergessen, daß es in unserer Zeit um die Gerechtigkeit Gottes geht. Gott hat das Recht durch Christus Jesus zu segnen entsprechend all dem, was in Seinem Herzen ist. Der Mensch hat keine Rechte; die Sünde hat sie vernichtet. Das Kreuz ist dazwischengetreten. Die Menschen sind verloren. Sie fürchten sich jedoch, den wahren Ruin zu bekennen, in dem sie sich vorfinden. Mit dieser Gesinnung mußte sich der Herr bei der armen kanaanäischen Frau beschäftigen. Er mußte sie zu der Erkenntnis führen, daß sie kein Recht auf die Verheißungen hatte. Als Sohn Davids besaß Er Verheißungen. Er sollte allen möglichen Segen für Israel bewirken. Doch gab es Verheißungen für die Kanaaniter? So konnte der Herr auf der Grundlage der Verheißung und als Sohn Davids der Frau nicht geben, um was sie bat. Das verstand sie nicht. Sie dachte, daß, wenn ein Israelit den Boden der Verheißung betreten dürfe, dies auch für sie gelte. Das ist jedoch ein Irrtum. „So viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm ist das Ja und in ihm das Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns.“ (2. Korinther 1, 20). Wer sind diese „uns“? Wir, die wir den Herrn Jesus besitzen! Indem wir Christus ohne Verheißungen empfangen haben, besitzen wir in Ihm einen Christus, in dem alle Verheißungen Gottes Ja und Amen sind. Wir kamen zu Ihm als nackte und bloße Sünder ohne die geringste Hilfe durch eine Verheißung. Nachdem wir jedoch als Sünder Christus angenommen haben, finden wir, daß in diesem Gesegneten alle Verheißungen Gottes unser sind. Aber als wir Ihn fanden, waren wir verlorene Sünder; und es gibt keine Verheißungen für verlorene Sünder. Keine Seele hat das Recht auf Verheißungen, bevor sie Christus annimmt. Erst wenn wir Christus besitzen, sind alle Verheißungen unser Teil. Genauso wird Gott bald mit Israel handeln. Das geschieht nicht aufgrund irgendeines Rechts, das es beanspruchen könnte. Unter der Zulassung Gottes hat das Volk jedes Anrecht durch die Verwerfung Christi verwirkt. „Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige. O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!“ (Römer 11, 32–33).

Die arme Frau schloß so durch ihre Anrede jede Antwort aus. Hätte der Herr zu ihr gesprochen, dann nur in Form einer Zurechtweisung. Gnade und Zartheit ließen Ihn schweigen. Er blieb stumm, bis sie den Boden aufgab, den sie zuerst einnahm. Doch die Jünger schwiegen nicht. Sie wollten die Frau mit ihrer Zudringlichkeit los sein. Ihre Belästigung störte sie. Sie „traten herzu und baten ihn und sprachen: Entlaß sie, denn sie schreit hinter uns her.“ (V. 23). Der Herr bestätigte jedoch, was wir schon über die Verkehrtheit ihrer Bitte angeführt haben. Er sagte sozusagen: „Sie gehört nicht zum Haus Israel. Ich kann ihr keine Segnung auf der Grundlage geben, die sie eingenommen hat. Ich will sie aber nicht ohne Segen weggehen lassen.“ Er vertrat die besonderen Vorrechte der Schafe des Hauses Israel; und sie war kein Schaf. Auf diesem Boden konnte sie den Segen nicht empfangen. „Er aber antwortete und sprach: Ich bin nicht gesandt, als nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ (V. 24).

Dann trat die Kanaaniterin herzu, „warf sich vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!“ (V. 25). Sie ließ die Worte „Sohn Davids“ weg. Sie benutzte nicht länger den Titel, der Ihn mit Israel verband, sondern erkannte Seine Autorität in allgemeinerer Weise an. Jetzt antwortete Er, obwohl sie noch nicht weit genug in ihren Augen hinabgestiegen war. Als sie Ihn als Herrn ansprach – ein angemessener Titel – antwortete Er: „Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hündlein hinzuwerfen.“ (V. 26). Nachdem diese Worte ausgesprochen waren, wurde das ganze Geheimnis enthüllt. „Ja, Herr“, sagte sie, „denn es essen ja auch die Hündlein von den Brosamen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen.“ (V. 27). Sie nahm den Platz eines Hündleins an. Sie gab zu, daß Israel in den äußeren Wegen Gottes das begünstigte Volk war und als Kinder das Brot des Tisches aßen, während die Heiden nur wie Hunde unter dem Tisch angesehen wurden. Sie erkannte es an; und das war sehr demütigend. So etwas gefällt den Menschen nicht. Sie wurde jedoch zu diesen Punkt gebracht. Manchmal muß der Herr auch uns bis in die größten Tiefen der Erkenntnis der Wahrheit über uns selbst führen, damit Er uns größere Segnungen schenken kann. Gibt es keinen Segen für Hunde? Sie warf sich auf diese Wahrheit: Wenn ich auch ein Hündlein bin – hat Gott keinen Segen für mich? Keine Phantasie hätte an Verheißungen für Hunde gedacht. Dennoch nahm sie diese Stellung ein. Als sie zu ihrem wahren Platz gebracht worden war, gab der Herr ihr den vollen Segen. Er begegnete ihr mit Worten stärkster Anerkennung für ihren Glauben. „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst.“ (V. 28). Nachdem Er Sein Urteil über die Nation der Juden, welche aus Heuchler bestand, verkündet hatte, ging Er hinaus zu den Nationen. Dort begegnete der Glaube der reichsten Barmherzigkeit. Nur ein Glaube, der alle äußeren Umstände durchbricht und die Entdeckung macht, daß wir den tiefsten Platz, den wir einnehmen sollten, noch nicht erreicht haben, empfängt Segnungen, die höher und dauerhafter sind als alle früheren. Die arme Frau wurde bis zu den Grenzen der Fassungskraft ihres Herzens gesegnet. „Dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter war geheilt von jener Stunde an.“ Das war Gnade – eine Gnade, die sich mit dem extremsten Fall eines Heiden unter einem besonderen Fluch befaßte und die das Herz des Herrn erfüllte, nachdem Er sich von Israel abwenden mußte.

Wir finden jedoch in unserem Kapitel noch mehr. Hier sehen wir nicht den Herrn, wie Er sich auf den Berg zurückzieht, nachdem Er die Volksmenge gespeist hat (Kap. 14), sondern wie Er sie in unumschränkter Güte vom Berg herab segnet. „Jesus ging von dannen hinweg und kam an den See von Galiläa; und als er auf den Berg gestiegen war, setzte er sich daselbst.“ (V. 29). Nachdem der Herr die Nationen besucht hatte, kamen die Volksmengen zu Ihm. „Große Volksmengen kamen zu ihm, welche Lahme, Blinde, Stumme, Krüppel und viele andere bei sich hatten, und sie warfen sie ihm zu Füßen; und er heilte sie, sodaß die Volksmengen sich verwunderten, als sie sahen, daß Stumme redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme wandelten und Blinde sahen; und sie verherrlichten den Gott Israels.“ (V. 30–31). Das ist wieder ein Bild von Israel, das seinen wahren Zustand fühlt. Sie traten zu Jesus, blickten auf Ihn und sagten sozusagen: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Bald sollten sie es wirklich ausrufen. (Matthäus 21, 9). Im 23. Kapitel (V. 39) kündigte der Herr an: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Was sie in Jesus erkannten, veranlaßte sie, den Gott Israels zu verherrlichen. Diesen Charakter haben die Beziehungen des Herrn zu Seinem Volk. Die Menschen nahten Ihm jetzt nicht voll Opposition, sondern als eine arme, lahme, blinde und elende Volksmenge; und der Herr heilte sie alle. Doch Er heilte nicht nur, sondern Er speiste sie auch. So lesen wir hier vom schönen zweiten Wunder einer Brotvermehrung.

Beachten wir allerdings die Unterschiede! Im ersten Fall wollten die Jünger die Volksmenge wegschicken; und der Herr ließ zu, daß sie ihren Unglauben offenbarten. Im jetzigen Ereignis denkt Christus an die Volksmenge und will sie segnen. „Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge“, sagt Er, „denn schon drei Tage weilen sie bei mir und haben nichts zu essen; und ich will sie nicht entlassen, ohne daß sie gegessen haben, damit sie nicht etwa auf dem Wege verschmachten.“ (V. 32). Erinnern wir uns, daß in Hosea 6, 2 gesagt wird: „Er wird uns nach zwei Tagen wieder beleben, am dritten Tag uns aufrichten; und so werden wir vor seinem Angesicht leben.“ Das ist die angemessene Zeit der Erprobung des Volkes. Dem Buchstaben nach war es die Zeit, in der Christus im Grab lag. Sie steht jedoch auch in Verbindung mit der zukünftigen Segnung Israels. „Ich will sie nicht entlassen, ohne daß sie gegessen haben, damit sie nicht etwa auf dem Wege verschmachten. Und seine Jünger sagen zu ihm: Woher nehmen wir in der Einöde so viele Brote, um eine so große Volksmenge zu sättigen?“ Nur langsam lernten sie die Hilfsquellen Christi kennen, so wie früher die Nutzlosigkeit des Menschen. „Jesus spricht zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? Sie aber sagten: Sieben, und wenige kleine Fische.“ (V. 34). Hier lesen wir nichts von fünf Broten und zwölf Körben voll Brocken. Statt dessen haben sie zu Anfang sieben Brote und am Ende sieben volle Körbe. Die „Sieben“ stellt in der Bibel immer die Zahl einer geistlichen Vollkommenheit dar. In diesem Ereignis soll sie die Fülle, mit welcher der Herr Seinen Segen zu Seinem Volk ausfließen läßt – die Fülle der Vorsorge, die es in Ihm hat – kennzeichnen. „Er nahm die sieben Brote und die Fische, dankte und brach und gab sie seinen Jüngern, die Jünger aber gaben sie den Volksmengen.“ (V. 36). Könnte jemand bezweifeln, daß dies ein Bild von dem Herrn ist, wie Er die Juden ausreichend versorgt? Wie Er sich um das geliebte Volk Seiner Wahl kümmert, das Er niemals lassen kann und dem Er Seine Verheißungen erfüllen muß, weil Er der treue Gott ist? Unser Herr sorgte aus Seinem Herzen heraus vollständig für die Erquickung, sogar für eine irdische Erquickung, Seines Volkes. Das entspricht dem Charakter des Tausendjährigen Reiches, wenn nicht nur die Seele gesegnet wird, sondern auch jede andere Art von Barmherzigkeit überfließt. Gott befreit dann Seine Erde aus der Hand Satans, der sie so lange beschmutzt hat. Sogar hienieden wird das göttliche Mitgefühl gegen die Menschen ausströmen und alle ihre Bedürfnisse stillen. In den sieben Broten vor dem Essen und den sieben Körben voll eingesammelter Brocken danach erkennen wir den Gedanken der Vollständigkeit. Bei Gott ist ein ausreichender Vorrat für die Gegenwart sowie auch für jeden zukünftigen Mangel.

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