Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 7

Wir erreichen jetzt einen ganz besonderen Abschnitt der Predigt unseres Herrn. Hier geht es nicht so sehr darum, die rechten Beziehungen einer Seele zu Gott, unserem Vater, zur Geltung zu bringen, d. h. um das verborgene, innere Leben eines Christen. Wir sehen die wechselseitigen Beziehungen der Jünger untereinander, ihr Verhalten gegen die Menschen, die verschiedenen Gefahren, die sie zu fürchten haben, und vor allem das sichere Verderben einer jeden Seele, die den Namen Christi nennt und Seine Worte hört, aber nicht entsprechend handelt. Der Weise hört und handelt danach. Damit schließt das Kapitel. Ich möchte ein wenig bei diesen verschiedenen Punkten der Belehrung, die unser Herr vor uns stellt, verweilen. Natürlich kann ich unmöglich ausführlich auf alles eingehen; denn, ich brauche es kaum zu sagen: Die Aussprüche unseres Herrn sind einzigartig gekennzeichnet durch die Bedeutungsfülle der in ihren enthaltenen Gedanken. In keinem Teil des Wortes Gottes ist ihre charakteristische Tiefgründigkeit klarer zu erkennen als hier.

Bisher hatte der Herr Jesus ausführlich gezeigt, daß wir als Kinder unseres Vaters in Gnade handeln sollen. Doch das bezog sich vor allem auf die Welt, auf unsere Feinde und Menschen, die uns unrecht tun. Nun blieb eine ernste praktische Schwierigkeit übrig. Damit beginnt unser Kapitel. Nehmen wir an, unter denen, welche Unrecht tun, befinden sich solche, die den Namen Christi tragen - was dann? Was sollen wir von ihnen halten, wie mit ihnen umgehen? Zweifellos besteht da ein Unterschied, und zwar ein schwerwiegender. Eines müssen wir jedoch unbedingt beachten, bevor wir uns mit dem Verhalten anderer beschäftigen. Wir haben uns vor dem Richtgeist in uns selbst zu hüten, nämlich der Gewohnheit oder Neigung in dem, was wir nicht wissen oder sehen, böse Beweggründe vorauszusetzen. Welch ein Fallstrick für das Herz des Menschen darin liegt, ist uns allen bekannt. Das gilt insbesondere für diejenigen, die ihren menschlichen Charaktereigenschaften nach und durch Unwachsamkeit diese Angewohnheit pflegen. Einige haben mehr Unterscheidungsvermögen als andere; darum sollten sie besonders wachsam gegen die erwähnte Gefahr sein. Das heißt nicht, die Augen vor dem Bösen zu verschließen. Sie sollen jedoch kein Unrecht vermuten, wo nichts enthüllt ist, und nicht über den von Gott geoffenbarten Augenschein hinausgehen. Dies ist ein sehr wichtiges praktisches Schutzmittel, ohne welches wir unmöglich nach den Gedanken Gottes miteinander verkehren können. Die Menschen mögen jeder für sich als Einzelpersonen zusammen sein, ohne wirkliches Mitgefühl zu haben oder die Kraft zu besitzen, auf die Sorgen, Schwierigkeiten, Versuchungen oder sogar das Böse bei anderen eingehen zu können. Dabei erheben gerade diese Probleme Ansprüche an das Herz eines Jüngers. Sogar das Falsche sollte jene Liebe hervorrufen, die erkennt, wie wir in gottgemäßer Weise mit dem, was gegen Gott ist, handeln müssen; denn das Wesen der Liebe besteht darin, ohne Rücksicht auf sich selbst Gutes für den geliebten Gegenstand zu suchen. Dem mag die Bitterkeit der Erkenntnis folgen, daß wir nicht wiedergeliebt werden. Der Apostel Paulus kannte diese Enttäuschung. Er erfuhr sie schon in jener frühen Zeit von Seiten wahrer Christen, ja, von Christen, die in einzigartiger Weise mit dem Geist Gottes ausgerüstet waren. (2. Korinther 12,15). Dennoch gefiel es Gott, uns diese ernsten Lehren mitzuteilen, damit wir erkennen, was das menschliche Herz - sogar in den Heiligen Gottes - ist.

Unter allen Umständen ist die folgende große Wahrheit für das Gewissen verpflichtend: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ (V. 1). Andererseits kann kein anderer Grundsatz leichter durch die Selbstsucht des Menschen mißbraucht werden. Wenn jemand einen bösen Weg geht und diesen Vers benutzt, um das Recht zur Prüfung seines Verhaltens seitens anderer Brüder zu leugnen, dann verrät er einen Mangel an Gewissen und geistlichem Verständnis. Seine Augen sind vom eigenen Ich geblendet; und er verkehrt die Worte des Herrn in eine Entschuldigung für Sünde. Der Herr will keineswegs ein heiliges Urteil über das Böse abschwächen. Im Gegenteil, zur passenden Zeit bindet Er die folgenden Worte ernst auf das Gewissen Seines Volkes: „Richtet ihr nicht, die drinnen sind?“ (1. Korinther 5,12). Der Fehler der Korinther bestand darin, daß sie jene nicht richteten, die in ihrer Mitte waren. Folglich ist klar, daß es Situationen gibt, in denen ich richten soll, und andere, in denen ich es nicht soll. In einigen Fällen bedeutet es Sünde gegen den Herrn, wenn ich nicht richte. In anderen verbietet der Herr das Richten, indem Er mich warnt, weil ich sonst ein Gericht über mich selbst bringe. Das ist eine ganz praktische Frage für den Christen: Wo habe ich zu richten und wo nicht? Was immer offen zutage tritt, was Gott dem Auge Seines Volkes zeigt - sei es durch eigenen Augenschein, sei es durch ein vertrauenswürdiges Zeugnis von anderen - soll es unbedingt richten. Mit einem Wort: Wir sind immer verantwortlich, das, was in den Augen Gottes anstößig ist, zu verabscheuen, mögen wir mittel- oder unmittelbar davon erfahren; denn „Gott läßt sich nicht spotten.“ (Galater 6,7). Deshalb sollen die Kinder Gottes sich nicht einfach durch gedankenlose Erfüllung von Aufforderungen des Wortes Gottes leiten lassen, aus welcher die listige Verschlagenheit des Feindes leicht Nutzen ziehen kann.

Was meint unser Herr, wenn Er sagt: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“? Er bezieht sich nicht auf das, was offen zutage liegt, sondern auf das Verborgene. Er spricht von dem, was vielleicht da ist, aber nach dem Wunsch Gottes noch nicht vor den Augen Seines Volkes enthüllt. Wir sind nicht verantwortlich, das zu richten, von dem wir nichts wissen. Im Gegenteil, wir sollen uns vor dem Geist hüten, der schnell Arges unterstellt. Böses übelster Art mag vorliegen wie in dem Fall des Judas. Unser Herr sagt von ihm: „Von euch ist einer ein Teufel“ (Johannes 6,70); und trotzdem läßt Er Seine Jünger in Hinsicht auf die Einzelheiten absichtlich im Ungewissen. Beiläufig möchte ich darauf hinweisen, daß uns nur das Johannesevangelium zeigt, wie die Kenntnis unseres Herrn über Judas Iskariot Seiner göttlichen Person entspricht. Er wies, lange bevor irgend etwas offenbar wurde, auf das Böse in Judas hin. In den anderen Evangelien bleibt alles verhüllt bis zum Abend Seines Verratenwerdens. Johannes erinnerte sich jedoch unter der Leitung des Heiligen Geistes, was der Herr ihnen von Anfang an gesagt hatte. Obwohl  Er es wußte, mußten  die Jünger sich auf Sein Wissen verlassen. Wenn der Herr Judas ertrug, sollten sie es dann nicht auch? Da Er ihnen keine Anweisungen gab, wie sie sich dem Bösen gegenüber verhalten sollten, hatten sie zu warten. Das ist immer die Hilfsquelle des Glaubens, der niemals eilt, insbesondere nicht in einem so ernsten Fall. „Wer glaubt, wird nicht ängstlich eilen.“ (Jesaja 28,16). Wir sollen uns nicht über Ungewisses beunruhigen. Vor Gott ist alles offen; Er hat alles in Seiner Hand; und wir dürfen auf Ihn vertrauen. Für uns heißt es, geduldig zu warten, bis die Zeit des Herrn gekommen ist, um sich mit dem zu beschäftigen, was Ihm widersteht. Der Herr gab Judas die Gelegenheit, sich vollständig zu entlarven. Danach blieb es keine Frage mehr, wie der Verräter behandelt werden mußte.

Gewisse Fälle des Bösen haben wir zu richten; andere Probleme sollen nicht von der Kirche (Versammlung) gelöst werden. Nicht jene Menschen, die hinausgetan werden, sind die Schlimmsten, sondern die freiwillig weggehen. Ihnen ist sogar auf der Erde die Gegenwart des Herrn unerträglich. Könnte etwas einen Menschen mehr verurteilen? Natürlich kann im Himmel nichts Böses in der Gegenwart des Herrn bestehen. Das gilt auf Dauer auch für diese Zeit auf der Erde. „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn wenn sie von uns gewesen wären, so würden sie wohl bei uns geblieben sein; aber auf daß sie offenbar würden, daß sie alle nicht von uns sind“ (1. Johannes 2,19). Solche werden als Antichristen bezeichnet. Sie waren nicht einfach sittlich böse, sondern sie widerstanden Christus und griffen so die Grundlagen der ewigen Wahrheit an. „Sie sind von uns ausgegangen.“  Christus beschäftigt sich also mit allem, welches sich ausdrücklich gegen Seine persönliche Herrlichkeit richtet. Natürlich gibt es Personen wie im 2. Johannesbrief, mit denen sich auch die Heiligen befassen müssen. Doch im allgemeinen finden wir, daß solche weggehen. Gott zieht es vor, wenn ich so sagen darf, sich ihrer ohne unsere Mithilfe zu entledigen - sogar hier auf der Erde. Jene Bösen können die Gegenwart des Herrn nicht ertragen, obwohl letztere jetzt ausschließlich durch die Macht des Geistes Gottes in dieser Welt verwirklicht wird. Und dennoch - während es Fälle gibt, in denen die Heiligen richten, und andere, die dem Herrn vorbehalten sind - bleibt das Wort bestehen: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“  Wir sollen uns hüten, Beweggründe zu unterstellen oder ein Urteil über den wahren Zustand einer Person vor Gott zu fällen.

Achten wir darauf, Gott nicht vorzugreifen, sonst finden wir uns im Detail oder vielleicht sogar grundsätzlich im Gegensatz zu Ihm! Wir sollen ein geknicktes Rohr nicht zerbrechen (vgl. Matthäus 12,20!), indem wir uns verbitterten persönlichen oder Parteigefühlen hingeben. Welch eine Gefahr liegt darin! In unausweichlicher Folge eines Richtgeistes werden wir selbst gerichtet. Eine tadelsüchtige Seele steht im allgemeinen in schlechtem Ruf. „Mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“ (V. 2). Dann stellt der Herr einen besonderen Fall vor. „Was aber siehst du den Splitter, der in deines Bruders Auge ist, den Balken aber in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“ (V. 3). Das besagt: Dort, wo eine Neigung zum Richten besteht, liegt oft etwas noch Schlimmeres zugrunde. Wenn gewohnheitsmäßig Böses im Geist eines Namenschristen oder Erlösten Gottes nicht gerichtet wird, verfällt er in Unruhe und möchte auch anderen Falsches nachweisen. „Oder wie wirst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge?“ (V. 4). Der Splitter ist natürlich klein; aber es wird viel Wirbel darum gemacht, ohne den riesigen Balken zu beachten. Der Herr stellt hier auf nachdrücklichste Weise Seine Wahrheit und die Gefahr eines mißtrauischen, richterlichen Geistes heraus. Er zeigt auch, daß wir nur dann zum Nutzen Seines Volkes und zu seiner Befreiung vom Bösen wirken können, indem wir mit Selbstgericht beginnen. Wenn wir wirklich den Splitter aus dem Auge unseres Bruders ziehen wollen, wie kann das geschehen? Laßt uns zuerst unsere eigenen schweren Mängel, die wir so wenig erkennen, in Ordnung bringen und bekennen! Dieses Selbstgericht entspricht dem Geist Christi. Wie handelt Er? Sagt Er von dem Splitter in dem Auge unseres Bruders: „Bringe ihn vor die Richter!“ Keineswegs! Du hast dich selbst zu prüfen. Du sollst bei deiner eigenen Seele anfangen. Vorausgesetzt, ich richte zuerst das Böse, welches mein Gewissen kennt oder welches ich, da es meinem Gewissen noch unbekannt ist, in der Gegenwart Gottes erfahre - dann erst sehe ich klar in Hinsicht auf andere. Mein Herz ist zubereitet, um auf ihre Umstände einzugehen, und das Auge frei von dem, was das Herz fehlleiten oder unfähig machen könnte, mit Gott in dieser Sache zu empfinden. „Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen.“ (V. 5). Dem Grundsatz nach können wir diese falsche Gesinnung auch in einem Gläubigen antreffen, obwohl der Herr, wenn Er „Heuchler“  sagt, auf dieses Übel in seiner vollständig ausgeprägten Form anspielt. Wir finden es jedoch in einem gewissen Grad auch in uns. Und was könnte der Einfalt und frommen Aufrichtigkeit mehr im Weg stehen? Der Herr zeigt, daß eine solche Einstellung zum hassenswertesten Bösen führt, das unter dem Namen Christi gefunden werden kann, nämlich der Heuchelei. Selbst das natürliche Gewissen verabscheut dieselbe und lehnt sie ab. „Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus deines Bruders Auge zu ziehen.“  Wie oft entdeckten wir, daß nach Entfernung des Balkens der Splitter nicht mehr zu sehen war, indem er von selbst verschwand. Das ist ein großer Trost. Sind wir, wenn unser Herz allein auf Christus gerichtet ist, betrübt darüber, daß wir uns bezüglich unseres Bruders geirrt haben? Sollte ich mich nicht freuen, die Gnade des Herrn in meinem Bruder zu erkennen, nachdem ich im Selbstgericht entdeckt habe, daß ich es war, der nicht richtig stand? Das mag für uns schmerzlich sein; aber die Liebe Christi im Herzen des Gläubigen freut sich darüber, daß Christus nicht auch noch durch meinen Bruder verunehrt wurde.

Das ist also der erste große Grundsatz, den der Herr uns hier einschärft. Wir sollen uns ernstlich vor der Gewohnheit des Richtens hüten, und zwar weil sie nicht nur Bitterkeit über die Seele dessen bringt, der ihr frönt, sondern sie auch unfähig macht, sich in rechter Weise mit anderen zu beschäftigen. Denn wir sind in den Leib Christi versetzt, wie uns Paulus zeigt, um einander zu helfen. Wir alle sind Glieder voneinander. (1. Korinther 12). Der Herr prägt uns hier den Geist der Gnade ein, der das Gute für andere sucht, auch wenn es mit Selbstverurteilung verbunden ist.

Es gibt indessen noch eine andere Gefahr. Indem wir uns vor einem vorschnellen und harten Urteil hüten, wird vielleicht die Gnade mißbraucht. Darum verbindet der Herr das vorherige unmittelbar mit den folgenden Worten: „Gebet nicht das Heilige den Hunden; werfet auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie dieselben nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.“ (V. 6). Wir müssen sorgfältig beachten, daß der Herr hier nicht von dem Evangelium an die Sünder spricht. Gott verhüte, daß wir die Gnade Gottes  nicht in jede Gegend unter den Himmel tragen; denn nichts Geringeres sollte das Verlangen und die Bemühung eines Erlösten Gottes ausmachen! Das gilt für jeden. Wir sollen den Geist einer aktiven Liebe in uns haben, der anderen nachgeht, und ein energisches Verlangen nach dem Heil und dem Segen von Seelen. Es wäre allerdings ein trauriges Zukurzkommen, wenn wir uns damit zufrieden gäben, Seelen zu Christus zu führen. Der einzige Gedanke, der eines Christen würdig ist, sucht die Verherrlichung Christi. Deshalb sollten wir danach streben, in Christus in allem heranzuwachsen und den Willen Gottes zu erkennen und zu tun. In unserem Vers spricht der Herr nicht von dem Evangelium, das unterschiedslos verkündigt werden soll; denn wir wissen, daß, wenn es einen Unterschied gibt, er allein darin besteht, daß das Evangelium am besten auf jene paßt, die „Hunde“ gewesen sind. In der Sprache der Juden beinhaltet dieses Wort alles, was abscheulich ist. „Solches sind euer etliche gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden in dem Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.“ (1. Korinther 6,11). Der Apostel hatte gerade vorher von Dieben, Trunkenbolden, Habsüchtigen, usw. gesprochen. Wir mögen vielleicht fragen: Ist die Verderbtheit des einen nicht größer als die des anderen? Von einem irdischen Standpunkt aus - natürlich, in jeder Hinsicht! Doch Gott macht bei der Errettung von Seelen nicht solche Unterschiede. So waren nach den Worten des Apostel Paulus auch gläubige Juden früher „Kinder des Zorns ..., wie auch die übrigen.“ (Epheser 2,3). Unter ihnen mag es hochsittliche Charaktere gegeben haben. Erleichterte dies ihnen die Annahme der Gnade Gottes? Ach, nichts ist gefährlicher, als daß die Seele eine Selbstrechtfertigung in sich selbst findet. Für einen solchen Menschen ist es schwer, sich der Wahrheit zu beugen, daß er nur auf dem Boden eines Zöllners und Sünders in den Himmel kommen kann. Es muß jedoch so sein, wenn die Seele Errettung von Gott durch den Glauben an Jesus empfangen will.

Der Herr verbietet also keineswegs, das Evangelium in jede Gegend der Welt zu tragen. Er spricht jedoch von den Beziehungen Seines Volkes zu jenen, die unheilig wandeln. Der Christ soll sich nicht so verhalten, als stände er mit einem weltlichen Menschen auf gemeinsamem Boden. Er darf die besonderen Schätze, die das Teil eines Christen ausmachen, nicht vor ihm ausbreiten. Das Evangelium soll verschwenderisch ausgestreut werden; es enthält die Reichtümer der Gnade Gottes an die Welt. Aber neben dem Evangelium gibt es noch weitere Wahrheiten wie die von den besonderen Zuneigungen Christi für die Kirche (Versammlung), von der Herrschaft des Herrn über Seine Knechte, von Seinem Priestertum, von der Hoffnung Seines Wiederkommens, usw.

Wenn du über diese Dinge, die wir vielleicht die Perlen der Heiligen nennen dürfen, mit offensichtlichen Nichtchristen sprichst, stehst du auf falschem Boden. Falls du in weltlicher Gesellschaft auf die Erfüllung der Pflichten eines treuen Gläubigen beharrst - gibst du dann nicht das Heilige den Hunden? Für die Hunde wird barmherzig gesorgt; sie bekommen die Brosamen, die von den Tischen der Herren fallen (Matthäus 15,27). Und darin liegt die große Gnade Gottes, daß die „Brosamen“, die einst für uns - die armen „Hunde“ aus den Heiden, die wir waren - auf die Erde fielen, sich als das Beste von allem erwiesen. Was ist mit dem zu  vergleichen, was jetzt der Gnade Gottes entströmt? Welche Wohltaten auch immer den Juden verheißen waren, die Gnade Gottes hat im Evangelium vollkommenere Segnungen enthüllt, als sie jemals für Israel vorhergesagt wurden. Was sind die zukünftigen Erfahrungen Israels im Vergleich zu der mächtigen Befreiung Gottes, die  wir jetzt kennen? Wir durften erleben, wie wir in einem Augenblick vollständig von jeder Sünde gereinigt wurden und sofort und für immer in Christus die Gerechtigkeit Gottes geschenkt bekamen. Außerdem dürfen wir durch einen zerrissenen Vorhang Gott als unserem Vater nahen und sind durch das Wohnen des Heiligen Geistes in uns zu Seinem Tempel gemacht worden. Der Herr selbst sagte zu der Frau von Samaria: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest, und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ (Johannes 4,10). Überall wo Christus angenommen wird - wer immer es auch sei -, folgt die Fülle der Segnung. Wir müssen noch nicht einmal zum Brunnen gehen, denn die Quelle ist in jedem Gläubigen. „Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt.“ (Johannes 4,14). So dürfen wir in vielen Worten Gottes sehen, wie weitreichend und vollkommen Seine Gnade ist. Dennoch verbietet es uns, gewisse Wahrheiten wahllos unter weltliche Personen auszubreiten, da sie für letztere nicht bestimmt sind.

Jedes Werk, das Gemeinschaft zwischen Gläubigen und Ungläubigen voraussetzt, ist falsch. Nimm zum Beispiel die Anbetung! Wird nicht alle Art von religiöser Verehrung Anbetung genannt? Dabei setzt sie doch eigentlich Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und untereinander voraus. In der gebräuchlichen Form des Gebets besteht notwendigerweise keine wirkliche Gemeinschaft. Tatsächlich kümmern sich die evangelischen Christen im allgemeinen nur wenig um die Gebete. Sie lassen sie vielmehr über sich ergehen, weil sie die Predigt hören wollen. Ein System, das vorgibt, auf der Grundlage einer einfachen Zeremonie alle einer Wiedergeburt teilhaftig werden zu lassen, vereinigt Gläubige und Ungläubige zu einem gemeinsamen Ritus und nennt diesen Anbetung. Das ist ein Werfen des Heiligen vor die Hunde. Ist es nicht ein schlecht verhüllter Versuch, die „Schafe“ und „Hunde“ auf denselben Boden zu stellen? Aber vergeblich! Wir können nicht vor Gott die Feinde Christi und Seine Erlösten vereinigen. Wir können nicht jene, die Leben empfangen haben, und solche, die es nicht besitzen, zu  einem Volk vermengen. Jeder Versuch in dieser Hinsicht ist Sünde. Er endet immer in Mißerfolg und Enttäuschung sowie einer Verunehrung des Herrn. Alle Bemühungen um eine Anbetung dieses gemischten Charakters gehört zum Thema des sechsten Verses.

Andererseits ist eine Predigt des Evangeliums getrennt von Anbetung immer richtig und gesegnet. Wenn der Tag des Gerichts über diese Welt hereinbricht, wo fällt dann der schlimmste Schlag? Nicht auf die offen gottlose Welt, sondern auf Babylon, weil Babylon eine Vermengung der Dinge Christi mit dem Bösen darstellt. Es versucht, eine Gemeinschaft zwischen Licht und Finsternis möglich zu machen. In dieser Hinsicht sind wir verantwortlich, wie der Apostel sagt: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf daß ihr nicht empfanget von ihren Plagen.“ (Offenbarung 18,4). Für Gott geht es insbesondere um die Teilnahme an ihren Sünden. Das ist die Akzeptanz eines gemeinsamen Bodens, auf dem sich Kirche und Welt vereinigen können. Dagegen besteht die Absicht Gottes, für die Christus starb, darin, ein für Ihn abgesondertes Volk zu besitzen. Schon durch seine Weihe für Gott sollte es ein Licht in dieser Welt sein und nicht ein Zeugnis des Stolzes, welcher sagt: „Nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig!“ (Jesaja 65,5). Es soll ein Brief Christi sein, welcher der Welt kundtut, wo das lebendige Wasser zu finden ist, und alle bitten: „Komm! ... Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ (Offenbarung 22,17). Das Licht Christi, welches die Kirche zurückstrahlt, bescheint das lebendige Wasser, das Christus denen gibt, die es wollen. Nur dort, wo wir nicht die Religion der Welt mit der Anbetung, die von Seinem Volk zu Gott aufsteigt, verwechseln, finden wir die wahre Grenzlinie zwischen Fällen, in welchen wir richten sollen und in welchen nicht. Dort finden wir einen wirksamen Dienst des Evangeliums an die Welt und außerdem eine sorgfältige Absonderung der Kirche (Versammlung) von derselben. Das gilt auch für mich persönlich. Selbst wenn es nur einen einzigen Gläubigen an einem bestimmten Ort geben sollte, darf er seine Perlen nicht vor die Schweine werfen; und wenn dort eine Versammlung besteht, dann hat sie gemeinschaftlich gegen diesen Fehler zu wachen.


Welch eine Erprobung des Herzens! So dürfen die Gläubigen auch aus dem Wort Gottes Nutzen ziehen, welches sagt: „Wenn aber jemand von den Ungläubigen euch einladet, und ihr wollt hingehen“, usw. (1. Korinther 10,27). Aber achte darauf, wie du hingehst und zu welchem Zweck! Wenn im Selbstvertrauen, wirst du Christus nur verunehren! Wenn du den Besuch genießen willst, so ist das ein armseliger Beweggrund. Wenn du anderen damit eine Freude machen willst, dann ist das Motiv kaum besser. Falls du jedoch wirklich Gott dort dienen willst und deinen Nächsten zu seinem Besten belehren möchtest, dann stelle dich auf Herzensübungen verbunden mit Zurückhaltung und Gott gemäßer Furcht ein, damit du nicht den lebendigen Gott, der ein verzehrendes Feuer ist, vergißt. Auch im Umgang mit uns bleibt Er derselbe. Laßt uns Ihm dafür danken! Er schont bei uns das Böse nicht, folglich sollen auch wir es nicht schonen. Es mag Anlässe geben, zu denen die Liebe Christi eine Seele drängt, in eine weltliche Gesellschaft zu gehen, um ein Zeugnis von Seiner Liebe abzulegen. Sobald wir jedoch erkennen, wie schnell Worte gesagt und Dinge getan werden, die Gemeinschaft mit dem, was Christus widerspricht, andeuten, folgt bei uns Furcht und Zittern. Wo allerdings Selbstvertrauen vorliegt, kann die Macht Gottes niemals wirken.

Nachdem der Herr dieses Thema, falsches Richten und den Mißbrauch der Gnade, beendet hat, zeigt Er die Notwendigkeit des Umgangs mit Gott. Letzterer steht ganz besonders in Verbindung mit dem schon Betrachteten. „Bittet, und es wird euch gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden.“ (V. 7). Hier lesen wir von unterschiedlichen Graden, einem zunehmenden Eifer des Bittens bei Gott. „Denn jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden.“ (V. 8). Zur Ermutigung gibt Er den folgenden Beweis: „Welcher Mensch ist unter euch, der, wenn sein Sohn ihn um ein Brot bitten würde, ihm einen Stein geben wird? und wenn er um einen Fisch bitten würde, ihm eine Schlange geben wird? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben  zu geben wisset, wieviel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!“ (V. 9-11).

Interessant ist der Unterschied zum Parallelvers in Lukas 11. Dort lesen wir nicht: „Gutes geben denen, die ihn bitten“, sondern: „Wieviel mehr wird der Vater, der vom Himmel ist, den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!“ (V. 13). Der Heilige Geist war noch nicht gesandt worden. Das heißt nicht, daß Er in dieser Welt nicht schon wirkte. Aber Er war noch nicht persönlich mitgeteilt worden, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. Die Bibel sagt dies ausdrücklich. So war es also durchaus richtig, in der Zeit, bevor Er vom Himmel her ausgegossen war, um die Gabe des Geistes zu beten. Da vor allem die Nichtjuden diesbezüglich unwissend waren, wird diese Wahrheit ausdrücklich im Lukasevangelium erwähnt, welches sich insbesondere an solche wendet. Denn wer könnte jenes Evangelium lesen, ohne überzeugt zu werden, daß es einfühlsam zu Menschen heidnischen Ursprungs spricht? Es wurde von einem Nichtjuden an einen anderen Nichtjuden geschrieben; und überall wird unser Herr als Sohn des Menschen dargestellt. Dieser Titel verbindet Ihn genaugenommen nicht mit der jüdischen Nation, sondern mit der ganzen Menschheit. Und der Mensch benötigt vor allem den Heiligen Geist, welcher damals kurz vor Seinem Kommen stand. In Ihm besitzen wir die große Kraft des Gebets, wie gesagt wird: „Betend im Heiligen Geist.“ (Judas 20). Der Evangelist Lukas wurde angeleitet, auf diese besondere „gute“ Gabe hinzuweisen, welche jeder Beter benötigt, um Kraft zum Gebet zu empfangen.

Wenn wir zu Matthäus zurückkehren, sehen wir den ganzen Absatz in den Worten zusammengefaßt: „Alles nun, was immer ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, also tut auch ihr ihnen; denn dies ist das Gesetz und die Propheten.“ (V. 12). Wir sollen also keineswegs die Menschen so behandeln wie sie uns. Im Gegenteil! Der Herr sagt gewissermaßen: „Ihr kennt den himmlischen Vater und Seine Gnade gegen das Böse. Ihr wißt, was in Seinen Augen wohlgefällig ist. Handelt immer entsprechend! Handelt niemals so, wie andere sich gegen euch verhalten, sondern wie ihr von anderen behandelt werden möchtet! Falls ihr die geringste Liebe in euren Herzen habt, solltet ihr wünschen, daß auch sie sich wie Kinder eures Vaters benehmen.“ Wie andere sich auch immer verhalten mögen - meine Aufgabe ist, mit den Menschen so umzugehen, wie ich es für mich selbst wünsche und wie es sich für das Kind eines himmlischen Vaters geziemt. „Dies ist das Gesetz und die Propheten.“  Der Herr gibt diesen alten Aussprüchen ihre volle Weite, indem Er das Wesentliche ihrer gesegneten Wahrheiten herausstellt. Sie enthielten Bekundungen der Gnade, die sicherlich jeder gottesfürchtigen Seele - selbst unter dem Gesetz - schätzenswert erschienen; denn nichts Geringeres als diese Gnade konnte als Grundlage einer Handlung vor Gott Bestand haben.

Jetzt kommen wir zu den Gefahren. Es sind nicht nur unsere Brüder, die uns versuchen. Der Herr sagt: „Gehet ein durch die enge Pforte; denn weit ist die Pforte und breit der Weg, der zum Verderben führt, und viele sind, die durch dieselbe eingehen. Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden. Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“ (V. 13-15). Zwischen den beiden Aussagen besteht eine sittliche Verbindung. Eine bedeutsame Seite des Abweichens ist der Versuch, die Pforte weit und den Weg breit zu machen. Damit wird die besondere Art, in der Gott Seelen zu der Erkenntnis Seiner selbst beruft, geleugnet. Keine Einrichtung in der religiösen Welt zeigt nicht diesen Fehler. Nehmen wir zum Beispiel die Aufteilung jener, die Gott angehören, in verschiedene Gruppen, als seien sie die Schafe eines Menschen! Wer macht sich schon ein Gewissen daraus, von „unserer Kirche“ oder „der Herde des Herrn Soundso“ zu sprechen? Gottes Rechte, Seine Forderungen und Sein Ruf an eine Seele, in Verantwortlichkeit vor Ihm zu wandeln, werden beiseite gesetzt durch Gedanken und Gefühle, die eine solche Sprache hervorrufen. Selbst ein Apostel sprach nie von „seiner Herde“. Es ist immer „die Herde Gottes.“ (1. Petrus 5,2); denn dieser Ausdruck redet von der göttlichen Gnade und Seinen Anrechten und von der Verantwortung vor Gott. Wenn es Gottes Herde ist, muß ich darauf achten, daß ich sie nicht in die Irre führe. Es sollte der Wunsch meines Herzens sein, beim Umgang mit einem Christen dessen Seele in unmittelbare Verbindung mit Gott zu bringen. Ich sollte mich deshalb daran erinnern und mir immer wieder sagen: „Dieser ist eines der Schafe Gottes.“ Welch eine Änderung würde das in der Rede- und Verhaltensweise eines  Pastors (= Hirten) bewirken, wenn die Menschen um ihn herum wirklich die Herde Gottes wären und als solche betrachtet würden! Die Aufgabe des wahren Hirten besteht darin, sie auf dem schmalen Weg zu erhalten, den die Schafe Christi betreten haben.

Daneben gibt es noch die Welt, die auf dem breiten Weg wandelt und denkt, sie könne Gott angehören durch ein Bekenntnis zu Christus und den Versuch, die Gebote zu halten. Die Pforte wurde erweitert und der Weg verbreitert. Diesbezüglich sagt der Herr: „Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“  Gott mag wahre Lehrer senden; doch sie leiden mit den falschen, wenn sie sich mit der Welt vermischen. Indem sich alle - unabhängig davon, ob sie Gott angehören oder nicht - zur Förderung allgemeiner Interessen zusammenschließen, werden oft jene, die wirklich treu sein wollen, von der Mehrheit in Umstände gezogen, von denen sie wissen, daß sie falsch sind. Noch etwas Wichtiges ist zu bedenken! Der Teufel würde niemals in der Christenheit einen Plan ausführen können, wenn er nicht gute Menschen fände, die sich mit den schlechten verbinden. Der Unglaube entschuldigt sich ständig mit den Worten: „Sogar ein so guter Mann ist dabei“ oder: „Der ausgezeichnete Herr X. tut es auch.“ Sollte die Meinung oder das Verhalten eines Christen für mich der Maßstab sein, nach dem ich urteile? Wenn es so ist, dann gibt es nichts, in das ich nicht fallen könnte. Welches Unrecht hätte ein Mensch - und sogar ein Gläubiger - nicht getan? Wir wissen, was selbst ein David vor Gott bekennen mußte. Nichts ist zu böse. Auf diese Weise beruhigt der Teufel andere Personen auf schlechten Wegen. Menschliche Überlegungen spielen in dieser Angelegenheit keine Rolle, noch das Zitieren guter Menschen. Für einen Christen sollte die einzige Frage sein: Was ist der Wille des Herrn? Folglich müssen wir die Schriften untersuchen. Der einzige Maßstab für den Gläubigen ist das geschriebene Wort Gottes. Nur dieses ist die besondere Sicherheit für die letzten Tage. Als Paulus die Ältesten von Ephesus verließ, befahl er sie Gott und dem Wort Seiner Gnade an. (Apostelgeschichte 20,32). Verderbliche Wölfe würden unter sie kommen und die Herde nicht schonen. Aus ihrer Mitte würden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden. Doch der einzige Schutz ist Gottes heilige Schrift, die Regel für den Glauben und das Verhalten der Erlösten.

Die böseste Handlung in dem verderbtesten System unter der Sonne ist die Messe. Doch wenn die Gnade Gottes dort eindringen kann und durch den Heiligen Geist wirkt trotz der hochgehobenen Hostie - wer sollte es ihr verwehren? Ist das für mich ein Grund, in eine römisch-katholische Kapelle zu gehen oder zur Jungfrau zu beten? Gott kann in Seiner unumschränkten Gnade überall hingehen. Wenn ich jedoch als ein Christ wandeln möchte - wie könnte ich so etwas tun? Es gibt nur einen Maßstab: Der Wille Gottes! Und der Wille Gottes kann nur aus den Schriften erfahren werden. Ich darf keine Schlußfolgerungen aus der Größe des Segens hier oder der augenscheinlichen Schwachheit dort ziehen. Wahre Heilige scheinen häufig schwach zu sein, damit klar erkennbar ist, daß die Kraft nicht in ihnen liegt, sondern in Gott. Obwohl die Apostel Männer mit geistlicher Kraft waren, mußten sie oft in den Augen anderer Menschen schwach erscheinen. Das war der Grund, warum die Korinther Paulus' Apostelschaft bezweifelten, obwohl gerade sie es hätten besser wissen müssen. Hier haben wir einen Beweis, daß wir nicht aus dem Segen, den Gottes Gnade bewirken mag, oder aus der Schwachheit von Kindern Gottes schlußfolgern können. Wir benötigen etwas, das überhaupt nicht irren kann; und das ist das Wort Gottes. Es ist die notwendige Regel für mein christliches Leben und für meinen gemeinsamen Wandel mit allen Heiligen. Wenn wir entsprechend dem Wort Gottes - und nichts anderem - handeln, ist Gott mit uns. Unsere Mitmenschen nennen dies allerdings Frömmelei. Dies ist ein Teil der Schmach Christi. Der Glaube wird immer als Stolz angesehen seitens derer, die keinen haben. Dennoch wird sich am Tag des Herrn zeigen, daß allein er die wahre Demut ist. Alles was nicht Glaube ist, ist Stolz. Der Glaube anerkennt, daß die Person, in der er wohnt, in sich selbst nichts vermag. Ihm fehlt jede eigene Kraft und Weisheit. Darum blickt er auf Gott. Mögen wir stark im Glauben sein, indem wir Gott Ehre geben!

Wir lesen weiter: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Liest man etwa von Dornen eine Traube, oder von Disteln Feigen? Also bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte.“  Der Herr spricht hier nicht einfach von Menschen, die man an ihren Früchten erkennt, sondern vor allem von falschen Propheten. (V. 15-20). „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“  Wo die Gnade geleugnet wird, ist die Heiligkeit hohl oder im besten Fall gesetzlich. Wenn die Gnade wirklich festgehalten und gepredigt wird, finden wir zwei Dinge: Zum einen werden die Rechte Gottes viel mehr beachtet als da, wo die Gnade nicht in gleicher Weise bekannt ist. Zweitens herrscht dort mehr Zartgefühl, Langmut und Geduld in den Dingen, die den Menschen betreffen. Das Tändeln mit der Sünde ist böse; aber auch eine unschriftgemäße Strenge ist sehr weit von der göttlichen Gerechtigkeit entfernt und kann durchaus mit dem Wirken des Ichs in mancherlei Formen zusammen gehen. Gewisse Sünden erfordern unbedingt eine Zurechtweisung; doch nur in den schwerwiegendsten Fällen sollte sie drastische Ausmaße annehmen. Wir sollen für uns selbst keine Gesetze gegen das Böse aufstellen. Wie wir unserem Herrn verantwortlich sind, so auch gegeneinander. Daher sollen wir nicht auf uns selbst vertrauen, sondern die Weisheit Gottes erlernen und auf die Vollkommenheit Seines Wortes bauen. Danach haben wir das dort Gefundene auszuleben. Möge uns Hilfe zukommen, woher sie will - wenn wir durch dieselbe dem Wort Gottes vollkommener folgen können, sollten wir für sie außerordentlich dankbar sein.

Ernst, ja, sehr ernst, sind die folgenden Worte, in denen das Auge des Herrn das weite Feld des Bekenntnisses durchforscht. „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist. Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr! haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt, und durch deinen Namen Dämonen ausgetrieben, und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch niemals gekannt; weichet von mir, ihr Übeltäter!“ (V. 21-23). Der Herr bestätigt dann die Festigkeit Seines Wortes für das gehorsame Herz in dem Bild von dem Mann, der auf den Felsen baut. Er zeigt auch, wie niemand anderes es kann, das Ende eines jeden, der Seine Worte hört und nicht tut. Doch darauf brauche ich jetzt nicht ausführlich einzugehen.

Der Herr gebe, daß unsere Herzen auf Ihn gerichtet sind! Dann können wir einander helfen und persönlich die Hilfe Seiner Gnade erfahren. Obwohl wir in uns selbst schwach sind, werden wir gekräftigt; und wenn wir durch Unwachsamkeit ausgleiten, wird der Herr als Sachwalter beim Vater uns gnädig wieder auf unsere Füße stellen.

Möge Er uns Einfalt des Herzens schenken!

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