Botschafter des Heils in Christo 1884

"Bleibt in meiner Liebe!"

So oft sich das gläubige Herz mit den Unterhaltungen des Herrn beschäftigt, die Er am letzten Abende seiner Laufbahn hienieden mit den seinigen hatte, wird es sich angetrieben fühlen, Ihn zu preisen und anzubeten. Das Kreuz mit allen seinen Ängsten und Schrecken stand noch vor Ihm, und Er wusste bestimmt, dass Er am nächsten Tage, verlassen von allen und sogar, weil Er für uns zur Sünde gemacht war, verlassen von Gott, seine teure Seele auf demselben aushauchen sollte. Dennoch betrachtete Er an diesem feierlichen Abend dasselbe als schon hinter sich liegend, denn Er sagt in Kapitel 17,4: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde, das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.“ Die Liebe zu den Seinen war der alleinige Beweggrund, wenn Er in dieser letzten Stunde, die Er mit ihnen in dieser Welt zubrachte und nach welcher Er so sehnlichst verlangt hatte, an der anderen Seite des Kreuzes seinen Platz nahm. In seiner Liebe zu ihnen dachte Er nur an sie und nicht an sich selbst. Sie sollten wissen, was Er nachher für sie sein würde, wenn Er hienieden nicht mehr bei ihnen war – dass seine Liebe zu ihnen nie aufhören und sein Dienst und seine Sorge für alle ihre Bedürfnisse nie enden würden. Unvergleichliche Liebe! Sie allein vermag ein Herz, das sie erkennt und in ihr ruht, inmitten der mannigfachen Prüfungen der Wüste, inmitten der vielfachen Versuchungen in einer feindseligen und gottlosen Welt, mit Freude und Wonne zu erfüllen. Das köstliche Bewusstsein, von Ihm geliebt zu werden, seinem Herzen teuer zu sein, übersteigt alles andere und macht jede Entbehrung und Schwierigkeit hienieden erträglich und leicht. Und Er versichert uns: „Gleichwie mich der Vater geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibt in meiner Liebe“ (V 9).

Es wird uns nicht schwer zu glauben, dass der Vater Ihn, während Er seinen Lauf hienieden vollendete, mit einer vollkommenen Liebe liebte, dass sein Auge unverrückt und mit Freude und Wonne auf Ihn, den Eingeborenen und Geliebten, gerichtet blieb. Als Er getauft wurde, öffneten sich die Himmel über Ihm, und eine Stimme rief: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden“ (Lk 3,22). Ja Er, der allezeit den Vater verherrlichte und in einem stets bereitwilligen und völligen Gehorsam den Willen des Vaters erfüllte, war sicher würdig, der Gegenstand seiner vollkommenen Liebe zu sein. Und Er versichert nun die Seinen, dass Er sie, während sie in dieser Welt seien, liebe, gleich wie der Vater Ihn geliebt habe. Wir mögen verwundert fragen: Wie kann dies möglich sein? Allein sein Mund hat es gesagt, und sein Wort ist untrüglich. Wir dürfen freilich dabei nicht auf uns blicken, auf unsere Mängel und Gebrechen, auf unsere Schwachheit und Ohnmacht – wir sind in uns selbst wahrlich nicht wert, von Ihm geliebt zu werden – sondern unser Auge darf nur auf Ihn, auf sein Herz gerichtet sein, das trotz allem uns liebt, und zwar so innig und vollkommen, wie der Vater Ihn geliebt hat. In seinem Tod, den Er für uns erduldete, als wir noch gottlose Sünder und Feinde waren, hat Er uns den höchsten und vollkommensten Beweis seiner Liebe zu uns gegeben, und diese Liebe wird gewiss nicht schwächer und geringer sein zu denjenigen, welche Er um einen so teuren Preis erkauft, versöhnt und errettet hat. Er liebt sie allezeit mit derselben Liebe, womit der Vater Ihn geliebt hat. Sein Auge wendet sich nie von ihnen ab; Er ist allezeit für sie und mit ihnen beschäftigt, und sie sind und bleiben stets die teuren Gegenstände der Fürsorge seines liebenden Herzens. Und Er ermahnt sie, in seiner Liebe zu bleiben, sich allezeit ihres köstlichen Genusses zu erfreuen. Und wahrlich, nichts kommt dieser Liebe gleich, nichts kann das Herz so befriedigen und so völlig glücklich machen als sie. Möchten wir doch allezeit in ihr bleiben, ununterbrochen in ihr ruhen!

Indes möchte gefragt werden: Wie können wir in dem Genuss dieser Liebe bleiben? Der Herr selbst gibt uns den Weg an, auf welchem dies allein möglich ist. Er sagt: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben; gleich wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe“ (V 10). Seine Gebote sind der Ausdruck dessen, was Er war, der Ausdruck des Lebens, das Er hienieden offenbarte, und dieses Lebens hat Er uns durch sein auf dem Kreuz vollbrachtes Werk teilhaftig gemacht. Es erwies sich bei Ihm in einer steten Abhängigkeit und in einem völligen Gehorsam. Die Gebote des Vaters drückten das aus, was der Vater war, und Er bewahrte sie allezeit; nichts vermochte Ihn davon zurückzuhalten. Es war seine „Speise, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte, und sein Werk zu vollbringen“ (Joh 4,34). Das Halten der Gebote des Vaters war auch für Ihn hienieden der göttliche Pfad, auf welchem Er in der Gemeinschaft der Liebe des Vaters, in der Gemeinschaft mit Ihm selbst blieb; und diese Liebe war die stete Erquickung und Freude seines Herzens auf seinem schweren und leidensvollen Pfade durch eine feindselige Welt, die Ihn nicht kannte. Ja, hienieden, wo nichts als Sünde und Elend Ihn umgab, wo Er überall verkannt und mit Verachtung und Spott zurückgestoßen wurde, war die Liebe des Vaters sein einziger und glücklicher Ruheplatz. Und so will seine göttliche Liebe es für uns sein, während wir als Fremdlinge durch diese Welt gehen, die Ihn verworfen und gekreuzigt hat. Aber auch wir können nur dann in der Gemeinschaft und dem Genuss seiner Liebe sein, können nur dann mit einem glücklichen Herzen dorr weilen, wo die wahre Freude sich findet, wenn wir seine Gebote halten, wenn wir in der Kraft des Geistes und des Lebens, das wir durch Ihn empfangen haben, sein Wort bewahren.

Der neue Mensch wird auf dem Pfad durch diese versuchungsreiche Welt nie fragen, ob dieses oder jenes Sünde sei oder nicht, sondern allein danach, ob etwas dem Herrn wohlgefällig und seinen Geboten gemäß ist. Das Leben ans Gott, das uns in Christus geschenkt ist, kann auch bei uns nur in der Abhängigkeit und im Gehorsam seine wahre Befriedigung finden. Durch den Besitz dieses Lebens sind wir zu dem Gehorsam Christi fähig gemacht, d. h. wir sind befähigt und berufen, in derselben Gesinnung und in demselben Geist zu gehorchen, in welchem Er gehorsam war; denn dasselbe Leben, in welchem Er hienieden wandelte, ist unser Leben. Und Er kannte aus Erfahrung den Pfad, auf dem allein die Seinen wahrhaft glücklich sein können. Welch eine Gnade und welch eine Liebe, die uns, solch widerspenstige und feindselige Kreaturen von Natur, zu seinem Gehorsam fähig gemacht hat und uns hienieden schon in dem Genuss und der Freude dieser Liebe wandeln lässt! „Dies habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude erfüllt werde“ (V 11). Es ist sein Wohlgefallen, alles mit den Seinen zu leiten. Er fand in dieser Welt keine wahre Erquickung für sein Herz, und auch wir können sie nicht darin finden. Seine Freude war die Liebe des Vaters, und diese Liebe soll auch unsere Freude sein. Wenn wir dieselbe erkennen und wirklich genießen, so wird unser Herz von Freude erfüllt sein; und dies ist es, was Er für all die Seinen wünscht, während sie durch diese versuchungsreiche Welt gehen.

Im Anschluss an das Vorhergehende kommt nun der Herr zu einer anderen Seite dieses Gegenstandes. Er hatte von der Liebe des Vaters zu Ihm und von der Gemeinschaft dieser Liebe gesprochen, sowie von seiner Liebe zu den Seinen; Er hatte den Jüngern zugleich den göttlichen Pfad gezeigt, auf welchem sie stets in dem Genuss seiner Liebe bleiben würden. Jetzt wendet Er sich zu ihren Beziehungen untereinander, indem Er sagt: „Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, gleich wie ich euch geliebt habe“ (V 12). Dieses Gebot, einander zu lieben, wiederholt der Herr in Vers 17; und in Kapitel 13,34 nennt Er es ein „neues Gebot“, das Er den Seinen gibt. Dies zeigt uns, welch einen Wert Er auf die Ausübung dieser Liebe untereinander legt. So werden wir auch in den Briefen der Apostel öfters durch den Heiligen Geist zur Betätigung gegenseitiger Liebe ermahnt. Ich führe hier nur einige Stellen an: „In der Bruderliebe seid herzlich gegen einander.“ „Alles bei euch geschehe in Liebe.“ „Liebt einander mit Inbrunst aus reinem Herzen.“ Die Liebe ist der wahre Beweis, dass jemand aus Gott geboren und dadurch der göttlichen Natur teilhaftig geworden ist. „Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und ein jeder, der liebt, ist ans Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht gekannt, denn Gott ist Liebe“ (1. Joh 4,7–8).

Indem hat uns die Liebe Gottes, offenbart in der Hingabe seines Sohnes, durch welchen wir das Leben und die Versöhnung empfangen haben, zu Schuldnern in der Liebe zu einander gemacht. Im Blick hierauf sagt der Apostel: „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben“ (1. Joh 4,11). Möchten wir dies nie vergessen! Das Bewusstsein und der Genuss der Liebe Gottes zu uns wird uns stets antreiben, auch anderen Liebe zu beweisen, und uns verhindern, sie von anderen für uns zu fordern, wie dies leider so oft der Fall ist; wenn jemand stets Liebe fordert, aber nie gibt, so gleicht er einem Menschen, der fortwährend geneigt ist, Schulden zu machen, aber nie daran denkt, sie zu bezahlen. Die Liebe, von welcher hier die Rede ist, macht uns zum Diener anderer; sie ist stets auf deren Wohl bedacht und lässt sich durch keine Schwachheit derselben verhindern, ihr Bestes zu suchen; ja, sie steht über den Schwachheiten der Anderen. In 1. Kor 13 wird uns der wahre Charakter und das Verhalten dieser Liebe klar vor Augen gestellt: „Die Liebe ist langmütig, ist gütig, die Liebe eifert nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihrige, sie lässt sich nicht erbittern, sie denkt nichts Böses, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles“ (V 4–7). Wie bestimmt und klar zeigt uns diese Darstellung der Liebe, was unsere Gesinnung und unser Verhalten gegen einander sein sollte!

Der Herr selbst war hienieden ein Gefährte der Seinen und ein Diener in dieser Liebe. Er war stets für sie besorgt, war ihr Schutz und Schirm in allen Gefahren und trug sie in ihren vielen Schwachheiten mit vollkommener Geduld und Langmut. Er belehrte sie unermüdlich in ihrer großen Unwissenheit, wachte über sie in all ihrem Tun und Lassen, ermutigte sie, wenn sie furchtsam waren, tröstete sie in ihrer Traurigkeit und erquickte ihre Herzen durch die Mitteilung dessen, was Er von seinem Vater gehört hatte, und dies alles tat Er mit einer Liebe, die nie verletzt, nie schwach wurde, die nie an sich selbst, sondern nur an sie dachte. Und jetzt fordert Er uns auf, mit derselben Hingebung und Aufopferung uns untereinander zu lieben. Wie gesegnet und ermunternd würde es für uns sein, wenn das Beispiel seiner Liebe, in welcher Er den Seinen hienieden diente, stets lebendig vor unseren Augen stände! Es würde uns immer mehr weise und fähig machen, durch die Kraft des Heiligen Geistes in seinen Fußstapfen zu wandeln.

Dann zeigt uns der Herr die äußerste Grenze dieser gegenseitigen Liebe. „Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde“ (V 13). Das Leben ist das Höchste und Letzte, das wir für unsere Freunde hingeben können. Freilich ist der Herr selbst noch über diese Grenze hinausgegangen. Er hat sein Leben für uns hingegeben, als wir noch Feinde waren. Welch eine Liebe! Und durch diese Liebe hat Er uns zu Schuldnern gemacht, „das Leben für die Brüder darzulegen“ (1. Joh 3,16). Möchten wir nie vergessen, auf welch einen gesegneten Platz Er uns auch im Blick auf den Dienst der Liebe gestellt hat! In ihrer Ausübung erfreuen sich unsere Herzen in dem Bewusstsein, dass der Herr sein Wohlgefallen daran hat, und sind zugleich glücklich in dem Genuss seiner Liebe zu uns.

Wir sind seine Freunde, wenn wir alles tun, was Er uns gebietet (V 14). Er war unser Freund, als Er sein teures Leben dahingab, da wir noch Sünder waren, und jetzt sind wir seine Freunde, wenn wir sein Wort bewahren und in seinen Geboten wandeln. Es geziemt sich für uns der Gehorsam, und zwar nicht ein Gehorsam nach unserem eigenen Gutdünken, sondern ein Gehorsam, der sich in allem, was es auch kosten möge, bereitwillig und völlig seinem Wort unterwirft und allezeit das tut, was vor Ihm wohlgefällig ist. Nur dann beweisen wir uns in Wahrheit als seine Freunde, wenn wir in allem, mag es auch anderen klein und unwichtig erscheinen, seinem Willen, wie Er uns denselben in seinem Wort offenbart hat, unterworfen sind.

Der Herr selbst will uns nach seiner vollkommenen Liebe als Freunde behandeln, indem Er uns zu seinen Vertrauten macht. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut, sondern ich habe euch Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört, euch kundgetan habe“ (V 15). Einem Freund offenbart man seine Geheimnisse und teilt ihm alles mit, was Interesse für ihn hat. So wurde Abraham vor Alters „Freund Gottes“ genannt; denn Gott sprach mit ihm nicht nur von dem, was ihn persönlich betraf, sondern teilte ihm auch das mit, was Er in Bezug auf Sodom zu tun vorhatte, indem Er sagte: „Soll ich vor Abraham verbergen, was ich tue?“ (1. Mo 18,17) So hat auch der Herr den Seinen alles mitgeteilt, was Er von seinem Vater gehört hat, alles, was für sie von Interesse ist und was ihre Herzen erfreuen und erquicken kann. Wo ist eine Liebe wie seine Liebe? Nicht nur hat Er sein teures Leben für uns hingegeben, als wir noch Gottlose und Feinde waren, sondern Er nennt auch jetzt solch schwache und wertlose Geschöpfe, wie wir in uns selbst sind, seine Freunde und macht uns zu Mitwissern seiner Geheimnisse, zu Bewahrern seiner Gedanken. Er hat sowohl von dem zu uns gesprochen, was uns persönlich angeht, als uns auch seine Gedanken bezüglich seiner Wege mit dieser Erde mitgeteilt, und uns in: Voraus mit unserer himmlischen und herrlichen Berufung, mit den Gedanken und Ratschlüssen Gottes, die vor Grundlegung der Welt in Gott verborgen waren, durch den Geist bekannt gemacht. Wie groß ist seine Gnade, seine Herablassung und seine Liebe zu uns! Möchten wir doch stets mit einem dankbaren und anbetenden Herzen daran gedenken und allezeit ihrer würdig zu wandeln suchen!

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel