Botschafter des Heils in Christo 1884

Das Priestertum des Christen

Es gibt in dem obigen Schriftabschnitt drei Worte (1. Pet 2,1–9), welche von besonderer Wichtigkeit sind – Worte von tiefer Bedeutung und Kraft, die uns eine Tatsache vor Augen stellen, deren Tragweite wir nie überschätzen können, nämlich dass das Christentum eine lebendige und göttliche Wirklichkeit ist. Es ist nicht, wie schon oft gesagt, eine Zusammenstellung von Lehrsätzen, so wahr und gut diese sein mögen, noch ein wohlgeordnetes System von Satzungen und Regeln, sondern eine mächtige Wirklichkeit, ein etwas, das sich überall, im Handeln, Reden und Denken kundgibt, eine göttliche und himmlische Macht, eingeführt in die Umstände dieses Lebens und angewandt auf alles, womit wir zu tun haben mögen. Es ist das Leben Christi, das dem Gläubigen mitgeteilt ist, in ihm wohnt und von ihm ausstießt, das sich in all den tausenderlei Dingen des täglichen Lebens kundgibt. Es trägt nichts Asketisches oder Mönchisches an sich. Es ist, mit einem Wort, Christus, wohnend in dem Gläubigen und dargestellt von demselben durch die Kraft des Heiligen Geistes in allen Einzelheiten seines praktischen Lebens. Das ist Christentum, so wie das Neue Testament es uns vorstellt.

Indem wir uns jetzt zu jenen drei Worten wenden, möge der Heilige Geist uns in ihre gesegnete Bedeutung einführen und sie unseren Herzen tief einprägen. Zunächst finden wir das Wort „lebendig.“ „Zu welchem kommend, als zu einem lebendigen Stein, von Menschen zwar verworfen, aber vor Gott auserwählt, kostbar, seid auch ihr selbst, als lebendige Steine, aufgebaut“ (V 4–5).

In diesen Worten finden wir gleichsam die Grundlage des christlichen Priestertums. Sie erinnern uns lebhaft an jene bemerkenswerte Unterhaltung zwischen dem Herrn Jesus und seinen Jüngern, welche uns in Matthäus 16 mitgeteilt wird, und der wir unsere Aufmerksamkeit für einen Augenblick zuwenden wollen. Wir lesen in dem 16. Verse des genannten Kapitels: „Als aber Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi gekommen war, fragte Er seine Jünger und sprach: Wer jagen die Menschen, dass ich, der Sohn des Menschen, 1 sei? Sie aber sagten: Etliche: Johannes der Täufer; andere aber: Elias; andere aber: Jeremias, oder einer der Propheten.“

Endlos verschieden waren die Meinungen und Ansichten des Menschen über den gepriesenen Sohn Gottes, einfach, weil nicht wirklich das Herz dabei beteiligt war. Die Einen sagten dieses, die Anderen jenes, in Wirklichkeit aber lag niemandem etwas daran, wer oder was Jesus war, und deshalb wendet Er sich von all dieser herzlosen Spekulation ab und richtet die bestimmte Frage an die seinen: „Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ Er wünschte zu wissen, was sie von Ihm hielten – welch eine Meinung ihre Herzen sich von Ihm gebildet hatten. „Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“

Dieses wahrhaftige Bekenntnis enthält das unerschütterliche Fundament des ganzen Gebäudes der Kirche Gottes und alles wahren praktischen Christentums, und dieses ist „Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ An die Stelle unbestimmter Schatten, kraftloser Formen und lebloser Satzungen ist die göttliche Wirklichkeit getreten – alles ist durchdrungen von diesem neuen, göttlichen und himmlischen Leben, welches in diese Welt gekommen und allen mitgeteilt worden ist, die an den Namen des Sohnes Gottes glauben.

„Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Glückselig bist du, Simon, Bar Jona, denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. Aber auch ich sage dir, dass du bist Petrus; und auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen.“ Unzweifelhaft bezieht sich Petrus auf diese herrlichen Worte, wenn er in seinem Brief sagt: „Zu welchem kommend, als zu einem lebendigen Stein ... seid auch ihr, als lebendige Steine dieselben (Worte) aufgebaut.“ Alle, welche an Jesus glauben, haben teil an seinem siegreichen Auferstehungsleben. Das Leben Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes, strömt durch alle seine Glieder und durch ein jedes in Sonderheit. So haben wir den lebendigen Gott, den lebendigen Stein und lebendige Steine. Alles ist Leben, und zwar ein Leben, das herabfließt aus einer lebendigen Quelle, durch einen lebendigen Kanal, und das sich so allen Gläubigen mitteilt und sie zu lebendigen Steinen macht.

Dieses Leben ist nach allen Seiten hin geprüft und versucht worden, aber aus allen Proben siegreich hervorgegangen. Es ist durch Tod und Gericht hindurchgegangen und kann deshalb nie wieder irgendeiner Probe oder einem Gericht unterworfen werden. Alle die Wogen und Wellen des göttlichen Zornes sind über demselben zusammengeschlagen, aber es ist gleichsam an der anderen Seite, in der Auferstehung, in göttlicher Herrlichkeit und Macht, hervorgekommen. Es ist ein siegreiches, göttliches und himmlisches Leben und dem Bereich aller Mächte der Finsternis entrückt. Keine irdische oder höllische Macht kann dieses Leben antasten, welches jeder Stein an dem „geistlichen Haus“ Gottes, auch der kleinste und unbedeutendste, besitzt. Alle Gläubige sind aufgebaut auf den lebendigen Stein, Christus, und sind so zu lebendigen Steinen gemacht. Er macht sie in jeder Beziehung sich selbst gleich, ausgenommen natürlich seine Gottheit. Ist Er ein lebendiger Stein, so sind auch sie lebendige Steine. Ist Er ein kostbarer Stein, so sind auch sie kostbare Steine. Ist Er ein verworfener Stein, so sind auch sie verworfene Steine, verworfen von den Menschen. Sie sind in jeder Beziehung mit Ihm eins gemacht. Welch ein unschätzbares Vorrecht!

Hierin also beruht, wir wiederholen es, die unerschütterliche Grundlage des christlichen Priestertums, des Priestertums aller Gläubigen. Bevor irgendjemand ein geistliches Schlachtopfer darbringen kann, muss er in einfältigem Glauben zu Christus kommen und auf Ihn aufgebaut werden, auf Ihn, das Fundament des ganzen geistlichen Hauses. „Denn es ist in der Schrift enthalten (Jes 28,16): Siehe, ich lege in Zion einen Eckstein, einen auserwählten, kostbaren, und wer an Ihn glaubt, wird nicht beschämt werden.“ Wie köstlich sind diese Worte! Gott selbst hat das Fundament gelegt, und dieses Fundament ist Christus, und alle, welche einfältig an diesen Christus glauben – alle, welche Ihm das Vertrauen ihrer Herzen geben – alle, welche in Ihm mit völliger Sicherheit ruhen, sind zu Teilhabern seines Auferstehungslebens und so zu lebendigen Steinen gemacht.

Wie einfach und gesegnet ist dieses! Wir werden nicht aufgefordert, an dem Legen des Fundamentes zu helfen. Wir sind nicht berufen, auch nur das Geringste dazu beizutragen. Gott hat das Fundament gelegt, und alles, was uns zu tun übrigbleibt, ist, zu glauben und auf diesem Fundament zu ruhen. Gott selbst verpfändet sein Wort, dass wir nie beschämt werden sollen. Der schwächste Gläubige besitzt die gnädige Versicherung aus Gottes eigenem Mund, dass er nie beschämt werden, nie ins Gericht kommen wird. Er ist so frei von aller Schuld und Verdammnis, wie der lebendige Felsen, auf welchen er aufgebaut ist.

Geliebter Leser, ruhst du auf dieser unerschütterlichen Grundlage? Bist du auf Christus aufgebaut? Bist du zu Ihm gekommen, als dem lebendigen Steine Gottes und hast du Ihm das ganze Vertrauen deines Herzens geschenkt? Bist du mit der Grundlage, welche Gott gelegt hat, völlig zufrieden? Oder fuchst du etwas von dir selbst hinzuzufügen – deine Werke, deine Gebete, deine Satzungen, deine guten Vorsätze und Gelübde, deine religiösen Pflichten? Wenn es so ist, wenn du das Geringste zu dem Christus Gottes hinzufügen willst, so kannst du versichert sein, dass du beschämt werden wirst. Gott wird nicht erlauben, dass seinem geprüften, auserwählten, kostbaren Ecksteine eine solche Verunehrung zugefügt werde. Meinst du, dass Er es dulden könne, dass irgendetwas – sei es, was es sei – neben seinen geliebten Sohn gestellt werde, um mit Ihm die Grundlage seines geistlichen Hauses zu bilden? Der bloße Gedanke wäre eine Entehrung Christi. Nein, nein, es muss Christus allein sein. Er ist genug für Gott, und deshalb darf Er auch wohl genug für uns sein. Nichts ist gewisser, als dass alle, welche den kostbaren Eckstein Gottes verwerfen, oder sich von der Grundlage, die Er gelegt hat, abwenden oder ihr etwas hinzufügen wollen, ewiger Beschämung anheimfallen werden.

Doch lasst uns jetzt einen Blick auf das Gebäude werfen, welches auf jene kostbare Grundlage errichtet ist. Dies wird uns zu dem Zweiten unserer drei wichtigen Worte führen. „Zu welchem kommend, als zu einem lebendigen Stein ... seid auch ihr selbst, als lebendige Steine, aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer Gott wohlannehmlich durch Jesus Christus.“ Alle wahre Gläubige sind heilige Priester. Sie sind durch ihre geistliche Geburt dazu gemacht, gerade so wie die Söhne Aarons kraft ihrer natürlichen Geburt Priester waren. Der Apostel sagt nicht: Ihr solltet lebendige Steine, und ihr solltet heilige Priester sein, sondern: ihr seid es. Da wir nun solche sind, so sind wir auch ohne Zweifel berufen, dementsprechend zu handeln. Aber wir können nicht eher die Pflichten, welche mit einer Stellung verbunden sind, erfüllen, bis wir uns in dieser Stellung befinden: und wir können nicht eher die Gefühle und Zuneigungen, die aus einem Verhältnis hervorfließen, verstehen und genießen, bis wir in demselben sind. Wir werden nicht dadurch Priester, dass wir geistliche Schlachtopfer darbringen; sondern indem wir durch die Gnade zu Priestern gemacht sind, sind wir berufen, Schlachtopfer darzubringen. Wenn wir auch tausend und mehr Jahre zu leben hätten und diese ganze Zeit dazu verwenden würden, uns in die Stellung eines heiligen Priesters hineinzuarbeiten, so würde es uns doch nimmermehr gelingen. Aber in demselben Augenblick, da wir in einfältigem Glauben zu Jesu kommen, werden wir in die Stellung von heiligen Priestern hineingeboren und haben dann das Vorrecht, Gott zu nahen und Ihm die priesterlichen Opfer zu bringen. Wie hätte im Alten Testament ein Mensch sich selbst zu einem Sohn Aarons machen können? Unmöglich. Aber wenn er zu der Familie Aarons gehörte, so war er dadurch auch ein Glied des priesterlichen Geschlechts. Wir reden jetzt natürlich nicht von der Fähigkeit zum Priesterdienst, sondern einfach von der Stellung. Diese wurde nicht durch irgendwelche Anstrengung erreicht, sondern gehörte den Söhnen Aarons infolge ihrer Geburt.

Forschen wir jetzt nach der Natur der Opfer, welche wir als heilige Priester zu bringen das Vorrecht haben, so lesen wir, dass wir berufen sind, „geistliche Schlachtopfer darzubringen, Gott wohlannehmlich durch Jesus Christus.“ Ebenso heißt es in Hebräer 13,15: „Durch Ihn nun lasst uns Gott stets das Opfer des Lobes Darbringen, das ist die Frucht der Lippen, welche seinen Namen bekennen.“ Das also ist die Natur, der wahre Charakter der Schlachtopfer, welche wir als heilige Priester darbringen sollen. Es ist das Lob Gottes, ein stetes, unaufhörliches Lob. Welch ein gesegneter Dienst! Welch eine himmlische Beschäftigung! Und unser Lob soll nicht nur ein gelegentliches sein, wir sollen es nicht nur in einem besonders begünstigten Augenblick darbringen, wenn alles um uns her lieblich und angenehm ist; es soll nicht nur dann ertönen, wenn wir mit anderen Gläubigen versammelt sind und unter der Leitung des Geistes und dem Segen des Herrn alle Herzen von Lob und Dank überströmen. Nein, unser Lob soll ein stetes, ununterbrochenes sein, befinden wir uns in glücklichen oder schwierigen Umständen, sind wir in der Versammlung, im Familienkreis oder bei unserer Arbeit. Ich sage nicht, dass wir unaufhörlich auf unseren Knien liegen oder Loblieder zum Preis Gottes singen sollten. Das ist unmöglich. Aber unsere Herzen sollten sich stets in einem Zustand des Lobes und der Anbetung Gott gegenüber befinden.

Heilige Priester sind Gott nahegebracht in heiliger Freiheit, in Frieden und Segnung. Sie atmen die Atmosphäre und wandeln in dem Licht der göttlichen Gegenwart, in der neuen Schöpfung, wo es nichts gibt, was die Seele trübe und unzufrieden stimmen könnte. Wenn wir daher einen Christen finden, der sich in häufigen Klagen über seine Lage und Umstände, über seine Mitbrüder, seine Freunde und Nachbarn ergeht, so können wir sicher annehmen, dass er seine Stellung als heiliger Priester nicht verwirklicht und infolge dessen die praktischen Früchte derselben nicht bringt. Ein heiliger Priester, der seinen Platz wirklich versteht und einnimmt, wird stets glücklich sein und stets Gott preisen. Er mag in tausenderlei Weise versucht und geprüft werden, aber Er bringt seine Prüfungen vor Gott, anstatt sie seinen Mitmenschen zu klagen. „Halleluja!“ ist der passende Ausdruck für den Mund eines jeden Gliedes des christlichen Priestertums.

Wir kommen jetzt zu dem dritten und letzten Teil unserer Betrachtung. Der Apostel fährt fort zu sagen: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen verkündigt, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“ Diese Worte vollenden das liebliche Gemälde des christlichen Priestertums. 2 Als heilige Priester nahen wir uns Gott und bringen die Opfer des Lobes dar. Als königliche Priester gehen wir unter unsere Mitmenschen, um in allen Einzelheiten des täglichen Lebens, in Wort und Wandel die Tugenden, d. h. die lieblichen moralischen Charakterzüge Christi zu verkündigen. Jeder Schritt, jede Handlung eines königlichen Priesters sollte von dem Wohlgeruch der Tugenden Christi umgeben sein.

Beachten wir wiederum, dass der Apostel nicht sagt: „Ihr solltet königliche Priester sein.“ Er sagt: „Ihr seid es“; und wir haben als solche die Tugenden Christi zu verkündigen. Nichts anders als das geziemt einem Glied des königlichen Priestertums. Mit mir selbst beschäftigt zu sein, meine Interessen, mein Vergnügen zu suchen und meine eignen Zwecke zu verfolgen, das ist durchaus nicht der Stellung eines königlichen Priesters entsprechend. Christus tat dies nie, und ich bin berufen, seine Tugenden zu verkündigen. Er gibt – gepriesen sei sein Name dafür! – den Seinen das Vorrecht, schon in dieser Zeit seiner Abwesenheit im Voraus jenen Tag darzustellen, an welchem Er als ein königlicher Priester erscheinen und, auf seinem Thron sitzend, den wohltätigen, gesegneten Einfluss seiner Herrschaft bis an die Enden der Erde geltend machen wird. Wir sind berufen, der gegenwärtige Ausdruck des Reiches Christi, der Ausdruck seiner selbst zu sein.

Niemand denke, dass die Tätigkeit eines königlichen Priesters sich nur auf Geben und Mitteilen beschränke. Das wäre ein grober Irrtum. Ohne Zweifel wird ein königlicher Priester mitteilen, und zwar freigebig mitteilen, wenn er dazu imstande ist; aber wollte man den Bereich seines Wirkens allein hierauf beschränken, so würde man ihn einiger der kostbarsten Obliegenheiten seiner Stellung berauben. Derselbe Apostel, dessen Worte wir eben jetzt betrachten, sagte bei einer Gelegenheit, ohne sich irgendwie zu schämen: „Silber und Gold habe ich nicht“; und doch handelte er gerade in jenem Augenblick als ein königlicher Priester, indem er die kostbaren Tugenden des Namens Jesu auf den lahmen Menschen, der an der Pforte des Tempels saß, einwirken ließ (Apg 3). Unser gepriesener Herr und Meister selbst besaß wohl nie einen Pfennig, aber dennoch ging Er umher und tat Gutes. Dasselbe sollten wir tun, und es ist durchaus verkehrt, wenn wir meinen, Geld dazu nötig zu haben. Es geschieht im Gegenteil gar oft, dass wir mit unserem Silber und Gold, statt des Guten, das wir tun wollen, Unheil anrichten. Vielleicht entfernen wir denjenigen, welchem wir mitteilen, von dem Boden, auf welchen Gott ihn gestellt hat, nämlich von dem Boden des ehrlichen Fleißes, und machen ihn von menschlichen Almosen abhängig. Zugleich ist Gefahr vorhanden, dass wir durch unseren unweisen Gebrauch des Geldes die Empfänger zu Heuchlern machen.

Möge daher niemand denken, dass er ohne irdische Reichtümer nicht als ein königlicher Priester handeln könne. Welche Reichtümer sind nötig, um ein freundliches Wort zu sprechen, oder eine Träne des Mitgefühls zu vergießen? Keine außer den Reichtümern der Gnade Gottes, den unerschöpflichen Reichtümern Christi, welche auch dem geringsten Glied des christlichen Priestertums offenstehen. Ich mag keinen Pfennig in der Welt mein Eigen nennen können und dennoch in gesegneter Weise als ein königlicher Priester handeln, indem ich den Wohlgeruch der Tugenden Christi um mich her verbreite.

Bevor wir diesen Gegenstand verlassen, möchte ich den Blick des Lesers noch auf eine höchst lebendige Darstellung der eben behandelten Wahrheiten richten, auf die Geschichte zweier geliebter Knechte Christi, welche befähigt wurden, unter den entmutigendsten Umständen als heilige und königliche Priester tätig zu sein. Ich meine die Geschichte der Apostel Paulus und Silas im Gefängnis zu Philippi, wie sie uns in Apostelgeschichte 16,19–34 mitgeteilt ist. Wir finden diese beiden Männer dort im tiefsten Kerker, ihre Rücken mit blutigen Striemen bedeckt, ihre Füße im Stock, in der Finsternis der Mitternacht. Was tun sie? Kommen Klagen und murrende Worte aus ihrem Mund hervor? O nein! Sie hatten etwas Besseres und Schöneres zu tun. Hier waren zwei wahrhaft „lebendige Steine“, und nichts, was die Bosheit Satans und der durch ihn geleiteten Menschen tun mochte, konnte das Leben, das in ihnen war, verhindern, sich in der ihm eigentümlichen Weise zu offenbaren.

Doch was taten die beiden treuen Männer? Womit beschäftigten sie sich? Nun, zunächst brachten sie als heilige Priester ihrem Gott das Opfer des Lobes dar. Ja, „um Mitternacht beteten Paulus und Elias und lobsangen Gott.“ Wie kostbar und wahrhaft erquickend ist dies! Was waren Striemen und Kerkermauern für diese lebendigen Steine und heiligen Priester? Nichts mehr als ein dunkler Hintergrund, von welchem sich die glänzenden Strahlen der lebendigen Gnade, die in ihnen wirksam war, nur umso heller abhoben. Was waren die Umstände für sie? Nichts. Wir alle kennen nur wenig von solchen Umständen, die den Glauben wirklich auf die Probe stellen. Arme Geschöpfe, wie wir sind, verlieren wir oft schon bei den kleinen Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens unsere Ruhe und unser Vertrauen. Paulus und Silas befanden sich wirklich in einer schwierigen, ihren Glauben erprobenden Lage; aber sie waren darin als lebendige Steine und heilige Priester.

Doch nicht nur als heilige, sondern auch als königliche Priester sehen wir sie tätig. In welcher Weise? Sicherlich nicht, indem sie Silber und Gold ausstreuten. Sehr wahrscheinlich besahen die teuren Männer von beiden, nur wenig oder gar nichts. Aber sie hatten etwas weit Besseres: „die Tugenden dessen, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hatte.“ Und wie kamen diese Tugenden zum Vorschein? In jenen rührenden Worten, welche sie an den Kerkermeister richteten: „Tue dir nichts Nebels.“ Das waren Worte eines königlichen Priesters, so wie der Lobgesang aus dem Mund heiliger Priester hervorgekommen war. Gott sei Dank für beides! Die Stimmen der heiligen Priester stiegen unmittelbar zum Thron Gottes empor und taten dort ihr Werk, und die Worte der königlichen Priester drangen mit Macht in das harte Herz des Kerkermeisters und schmolzen die Eisrinde, welche sich um dasselbe gelegt hatte. Gott wurde verherrlicht und der Kerkermeister errettet dadurch, dass diese beiden Männer die Obliegenheiten des „christlichen Priestertums“ in treuer und richtiger Weise erfüllten.

Fußnoten

  • 1 Der Leser wolle diesen Titel des Herrn wohl beachten. Er ist von hoher Kostbarkeit. Er deutet einerseits die Verwerfung unseres Herrn als des Messias an und lenkt andererseits unsere Gedanken auf jenen unermesslichen Bereich, über welchen Er nach den Ratschlüssen Gottes dereinst zu herrschen bestimmt ist. Er umfasst weit mehr, als der Titel „Sohn Davids“ und ist von besonderer Lieblichkeit für uns, da er den Herrn als den einsamen, verworfenen Fremdling vor unsere Augen stellt, und zugleich als den, der sich in vollkommener Gnade mit uns in allen unseren Bedürfnissen verbindet, dessen Fußstapfen wir in dieser öden Wüste zu erkennen vermögen. „Der Sohn des Menschen hat nicht, wo Er das Haupt hinlege.“ Und doch wird Er gerade als der Sohn, des Menschen dereinst jene unumschränkte Herrschaft ausüben, welche nach den ewigen Ratschlüssen Gottes für Ihn aufbewahrt ist.
  • 2 Ich brauche den einsichtsvollen Leser wohl nicht daran zu erinnern, dass alle Gläubige Priester sind, und dass es keinen wahren Priester auf der Erde geben kann, es sei denn in dem angedeuteten Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Der Gedanke an eine gewisse Anzahl und Klasse von Männern, die sich selbst Priester nennen, im Gegensatz zu dem Volk oder den Laien, und die sich in Titel und Kleidung von den übrigen Christen unterscheiden, ist nicht dem Christentum entnommen, er ist durchaus jüdisch, um nicht mehr zu sagen. Ein jeder, der vorurteilsfrei das Wort Gottes prüft und sich seiner Autorität unterwirft, ist völlig klar über diese Dinge.
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