Botschafter des Heils in Christo 1884

"Mein Herr verzieht zu kommen!"

Satan, der Menschenmörder von Anfang, sucht stets zu zerstören, oder, wenn er dies nicht vermag, wenigstens zu verderben, mögen die Gegenstände seiner bösen Absichten nun die Gläubigen sein, oder eine besondere Wahrheit, die ihre Seelen erfüllt und gesegnet hat. Die Wahrheit von der Ankunft des Herrn, als der gesegneten Hoffnung des Gläubigen, macht hiervon keine Ausnahme. Seitdem der Herr in seiner Gnade diese Wahrheit in den letzten Tagen wiederbelebt hat, hat sie – gepriesen sei sein Namen dafür! – in den Herzen der Gläubigen überall einen Platz gefunden, wie nie vorher seit den Tagen der Apostel. Auch ist sie seit jenen Zeiten nie so allgemein angenommen worden, wie gerade jetzt, und wir finden keinen Grund in der Schrift für die Annahme, dass sie wieder in Vergessenheit geraten wird, wie dies in den nachapostolischen Zeiten bis zum Anfang dieses Jahrhunderts geschehen ist. Im Anfang gingen die Jungfrauen alle aus, um dem Bräutigam zu begegnen, aber bald „wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.“ Das wahre christliche Zeugnis verstummte ganz und gar.

Doch um Mitternacht erhob sich ein Geschrei: 1. „Siehe der Bräutigam kommt!“ und 2.: „Geht aus, Ihm entgegen!“ In welch vollkommener Weise sich dies erfüllt hat, und wie innig diese beiden Dinge – die Wiederbelebung der Wahrheit, dass der Bräutigam kommt, und das Ausgehen, Ihm entgegen, in geistlicher Kraft und im lauten Zeugnis – sich in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts verbunden haben, ist vielen bekannt. Und wir haben alle Ursache, Gott zu danken, dass die Kraft des Heiligen Geistes dieses Zeugnis so begleitet hat, dass alle Anstrengungen Satans es nicht vermocht haben und auch nicht vermögen werden, diese gesegnete Wahrheit den Gläubigen wieder zu rauben. Aber es ist Gefahr vorhanden, dass gerade unsere Gewissheit in Bezug auf diesen Punkt uns die weit listigere Schlinge des Feindes übersehen lässt, der wir, obwohl wir in der Lehre selbst gesund sein mögen, stets ausgesetzt sind. Der schönste Charakterzug, welchen jene Hoffnung in praktischer Beziehung besitzt, ist ihr unbestimmtes und doch so gewisses nahes Bevorstehen; und Satan weiß wohl, dass, wenn es ihm gelänge, ihr diesen besonderen Charakter zu rauben, er ihr alle Kraft so völlig nehmen würde, dass nur die äußere Schale der Lehre unversehrt in den Händen ihrer Bekenner bliebe, während der Kern verloren ginge und die Wahrheit ans diese Weise ihren Wert völlig einbüßte, da sie nicht mehr als eine „gesegnete Hoffnung“ und als eine stets wirksame Kraft vor der Seele stände.

Das ist also die besondere Gefahr für die gegenwärtige Zeit; und der Herr, welcher dieselbe voraussah, hat uns ein Gleichnis hinterlassen, in welchem Er uns ausdrücklich vor dieser Schlinge des Feindes warnt (Mt 24,45–51). Satan ist auf alle Weise bemüht, die Herzen der Gläubigen weltförmig und leichtfertig zu machen, während ihr Mund die Wahrheit von der Ankunft Christi ausspricht und die Hoffnung, Ihn zu sehen, bekennt. Gelingt es Satan, ein Herz mit den Dingen dieser Welt zu erfüllen, so mag es jene Hoffnung wohl noch kennen und bekennen, aber sie hat ihre gegenwärtige Wirklichkeit für dasselbe verloren. Ein solches Herz erwartet den Herrn nicht heute; es sagt mit jenem; bösen Knecht: „Mein Herr verzieht zu kommen“, und die Folge ist, dass es „isst und trinkt mit den Trunkenen“, d. h., dass es dem Fleisch die Zügel schießen lässt und seine Lüste und Begierden erfüllt.

Wie ernst ist dieses! Möchten Schreiber und Leser dieser Zeilen tief fühlen, wie wichtig und nötig es ist, gegen diese Gefahr und gegen diese letzte Schlinge unseres listigen Feindes zu wachen! Können wir, nachdem wir schon solange auf unseren Herrn gewartet haben, alle sagen, dass wir eben deshalb mehr als je überzeugt sind, dass der Herr nahe ist? Sind unser Wunsch, Ihn zu sehen, und die Erwartung seiner Ankunft mit jedem Tag stärker und sehnlicher in unseren Herzen geworden? Wird unser Ruf: „Komm Herr Jesu!“ eben deshalb, weil schon eine solange Zeit vergangen ist, jeden Tag lauter und dringlicher? Eins ist gewiss: entweder hat jeder verflossene Tag unser Sehnen nach dem Herrn vermehrt, und unsere Erwartung ist mehr und mehr zu der bestimmten Gewissheit geworden, dass Er nahe, sehr nahe ist, oder unser Glaube hat abgenommen, unser Begehren ist schwächer und unsere Erwartung geringer geworden. Welches von beiden trifft bei uns zu? Ist die Sprache unserer Herzen diese: „Wir haben unseren Herrn jetzt schon so manches Jahr erwartet, und Er ist nicht gekommen; auch wissen wir gar nicht, wann Er kommen wird?“ Und ist so die „gesegnete Hoffnung“, anstatt mit jedem Tag lebendiger zu werden, mehr und mehr aus unseren Herzen geschwunden? Ach, wenn es so ist, dann ist es kein Wunder, wenn das arme leere Herz sich zu der Welt wendet, welcher es schon lange zugeneigt war, und dort seine Befriedigung sucht. Aber, welch ein Verlust und welch eine Unehre für unseren geliebten Herrn!

Wie ganz anders sieht es in einem Herzen aus, in welchem der Glaube wirksam ist! Mögen die Umstände noch so schwierig sein, da ist keine Finsternis so dicht, dass sie die hellen Strahlen des „glänzenden Morgensterns“ nicht zu durchdringen vermöchten. Statt durch die Länge der Prüfungszeit mutlos zu werden, wird ein solches Herz immer mehr mit dem Sehnen erfüllt, das Antlitz des geliebten Herrn zu schauen, und es wartet, solange es Ihm gefällt, mit Ausharren. Selbst die Nähe des Todes vermag es in seiner Erwartung nicht irre zu machen. Keine Zeit ist zu kurz, um nicht die Ankunft des Herrn einschließen zu können. Bliebe nur noch ein Augenblick übrig, so wäre es doch genügend für Ihn, zu kommen. Andererseits übt selbst eine Zeit äußeren Wohlergehens auf ein solches Herz keinen bösen Einfluss aus; scheint das Licht der göttlichen Gnade auch noch so hell, und nehmen die äußeren Umstände eine noch so schöne Gestalt an, so wird dennoch die Ankunft Christi stets den ersten Platz behalten und über alles hochgeschätzt werden.

Steht es so in unseren Herzen? Lasst uns diese Frage mit aller Aufrichtigkeit erwägen! Wenn es nicht so steht, dann haben wir alle Ursache, uns zu prüfen, ob die anbetungswürdige Person Christi und die Verheißung seiner Ankunft jemals den Platz in unseren Herzen gehabt haben, welcher ihnen gebührt und den sie sicher haben würden, wenn Christus das für uns wäre, was Er zu sein wünscht. Es gibt nichts, was hienieden mehr geeignet ist, von Zeit zu Zeit die kostbare Wahrheit von der nahen Ankunft Christi in den Herzen der Gläubigen mächtig zu beleben, als die Feier des Abendmahls. Ja, der Tisch des Herrn und seine Wiederkehr sind so innig mit einander verbunden, dass Gläubige, in deren Mitte der Erste in der rechten Weise aufgerichtet ist, in Bezug auf die Zweite selten in einer verkehrten Stellung sind. Das Abendmahl besitzt in der Tat diese wunderbare Eigenschaft, seinen Tod und seine Ankunft gleichsam in einen Brennpunkt zu vereinigen, indem es uns seinen Tod als unser einziges „Gestern“ und seine Wiederkehr als unser einziges „Morgen“ vor Augen stellt, während der Tisch selbst unser einziges „Heute“ ist, in welchem wir Gemeinschaft haben mit dem Vater und dem Sohn und mit einander, „bis Er kommt.“ Im Blick auf die Vergangenheit erinnern wir uns eines gestorbenen Christus, in der Gegenwart erblicken wir einen verherrlichten Christus, mit welchem wir unauflöslich verbunden sind, und in der Zukunft einen kommenden Christus, nach welchem wir uns sehnen und der als der helle und glänzende Morgenstern seine milden, belebenden Strahlen auf uns scheinen lässt, während wir in der langen und tränenreichen Nacht seiner Abwesenheit auf Ihn warten.

Möchte der Heilige Geist diese „gesegnete Hoffnung“ stets in lebendiger Frische vor unseren Seelen erhalten und sie vor den erniedrigenden und schwächenden Einflüssen dieser Welt bewahren! Möchten wir nie vergessen, dass wir in jenen „bösen Tagen“ leben, die so reich an Versuchungen und so sehr geeignet sind, unser geistliches Leben kalt und schlaff zu machen! Sicher gab es in den Zeiten der Verfolgung, in welchen die Welt sich als Feindin Gottes offenbarte, viele Leiden und Drangsale für den äußeren Menschen, weit mehr als in der gegenwärtigen Zeit; aber diese offenbare Feindschaft bewahrte die Gläubigen vor aller Vermengung mit der Welt und gab stets Anlass, im innigen Verkehr mit dem Herrn zu bleiben und im Gebet zu verharren. Jetzt aber zieht und lockt die Welt uns an und sucht uns, anstatt uns abzustoßen und zum Herrn zu treiben, mit ihren Bestrebungen und Interessen zu vermengen. Wir sind täglich in Gefahr, von ihr mit fortgerissen zu werden; und in demselben Maße als wir ihrem Geist in uns Raum geben, werden wir kalt und gleichgültig gegen unseren geliebten Herrn. Nur der stete Verkehr mit Ihm und das ungeschwächte Erwarten seiner Ankunft vermag uns in diesen letzten, versuchungsreichen Tagen in seiner Nähe und getrennt von der Welt zu erhalten. Möchten wir daher in unserer Wachsamkeit nicht ermüden und niemals in irgendeiner Weise mit laodizäischer Leichtfertigkeit und Weltförmigkeit sagen: „Mein Herr verzieht zu kommen!“

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel