Botschafter des Heils in Christo 1884

Ein Gesandter aus Tausenden

In dem 33. Kapitel des Buches Hiob führt uns der Heilige Geist ein treues Gemälde von dem Zustand des Menschen von Natur, von seiner stolzen Gesinnung, von seiner Widerspenstigkeit gegen Gott, sowie andererseits von den Wegen der Liebe, Barmherzigkeit und Langmut Gottes mit ihm vor Augen. Elihu, der Sohn Baracheels, redet, vom Geist Gottes erfüllt, zu Hiob, dem schwer geprüften Mann, der aus dem Kampf mit Satan siegreich hervorgegangen war, mit dem aber Gott selbst noch ein Wort zu reden hatte. Satan nahm ihm alles, was er besaß, Söhne und Töchter, Knechte und Mägde, Ochsen, Esel und Kamele, aber die herrliche Antwort Hiobs lautete: „Jehova hat gegeben, Jehova hat genommen, der Name Jehovas sei gelobt!“ Und als Satan ihn unter Zulassung des Herrn mit bösen Schwären schlug von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel und sein Weib zu ihm sandte mit den Worten: „Hältst du immer noch fest an deiner Vollkommenheit? Lästere Gott und stirb!“ – da hören wir aus seinem Mund die erhabenen Worte: „Du redest, wie eine der Törinnen redet. Das Gute haben wir von Gott angenommen, und das Böse wollten wir nicht annehmen?“ (Kap 1–2) In diesem allen sündigte Hiob nicht. Die Anstrengungen Satans waren völlig missglückt; er musste besiegt und beschämt von dannen gehen. Aber dann hatte, wie gesagt, Gott selbst noch ein Wort mit Hiob zu reden. Er sah in dem tiefsten Grund des Herzens Hiobs einen Rest von Eigengerechtigkeit und Selbstvertrauen, der ihn verhinderte, ihn so zu segnen, wie es in seinem Herzen war. Aber ach! Wie schwer ist es, den Menschen, selbst einen solch frommen, gottesfürchtigen Mann, wie Hiob war, von seiner Selbstgerechtigkeit zu überzeugen und zu heilen. Himmel und Erde müssen gleichsam in Bewegung gesetzt werden, um das stolze Herz zu brechen und Hiob dahin zu bringen, dass er ausruft: „Mit dem Gehör des Ohres habe ich von dir gehört, aber nun sieht dich mein Auge. Darum verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche“ (Kap 42,5–6).

Elihu erinnert Hiob zunächst daran, was der Mensch vor Gott ist. „Siehe, ich bin Gottes, wie du; vom Ton abgekniffen bin auch ich“ (V 6). Ja, was ist der Mensch, der stolze, hochmütige Mensch, der sich so großer Dinge rühmt, vor Gott? Ein Stück Ton, gebildet von der Hand des Schöpfers, wie der Töpfer ein Stück Lehm nimmt und daraus ein Gefäß formt, wie es ihm beliebt. Ein armes, schwaches Geschöpf, das nur von der Gnade Gottes lebt, und das seinen Geist aushauchen würde, sobald es dem Schöpfer gefiele, seinen Odem zu sich zurückzuziehen. „Wer hat Ihm die Erde anvertraut? und wer hat den ganzen Erdkreis geordnet? Wenn Er sein Herz wider ihn richtete, seinen Geist und seinen Odem zu sich zurückzöge, so würde alles Fleisch insgesamt den Geist aufgeben, und der Mensch wieder zum Staub kehren“ (Kap 34,13–15). Es ist sehr heilsam, auch für uns, von Zeit zu Zeit daran erinnert zu werden, wer wir sind und woher wir gekommen sind. Wir vergessen es so leicht. Obwohl wir wissen, dass wir nichts sind und nichts vermögen, so sind wir doch so gern geneigt, etwas von uns zu halten, und besonders dann, wenn Gott uns in der einen oder anderen Sache als seine Werkzeuge gebraucht hat, als hatten wir aus unserer Kraft und Weisheit etwas vermocht. Möchten wir nie vergessen, dass „Gott im Himmel ist, und wir auf der Erde sind“ (Pred 5,1), d. h. dass Gott der Allmächtige, Allweise und Allwissende ist, der über den Himmeln thront, während wir als schwache, allezeit irrende, törichte und ohnmächtige Geschöpfe auf dieser armen Erde pilgern.

„Gewiss“, fährt Elihu fort, „du hast gesprochen vor meinen Ohren, und ich habe gehört die Stimme der Worte: Ich bin rein, ohne Übertretung, lauter, und ist keine Ungerechtigkeit an mir“ (V 8–9). Welch eine stolze Sprache! Und doch ist es nichts anders, als die Sprache eines jeden selbstgerechten Herzens, ehe es in das Licht Gottes gekommen ist, ja selbst nicht selten die geheime Sprache unserer Herzen, obwohl wir sie vor anderen nicht mögen laut werden lassen. Nichts gleicht dem Stolz und dem Hochmut des menschlichen Herzens. Glaubt man ihn in dem einen Punkte unterdrückt und gerichtet zu haben – gleich kommt er in einem anderen wieder zum Vorschein. Nichts anders als ein steter Wandel im Licht Gottes, eine unaufhörliche Wachsamkeit unter Gebet und Flehen vermag das Herz in Demut zu erhalten und die Gesinnung hervorzubringen, welche in Christus Jesus war.

Hiob hatte mehr als Tausende und Millionen ein Recht, eine solche Sprache zu führen. Denn Gott selbst hatte ihm, Satan gegenüber, das Zeugnis gegeben: „Niemand auf der Erde ist wie er, ein Mann, vollkommen und aufrichtig, gottesfürchtig und sich fernhaltend vom Bösen“ (Kap 1,8 vgl. auch Kap 29 und 31). Und doch hatte er nicht Recht. Solange ein Mensch sich mit seinem eignen Maßstab misst und sich mit anderen vergleicht, mag er vieles aufzuzählen haben, worin er sich von anderen vorteilhaft unterscheidet. Aber sobald er ins Licht Gottes kommt und den göttlichen Maßstab an all sein Tun und Lassen, sein Reden und Denken legt, sobald sein Auge „Ihn“ sieht, so muss er nicht nur verstummen, sondern er wird auch in seinen eignen Augen ein Gegenstand des Abscheus und der Verachtung. Doch solange dies nicht der Fall ist, brüstet er sich mit seinen guten Werken, seiner Gerechtigkeit und Lauterkeit. Nimm den schlechtesten und verworfensten Menschen und siehe zu, ob er dir nicht noch viel Gutes aus seinem Leben erzählen und das Schlechte, das er verübt hat, auf alle Weise zu beschönigen und zu entschuldigen suchen wird. Andere sind an seinen bösen Wegen Schuld, die Umstände haben ihn verleitet, das Böse zu tun; wäre nicht dieses und jenes gewesen, hätte nicht dieser und jener ihn verleitet, so würde er gewiss nicht in die Sünde gefallen sein. Ach, so ist der Mensch, und zwar von seinen ersten Anfängen an. „Das Weib, das du mir beigegeben, die gab mir von dem Baum, und ich aß“, so lautete die Antwort Adams auf die Frage Gottes: „Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten, nicht zu essen?“ Gott war schuldig, nicht der Mensch. Warum hatte Er ihm das Weib gegeben?

„Siehe, Er findet Feindschaft wider mich“, sagt selbst ein Hiob; „Er hält mich für seinen Widersacher. Er legt meine Füße in den Stock, Er bewacht alle meine Wege“ (V 10–11). Warum, o Gott, so ruft so mancher auch heute aus, führst du mich gerade solch schwere Wege? Warum muss ich so viele Leiden und Schmerzen erdulden? Warum musst du gerade mir so Schweres auferlegen und alle meine Bemühungen und Pläne vereiteln? Anderen gelingt alles; andere gehen so leicht und schmerzlos durch diese Welt; und ich sehe doch nicht, dass sie treuer und frommer sind, dass sie besser gelebt haben, als ich auch! – Ach, wie oft kann man solche Ausrufe aus dem Mund Bekehrter und Unbekehrter vernehmen! Murren und Unzufriedenheit erfüllen ihre Herzen. Ja, selbst wie manche bittere Verwünschung steigt zu dem Gott empor, der alles in seiner Liebe und nach seiner vollkommenen Weisheit leitet!

Doch hören wir, was Elihu auf diese Anklage Hiobs zu sagen hat: „Siehe, darin hast du nicht Recht, antworte ich dir, denn Gott ist mehr als ein Mensch. Warum haderst du wider Ihn? denn über all sein Tun gibt Er nicht Antwort“ (V 12–13). „Ja. o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott?“ Welch ein Beweis von dem stolzen, ungebrochenen Sinn des Menschen ist es, dass er es wagt, seine Stimme zu erheben wider den Gott des Himmels und der Erde! Er murrt wider Ihn und klagt Ihn der Lieblosigkeit, ja selbst der Ungerechtigkeit an. Er, dessen Leben wie ein Dampf ist, der ohne den Willen Gottes nicht einen Finger zu krümmen, nicht einen Schritt zu gehen vermag, lehnt sich auf gegen seinen Schöpfer und sitzt zu Gericht über die Wege und Handlungen Gottes. Er maßt sich an, zu beurteilen, was Gottes würdig und was seiner unwürdig ist, was Er tun und was Er nicht tun sollte. Aber Gott ist größer als der Mensch, und über all sein Tun gibt Er keine Antwort. Er handelt nach den Grundsätzen seiner ewigen Gerechtigkeit, nach seiner vollkommenen Weisheit und Einsicht, unbekümmert um die stolzen und doch so eitlen Anmaßungen des Menschen, um seine hohen und doch so ohnmächtigen Worte. Wie töricht ist doch ein jeder, der es unternimmt, die Wege Gottes nach seinen eignen verkehrten Gedanken und Meinungen zu beurteilen, anstatt sich demütig unter die Hand des Allmächtigen zu beugen und mit jener aufrichtigen Unterwürfigkeit, welche sich allein für den Menschen Gott gegenüber geziemt, nach dem Willen Gottes und dem Zweck seiner Wege und Führungen zu forschen! Denn unaufspürbar sind die Wege Gottes und unausforschlich seine Gerichte. „Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Oder wer ist sein Mitberater gewesen?“ (Röm 11,33–35) Möchten wir nie vergessen, dass derselbe Gott, den wir als Vater anrufen, der große, allmächtige, gerechte und heilige Gott ist, der alles erschaffen hat, was im Himmel und auf Erden ist, dem wir Leben und Odem und alles zu verdanken haben, und der alles in seiner starken Hand hat und es leitet nach dem Wohlgefallen seines weisen Willens! Ist dieses Bewusstsein in unserem Herzen lebendig, so wird es uns vor Murren und Unzufriedenheit bewahren und zugleich eine tiefe Ehrfurcht gegen Gott in uns wachrufen.

Das bisher Gesagte bildet jedoch nur den ersten, und wenn ich so sagen darf, den erhabenen Teil der Antwort Elihus auf das Murren Hiobs. Es gibt noch einen zweiten Teil, den ich den lieblichen nennen möchte. Während der Erste die Ehrfurcht unserer Herzen erweckt, fordert uns der Zweite zur Bewunderung und Anbetung Gottes auf und zeigt uns den Gott der Liebe, der in Gnade, Langmut und Erbarmen mit dem feindseligen, widerspenstigen Sünder beschäftigt ist. Wir lesen: „Denn einmal redet Gott und Zweimal – und man achtet nicht darauf – im Traum, im Gesicht des Nachts, wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt, im Schlummer auf dem Lager. Dann öffnet Er das Ohr der Menschen und versiegelt ihre Unterweisung, um den Menschen von seinem Werk abzuwenden und Übermut vom Mann zu verbergen; Er hält seine Seele ab von der Grube und sein Leben vom Rennen ins Geschoss“ (V 14–18).

Was ist der Zweck der Tätigkeit Gottes? Warum beschäftigt Er sich mit dem Menschen? Warum „wirkt“ der Vater bis jetzt und der Sohn gleicherweise? Um den Menschen abzuhalten vom Rennen ins Geschoss! O welch ein wunderbarer, anbetungswürdiger Gott! Anstatt den Menschen, der sich in Hass und Feindschaft von Ihm abgewandt hat und dahingeht in der Bosheit und Verkehrtheit seines Herzens, seinem Schicksal anheimzugeben, ist Er Tag und Nacht mit ihm beschäftigt. Er arbeitet an seiner Seele auf die mannigfaltigste Weise. Er redet zu ihm durch sein Wort, durch seine Boten, durch die Umstände, durch die stille, geheime Sprache zu seinem Herzen und Gewissen. Ja, wir dürfen sagen, Gott lässt kein Mittel unversucht, um den Menschen zur Erkenntnis seines Zustandes und zur aufrichtigen Buße zu führen. Er „redet einmal und zweimal“, Er redet unermüdlich, Er klopft immer wieder an, und – der Mensch „achtet nicht darauf.“ Er ist blind und taub gegenüber den Beweisen der Liebe und Güte Gottes, gegenüber seinen Ermahnungen und Warnungen. Aber Gott will nicht den Tod des Sünders. Er knüpft immer wieder an, um den Menschen von seinem Werk abzuwenden, um ihn zu einem Stillstehen auf seinem Weg zu bewegen und ihm seine Torheit und seinen Übermut zu zeigen. Unser Gott ist sehr langmütig und von großer Gnade und Güte. Immer noch trägt Er den Menschen in seiner Bosheit, immer noch zögert Er mit dem Gericht über diese schuldige Welt, immer noch ist Er tätig, um zu retten, was zu retten ist. Und was tut der Mensch angesichts dieser Liebestätigkeit Gottes? Er geht dahin, gleichgültig, gefühllos, übermütig, widerspenstig wie immer, dem sicheren Verderben entgegen.

Lässt ihn der Gott aller Gnade nun gehen? Gibt Er ihn seinem Verderben preis? Wird Er müde, ihn zur Buße zu rufen? – O nein. Er fährt fort, sich mit dem Menschen zu beschäftigen. Will sich derselbe nicht durch die Güte und Freundlichkeit Gottes zur Buße leiten lassen, so muss er die Strenge Gottes erfahren. Gott will und muss seinen Zweck erreichen. Er muss sein Haus und seinen Tisch voll Gäste haben. Was tut Er? Er wirft den Menschen aufs Krankenlager. „Auch wird er gezüchtigt mit Schmerzen auf seinem Lager und mit beständigem Kampf in seinen Gebeinen. Und sein Leben verabscheut das Brot, und seine Seele die liebliche Speise; das Fleisch zehrt ab, dass man es nicht mehr sieht, und entblößt sind seine Knochen, die nicht gesehen wurden, und seine Seele nähert sich der Grube, und sein Leben den Würgern“ (V 19–21).

O wie wenig bedenkt der Mensch, ja wir alle, dass Gott es ist, der alle Dinge leitet, dass Er hinter allem steht, dass Er alle Umstände in seiner Hand hat und durch dieselben zu unseren Herzen redet! Nichts geschieht ohne seinen Willen; nicht ein Sperling fällt vom Dach, nicht ein Haar von unserem Haupt, ohne dass Gott es weiß und beachtet. „Siehe, alles dieses wirkt Gott zwei–, dreimal mit dem Menschen, um seine Seele zurückzuführen von der Grube, und dass er erleuchtet werde mit dem Licht der Lebendigen“ (V 29–30). Das ist der Zweck aller Wege Gottes, sei es mit dem Bekehrten oder mit dem Unbekehrten. Wie ernst und eindringlich richtet sich deshalb die Ermahnung des Apostels an unsere Herzen, die Züchtigungen des Herrn nicht zu verachten, noch zu ermatten, wenn wir gestraft werden. Beides ist möglich, zu beidem sind wir so sehr geneigt. Entweder schätzen wir die Wege und Führungen des Herrn gering und beachten nicht, was Er uns durch dieselben sagen will, oder wir vergessen, dass seine Liebe und Weisheit es sind, die uns die Züchtigungen zusenden, und lassen, unter der Schwere derselben zusammenbrechend, unsere Hände mutlos in den Schoß sinken. Wir beschäftigen uns mit den Umständen, anstatt unseren Blick auf Gott zu richten, verlieren auf diese Weise das Bewusstsein seiner Gegenwart und Liebe und werden ungeduldig, ärgerlich und mutlos. Doch beides ist gerade das Gegenteil von dem, was Gott bezweckt. Er will uns durch die Züchtigungen läutern, uns bewahren vor Fehltritten, uns erleuchten mit dem Licht der Lebendigen und uns mehr segnen, wie Er es bisher unseres Zustandes wegen vermochte. Das ist „das Ende des Herrn“ – wahrlich, ein herrliches, gesegnetes Ende! Möchte es Gott gelingen, dasselbe stets bei uns zu erreichen!

Denselben gnädigen Endzweck verfolgt der Herr aber auch bei seinen Wegen mit dem natürlichen Menschen. Er hat keinen Gefallen daran, ihn zu plagen; „Er plagt und betrübt nicht von Herzen die Menschenkinder; sondern wenn Er betrübt hat, wird Er sich erbarmen nach der Größe seiner Gütigkeiten“ (Kld 3). Nur die Liebe ist es, die Gott den Menschen solch schwere Wege führen lässt. Er nimmt erst dann die Rute zur Hand, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, den Menschen zur Besinnung zu bringen. Er will seine Seele zurückführen von der Grube und ihn erleuchten mit dem Licht der Lebendigen, und zu diesem Zweck geht Er mit ihm, wenn es nötig ist, bis zum Äußersten. Er führt ihn bis an den Rand des Todes, bis an die Schwelle der Ewigkeit. „Seine Seele nähert sich der Grube, und sein Leben den Würgern.“

Wir tun wohl, hier einen Augenblick stille zu stehen und die Langmut und Liebe unseres anbetungswürdigen Gottes zu betrachten. Wie unermesslich ist seine Gnade, wie unergründlich sein Erbarmen! Wie ganz anders handelt Er, als ein Mensch! Wie bald ist unsere Geduld erschöpft, wie bald sind wir bereit, unsere Bemühungen als nutzlos aufzugeben, wenn unsere ein– oder zweimaligen Bitten und Ermahnungen keinen Erfolg gehabt haben! Ach, wenn Gott so mit uns handeln wollte, so würde kein Mensch errettet werden; keiner von uns würde das Ziel seines Weges erreichen. Wie vielen Verkehrtheiten muss Er begegnen, welch einem Hochmut, einer Gleichgültigkeit und Vergesslichkeit, ja welch einer Härte des Herzens und Gefühllosigkeit des Gewissens! Es ist wahrlich ein „Reichtum von Barmherzigkeit“ und „viele Liebe“ dazu nötig, um sich mit solchen Geschöpfen, wie wir sind, zu beschäftigen. Mit welchen Gefühlen der Bewunderung und Anbetung werden wir einst in dem Licht Gottes, wenn einmal das Vollkommene gekommen sein wird und wir erkennen werden, wie wir erkannt sind, auf unseren Weg durch diese Welt zurückblicken! Wie wird es unsere Herzen vor unserem Gott und Vater in den Staub niederbeugen, wenn wir sehen werden, mit welch einer Langmut und Geduld Er uns in allen unseren Schwachheiten und Torheiten getragen, wie Er alle unsere Wege nach seiner vollkommenen Weisheit und Liebe geordnet hat, mit welcher Zärtlichkeit Er uns begegnet ist, wie väterlich Er uns, wenn es nötig war, gezüchtigt und wie liebevoll Er uns, wenn wir es bedurften, getröstet und aufgerichtet hat. Vieles, was uns heute unverständlich ist, ja zuweilen selbst hart erscheinen will, wird dann von uns als durchaus notwendig, weise und gut erkannt werben. Wir werden sehen, dass Gott selbst nach der Liebe seines Vaterherzens unseren Leidensbecher gemischt und uns nicht einen Tropfen mehr oder weniger davon zu trinken gegeben hat, als nötig und heilsam für uns war. Es wird sicher einen nicht unwesentlichen Teil unserer himmlischen und ewigen Freude ausmachen, diese Wege und Führungen Gottes während unseres Pilgerlaufs durch diese Wüste zu betrachten. Es wird uns immer von neuem antreiben, Ihn zu preisen und anzubeten.

Doch kehren wir zu unserem Kapitel zurück. Wir haben gesehen, wie der Herr den Menschen bis zum Rand des Grabes geführt hat. Haben nun endlich die Leiden des Körpers sein Herz erweicht, und hat der Gedanke an den Tod und die ernsten Wirklichkeiten der Ewigkeit ihn geneigt gemacht, auf die Stimme Gottes zu lauschen, was lässt ihm Gott dann sagen? Macht er dem Menschen Vorwürfe über seine bisherige Hartnäckigkeit und Störrigkeit? Sagt er ihm: Du hast bisher trotz aller Ermahnungen nicht hören wollen, und jetzt gehe hin und siehe zu, was das Ende deines Weges ist; ernte, was du gesät hast. Nichts von alledem! Nein, unser Gott ist ein Gott, „der allen willig gibt und nichts vorwirft“ (Jak 1). Wie köstlich ist es, selbst den größten Sünder in seiner letzten Stunde noch hinweisen zu dürfen auf die Liebe Gottes, die den Eingeborenen für den Gottlosen und Sünder dahingab! Solange die Seele ihrer sterblichen Hülle nicht entflohen ist, gibt es noch Hoffnung, für den Menschen. Ich brauche wohl nicht zu bemerken, dass ich dieses nicht sage, um irgendjemanden zu veranlassen oder in seinem Vorhaben zu bestärken, seine Errettung bis zu seiner Sterbestunde aufzuschieben – Gott wolle einen jeden vor einem solch verwerflichen und im höchsten Gerade gefährlichen Beginnen in Gnaden bewahren! – sondern ich sage es, um die ganze wunderbare Größe der Gnade und Langmut Gottes zu zeigen, die den Sünder selbst dann noch anzunehmen bereit ist, wenn er sich mit seiner letzten Kraft in aufrichtiger Buße zu Jesu wendet.

„Ist nun bei ihm ein Gesandter, ein Ausleger, einer aus Tausenden, um dem Menschen seine Geradheit kund zu tun, so wird Er ihm gnädig sein und sprechen: Erlöse ihn, dass er nicht in die Grube hinabfahre! Ich habe Versöhnung gefunden“ (V 23–24). Was ist „die Geradheit des Menschen?“ Ohne Zweifel sein wirklicher, wahrer Zustand vor Gott. Ist es da ein Wunder, dass es eines Gesandten Gottes, eines Auslegers, eines aus Tausenden bedarf, um dem Menschen seine Geradheit kundzutun? Wer sagt dem Menschen unumwunden, was er vor Gott ist? Wer kann es ihm sagen? Nur ein solcher, der an sich selbst erfahren hat, was es heißt, in das Licht Gottes gestellt zu werden, und der sich dort gesehen hat in seinem ganzen moralischen Verderben, in seinen schmutzigen, unflätigen Kleidern. Es ist wahrlich keine angenehme und liebliche Entdeckung, die ein Mensch dort macht; sie ruft vielmehr Schrecken, Entsetzen und Abscheu in der Seele hervor. Aber sie ist notwendig und heilsam. Das Übel muss zuerst aufgedeckt werden, ehe an eine Heilung zu denken ist. Und je völliger es aufgedeckt, je gründlicher es ans Licht gestellt wird, desto besser ist es.

Doch wie köstlich ist es, zu sehen, wie Gott wiederum hinter allem steht. Er war es, der in Güte zu dem Menschen redete; Er war es, der, um ihn zur Besinnung zu bringen, schwere Züchtigungen ans ihn legte, und Er ist es auch, der den Gesandten, den Ausleger aus Tausenden, zu ihm sendet. Gott ist es von Anfang bis zu Ende. Ihm gebührt aller Ruhm und alle Ehre, und Er wird seine Ehre auch keinem anderen geben. „Wo ist denn der Ruhm?“ fragt der Apostel in Römer 3,27, nachdem er von der Rechtfertigung des Sünders aus freier, unverdienter Gnade, durch den Glauben an den von Gott aufgerichteten Gnadenstuhl, gesprochen hat? Ja, da ist jeder Ruhm für den Menschen ausgeschlossen. Gott tut alles, für den Menschen bleibt nichts zu tun übrig. Es geht ihm, wie dem Aussätzigen am Tag seiner Reinigung (3. Mo 14). Er steht und sieht zu, was der Priester tut. Der Priester geht zu ihm hinaus außerhalb des Lagers, der Priester gebietet, zwei lebendige, reine Vögel zu nehmen, der Priester schlachtet den Einen und lässt den Anderen, mit dem Blut des Ersten auf seinen Schwingen, ins freie Feld hinausfliegen, der Priester endlich sprengt das Blut siebenmal auf den, der zu reinigen ist, und der Priester erklärt ihn für rein. Alles ist das Werk des Priesters, des Stellvertreters Gottes; und so ist in der Reinigung des Sünders, von welcher jene ein so treffendes Vorbild ist, alles das Werk Gottes.

Indessen muss dem Menschen zunächst seine Geradheit kundgetan werden; die Wahrheit muss ihren Platz haben, ehe die Gnade zur Anwendung kommen kann, und Wahrheit gehen stets zusammen in den Wegen Gottes. „Da ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Stöhnen den ganzen Tag. Denn Tag und Nacht lastete auf mir deine Hand, verwandelt ward mein Saft wie in Sommerdürre. – Ich werde dir kundtun meine Sünde und meine Ungerechtigkeit nicht bedecken. Ich sagte: Ich will Jehova bekennen meine Übertretungen, und du wirst mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünden“ (Ps 32,3–5). Das ist die göttliche Ordnung: Zuerst Bekenntnis, dann Vergebung. Ohne eine wahre Buße, ohne ein aufrichtiges Bekenntnis gibt es keine Vergebung. Dasselbe finden wir hier. Erst dann, wenn der Mensch sich beugt unter das Urteil Gottes, erst dann, wenn er beginnt, „Zu Gott zu flehen“, d. h., wenn er den Platz eines schuldigen, heilsbedürftigen Sünders vor Gott einnimmt, kann Gott ihm gnädig sein und ihn wohlgefällig annehmen (V 26). Aber so wie Gott nicht eher segnen kann, bis der Sünder mit einem zerknirschten Herzen sich Ihm naht, so ist Er andererseits auch bereit, zu vergeben und zu heilen, sobald er kommt. Gott ist langsam zum Zorn, aber schnell bereit, zu vergeben und zu vergessen. Sobald der Räuber am Kreuz ruft: „Herr gedenke meiner, wenn du in deinem Reich kommst!“ empfängt er die Antwort: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein.“

In unserem Kapitel finden wir ebenfalls diese unmittelbare Verbindung zwischen Wahrheit und Gnade. Ist dem Menschen seine Geradheit kundgetan und hat er sich gebeugt unter das Urteil Gottes, so „wird Er ihm gnädig sein und sprechen: Erlöse ihn, dass er nicht in die Grube hinabfahre; ich habe Versöhnung gefunden.“ – Dahaben wir in kurzen Worten den ganzen gesegneten Inhalt des Evangeliums der Wahrheit, der frohen Botschaft Gottes an den Menschen. Gott hat Versöhnung gefunden, eine Versöhnung für den Sünder, für den verlorenen, hassenswürdigen Feind Gottes, und zwar in dem kostbaren Blut seines eingeborenen, geliebten Sohnes. In dem auf Golgatha geschehenen Werke ist die Gerechtigkeit Gottes vollkommen befriedigt und für den Sünder der Weg zu dem Vaterherzen Gottes gebahnt worden. Ja, alle die Ansprüche der Heiligkeit Gottes sind in Christus so völlig beantwortet worden, dass Gott jetzt seine Gerechtigkeit darin erweist, dass Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist. „Erlöse ihn, dass er nicht in die Grube hinabfahre“, das ist die herrliche, erquickende Sprache der Gnade. Gott sei gepriesen, dass sie heute noch vernommen wird, dass die Zeit der Gnade, der Tag des Heils immer noch währt! O, wie süß und lieblich tönt diese Sprache in die Ohren des bekümmerten Sünders! Welch ein Augenblick, wenn das Licht der Gnade Gottes in seine umnachtete, geängstigte Seele fällt, wenn der, der aus der Finsternis das Licht leuchten hieß, in das Herz hineinleuchtet zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi (2. Kor 4)!

„Er wird sein Angesicht schauen mit Jauchzen“ (V 26). Dasselbe Antlitz, das er bis dahin geflohen hat, erfüllt jetzt sein Herz mit Freude und Jubel. Alles ist plötzlich, wie mit einem Schlag, verändert. Derselbe Kerkermeister, der am Abend seinem Hass gegen Gott darin Ausdruck gab, dass er seine blutig geschlagenen Knechte ins innerste Gefängnis warf und ihre Füße in den Stock legte, derselbe Mann wusch um Mitternacht ihre Striemen ab, setzte ihnen einen Tisch vor und frohlockte, an Gott glaubend, mit seinem ganzen Haus. Dasselbe Weib, das, zu Boden gedrückt von der Schwere ihrer Schuld, weinend zu den Füßen des Herrn niedersank, verließ wenige Augenblicke später mit friede– und freudeerfülltem Herzen das Haus des Pharisäers. Derselbe Mensch, der in dieser Minute noch mit Angst und Schrecken daran denkt, vor dem Angesicht Gottes erscheinen zu müssen, preist und rühmt in der nächsten, an Jesus glaubend, denselben Gott mit überströmendem Herzen. Unter Tränen jubelnd, erhebt er die Liebe Gottes, die sich an ihm, dem verdorbenen und schuldigen Sünder, so mächtig, erwiesen hat. Ja, die Freude ist zu groß, als dass man sie für sich behalten könnte. Das Herz muss sich auch anderen gegenüber Luft machen. „Er wird vor den Menschen singen und sagen: Ich habe gesündigt und die Geradheit verkehrt, und es ward mir nicht vergolten. Er hat meine Seele erlöst, dass sie nicht in die Grube fahre, und mein Leben erfreut sich des Lichts“ (V 27–28). Welch ein schönes, welch ein glückseliges Zeugnis! Die Seele ist erlöst und erfreut sich des Lichts des Vaterantlitzes Gottes. Von allen Sünden gereinigt, ist für den Gläubigen dieses einst so sehr gefürchtete und gehasste Licht zu dem liebsten und gesegnetsten Aufenthaltsort geworden. Nirgendwo fühlt er sich so wohl, als in der Gemeinschaft seines Gottes und Vaters und seines Sohnes, unseres geliebten Herrn und Heilands. Und überwältigt von der Liebe, die es erfahren, geht das Herz aus, um vor den Menschen zu singen und zu sagen, welch große Dinge Gott an ihm getan hat. Es wünscht, dass auch andere diese Liebe und Huld kennen lernen möchten.

Geliebte Brüder, ist es so mit uns? Flieht dieses gesegnete Zeugnis auch von unseren Lippen? Rühmen wir uns in Wahrheit unseres Gottes und dessen, was Er an uns getan hat? Oder müssen wir bekennen: Es war einst so? Eine Zeitlang war ich so glücklich und so erfüllt von Freude und Lob und Dank. Aber mein Herz, ist träge und mein Mund müde geworden, das Lob meines Herrn zu besingen. Die Dinge dieser Welt, die Beschäftigungen und Sorgen dieses Lebens haben mein Herz so hingenommen, dass mir wenig Zeit bleibt, an das zu denken, was Gott an mir getan hat, und seinen Namen dafür zu preisen. O, wie beschämend und demütigend ist ein solches Bekenntnis! Sollte nicht vielmehr unsere Freude mit jedem Tag zunehmen, je mehr der glückselige Augenblick herannaht, da wir unseren geliebten Herrn sehen werden, wie Er ist? Sollten wir nicht wachsen in der Erkenntnis Gottes und in dem Genuss seiner Liebe? – Der Herr gebe uns Gnade, dass wir uns vor Ihm demütigen und mit Aufrichtigkeit die Trägheit und Gleichgültigkeit unserer Herzen bekennen und richten! Und Er wirke durch seinen Geist mächtig in uns, dass wir von neuem beginnen, mit dankerfülltem Herzen Ihm zu dienen, seinen Namen zu erheben und, wo wir Gelegenheit haben, von der Gnade, die uns widerfahren ist, Zeugnis zu geben!

Und wenn diese Zeilen einem Leser in die Hände fallen sollten, der noch nicht der Vergebung seiner Sünden gewiss ist, der bis heute noch dahingeht auf dem breiten Wege, der zum Verderben führt – möchte dann die wunderbare Liebe Gottes ihn antreiben, zu Jesu zu eilen, solange es noch heute heißt! Ja, mein Freund, widerstehe nicht länger der mahnenden und warnenden Stimme Gottes! Verschließe nicht länger dein Ohr vor seiner freundlichen Einladung: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz!“ Bedenke wohl, dass Gott schon oft bei dir angeklopft hat, und dass, wenn du dein Herz verhärtest, ein schreckliches Gericht dich treffen muss. Du hast die Liebe und Güte, vielleicht auch die Strenge Gottes schon reichlich an dir erfahren. Gott hat zu dir geredet in mancherlei Weise. Was muss dein Ende sein, wenn du in der Störrigkeit und Unbußfertigkeit deines Herzens dahingehst! Darum lass dich warnen! Eile zu Jesu, der bereit steht, dich zu erretten und dein Herz mit unaussprechlicher Freude zu erfüllen! Komme heute! Denn heute ist die Zeit der Annahme, heute ist der Tag des Heils.

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