Botschafter des Heils in Christo 1884

Die beiden Geheimnisse - Teil 1/3

Die beiden großen Gegensätze: Licht und Finsternis, Gutes und Böses, haben, eben weil sie Gegensätze sind, ein jeder seinen eignen, von dem anderen völlig getrennten Kreis der Entwicklung und Offenbarung. Und da die Geschichte eines jeden Menschen ohne Ausnahme entweder mit dem Einen oder mit dem Anderen dieser beiden Kreise verflochten ist, so ist die Unkenntnis oder Nichtbeachtung jener Tatsache umso verhängnisvoller für ihn, als es sich dabei um sein ewiges Wohl oder Wehe handelt. Wie überhaupt in göttlichen Dingen, so kommt auch hier die Weisheit des Menschen zu kurz; dennoch lässt ihn das Wort Gottes ohne alle Entschuldigung, und nichts rächt sich schrecklicher an ihm, als Gleichgültigkeit gegen dieses Wort. Der Augenblick naht mit raschen Schritten heran, wo das, was jetzt noch in den Schleier des Geheimnisses eingehüllt ist, vor aller Augen offenbar sein wird, aber dann leider für viele zu spät. Nicht umsonst finden wir daher zu so wiederholten Malen die eindringliche Ermahnung in der Schrift: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“

Das Wort Gottes fasst gleichsam die beiden Kreise oder Sphären des Lichtes und der Finsternis in den beiden Geheimnissen, demjenigen der „Gottseligkeit“ und dem „der Gesetzlosigkeit“ (1. Tim 3,16; 2. Thes 2,7), oder vielmehr in den beiden Personen, welche jene beiden Gegensätze darstellen, in „dem Menschen Christus Jesus“ und „dem Menschen der Sünde, dem Sohn des Verderbens“ (1. Tim 2,5; 2. Thes 2,3), zusammen. In ersterem haben wir den Mittelpunkt und den vollkommenen Ausdruck des Lichtes, in letzterem den der Finsternis. In genauer und untrüglicher Weise bezeichnet uns das Wort Gottes in den beiden Personen die Grenzen, welche Licht und Finsternis, sowie das, was in ihren beiderseitigen Bereich gehört, voneinander trennen, und sichert uns auf diese Weise gegen jede Täuschung. Wir bedürfen im Dienst des Herrn, wie auch zu unserer eignen Sicherheit und Förderung, vor allem ein klares Unterscheidungsvermögen zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gutem und Bösem. Die Schrift bezeichnet diejenigen, welchen dieses Vermögen mangelt, als „Unmündige.“ Wie kann ein Soldat auf Vorposten seine Pflichten erfüllen, wenn er den Feind nicht kennt? Wie kann man sich von dem Bösen trennen, wenn man es nicht zu unterscheiden versteht? Oder wie das richtige Ziel erreichen, wenn man des Weges unkundig ist? Der Priester des alten Bundes hätte nicht ein Priester nach den Gedanken Gottes, noch ein Lehrer des Volkes sein können, wenn er nicht fähig gewesen wäre, „zu unterscheiden zwischen dem Heiligen und Unheiligen und – zwischen dem Reinen und Unreinen“ (3. Mo 10,10–11). Und der Prophet sollte nur dann wie „der Mund Gottes“ sein, wenn er verstand, „das Köstliche von dem Schlechten abzusondern“ (Jer 15,19). Gott hat nun in seinem kostbaren Worte, wie schon bemerkt, das Köstliche wie das Schlechte so klar und bestimmt bezeichnet, dass man sich nicht täuschen kann, es sei denn, dass man „unerfahren ist im Wort der Gerechtigkeit.“ Ein Priester konnte ganz unzweifelhaft wissen, was heilig und unheilig war, wenn er nur auf die Vorschriften des Wortes achtete. Aber wenn dieses Achten auf das Wort unter der Leitung des Geistes uns nicht zur Gewohnheit wird, so kann es nicht ausbleiben, dass es uns an „geübten Sinnen zur Unterscheidung des Guten und des Bösen“ mangelt, und dass wir als „Unmündige bin und her geworfen und umher getrieben werden von jeglichem Wind der Lehre, die da kommt durch die Betrügerei der Menschen, durch die Verschlagenheit zur listigen Kunst der Verführung“ (Heb 5,13–14; Eph 4,14). Die geistliche Unterscheidung geht immer der praktischen Trennung vom Bösen und dem Festhalten am Guten voraus.

Die Charakterzüge, welche uns die Schrift von dem Herrn Jesus und dem Menschen der Sünde mitteilt, zeigen uns klar und deutlich die beiden in dem Guten und dem Bösen wirkenden Grundsätze: den Gehorsam oder die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes in dem einen, und den Ungehorsam oder die Wirksamkeit des Willens des Menschen in dem anderen Fall. Durch diese beiden Grundsätze wird die Grenzlinie zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gutem und Bösem scharf und klar bezeichnet.

Vor dem Sündenfall konnte die Frage zwischen Gut und Böse nicht erhoben werden, weil alles mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung war. „Und Gott sah alles, was Er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (1. Mo 1,31). Sobald jedoch der Mensch, das Haupt der Schöpfung, den Platz der Abhängigkeit von Gott verließ, indem er seinem eignen Willen folgte, war die zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf bestehende Harmonie gestört und die Schöpfung in Unordnung gebracht. Der Mensch befand sich im Widerspruch oder besser gesagt in Auflehnung gegen Gott. Die Autorität Gottes war in Frage gestellt; und dies ist der wahre Charakter des Bösen und der Natur des gefallenen Menschen – sie ist Feindschaft wider Gott. „Weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7). Wir reden hier nicht von der Form, in welcher das Böse auftritt, sondern von dem darin wirkenden Grundsatz. Und dieser in der Sünde Adams im Garten Eden hervortretende Grundsatz wird auch später den „Gesetzlosen“ kennzeichnen, nur mit dem Unterschied, dass in dem letzteren die Wirksamkeit dieses Grundsatzes in seiner vollendeten Form erscheinen wird. Der Mensch hat seit seinem Fall einen verdorbenen Willen, und alles, was aus demselben hervorgeht, ist grundsätzlich böse und umso schlimmer, je mehr es den Schein des Guten annimmt. Da, wo dieser Wille wirksam ist, ist moralisch die Sphäre des Bösen, in welch verschiedenen Formen er sich auch kundgeben mag.

Der dem Menschen als einem Geschöpf angewiesene Platz war der des Gehorsams gegen seinen Schöpfer, welcher als solcher diesen Gehorsam verlangen konnte und musste, wenn anders die bestehenden Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen, und die Ordnung in der Schöpfung, über welche dieser als Haupt gesetzt war, aufrechterhalten bleiben sollten. Dies ist ein Grundsatz, der sich in allen Verhältnissen selbst des menschlichen Lebens wiederholt, und ohne welchen keine Ordnung bestehen kann. Und da Gott die alleinige Quelle des Guten, des Lichtes und der Liebe ist, so konnte folglich der Eigenwille des Menschen nur böse, und die Folgen seines Ungehorsams konnten nur verderblich sein. Indem der Mensch seinen eignen Willen tat, raubte er gleichsam Gott seinen Platz und setzte sich an dessen Stelle.

Man spricht oft von einem freien Willen des Menschen. Aber wenn der Mensch einst frei war, zu wählen zwischen dem Guten und Bösen, so hat er durch seine Wahl bewiesen, was dieser freie Wille ist – er hat das Böse gewählt, als er im Besitz und Genuss des Guten war. Was soll man jetzt von ihm erwarten, nachdem er gezeigt hat, dass sein Wille böse ist? Im Blick ans den gefallenen Menschen von einem freien Willen zu reden, ist nur Anmaßung und Torheit; denn alle die Proben, in welche Gott ihn auf jede erdenkliche Weise geführt und worin Er ihm die Wahl zwischen dem Guten und Bösen gelassen hat, haben zur Genüge die Unverbesserlichkeit seiner aufrührerischen Natur gezeigt; und der Gesetzlose am Ende der Tage wird dies in der vollendetsten Weise tun. In ihm wird der Grundsatz des Bösen und der wahre Zustand des natürlichen Menschen in seiner nackten Wirklichkeit erscheinen.

Hören wir, wie das Wort Gottes ihn schildert: „Und der König wird tun nach seinem Wohlgefallen und wird sich erheben und großmachen über allen Gott und wird Wunderliches reden Wider den Gott der Götter.“ – „Welcher widersteht und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und stellt sich selbst dar, dass er Gott sei.“ – „Und du, du sprachst in deinem Herzen: Zum Himmel will ich hinaufsteigen, über die Sterne Gottes meinen Thron erhöhen und mich setzen auf den Berg der Zusammenkunft an der Seite gegen Norden. Ich will über die Höhen der Wolken steigen, will gleich werden dem Höchsten“ (Dan 11,36; 2. Thes 2,4; Jes 14,13–14).

Der Wille des Menschen, das, was ihn zu allen seinen Handlungen seit dem Fall Adams geleitet hat, bezweckt nichts anders, als Gott beiseite und sich selbst an dessen Stelle zu setzen. Dass Gott in seiner göttlichen Langmut und Geduld durch verschiedene Mittel und Wege bis jetzt diesen Willen in Schranken gehalten hat, ist eine andere Sache; doch ist derselbe wirksam und wartet nur auf die Entfernung dieser Schranken, um sich alsdann in seinem wahren. Charakter zu offenbaren.

Ein Blick auf die Geschichte des Menschen, vom Paradies bis zum gegenwärtigen Augenblicke bestätigt dieses. Kaum hat er das Paradies durch seinen Ungehorsam verloren, so sehen wir ihn mit reißender Schnelligkeit auf der Bahn des Bösen fortschreiten und die Erde mit Gewalttat erfüllen, so dass Gott mit dem Gericht der Sintflut dazwischentreten muss. Und kaum ist die Erde wiederhergestellt, so zeigt sich der Grundsatz des Eigenwillens und der Gewalttätigkeit von neuem in Nimrod, dem Gründer Babels, und gleich darauf in dem Streben des Menschen, sich durch die Erbauung des Turmes zu Babel einen Namen zu machen. Späterhin unter dem Gesetz suchte Gott durch Verheißungen den Menschen zum Gehorsam zu bewegen, aber dieser übertrat das Gesetz. Zuletzt sandte Er seinen eingeborenen Sohn. Doch was war die Sprache des Menschen diesem gegenüber? „Kommt, lasst uns Ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen!“ „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche.“ Das war der letzte Versuch Gottes, die letzte Probe, auf welche der Mensch gestellt wurde. Da er auch diese nicht bestand, so blieb für die Welt nichts anders übrig als Gericht. „Jetzt ist das Gericht der Welt“, sagt der Herr. Nichtsdestoweniger wandte sich Gott in seiner unendlichen Langmut noch nicht von dem Menschen ab. Vielmehr ließ Er ihm in dem Christentum unumschränkte Gnade sowie die reichsten Segnungen anbieten. Aber wieder war dieses kaum eingeführt, als sich auch schon von neuem der Grundsatz des Bösen, der Wille des Menschen wirksam erwies.

Wenn noch irgendein Heilmittel für den Zustand des gefallenen Menschen dagewesen wäre, so hätte es das Christentum sein müssen. Aber die Geschichte der Kirche lehrt uns, dass auch diese Offenbarung der vollkommenen Liebe und unumschränkten Gnade Gottes den feindseligen Willen des Menschen nicht zu besiegen vermochte. Denn schon gleich im Anfang hören wir den Apostel sagen: „Schon ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit wirksam“ (2. Thes 2,7). Dies war in gewissem Sinn immer der Fall von Adam an. Aber die unvollkommene Weise, in welcher Gott sich im alten Bunde offenbarte, ließ das Böse nicht so sehr in diesem Charakter erscheinen. Derselbe zeigte sich aber immer mehr, je mehr das Licht der Offenbarung zunahm.

Das Christentum nun ist die vollkommene Offenbarung Gottes selbst, herabgekommen in der Person Christi in unumschränkter Gnade und Liebe für den verlorenen Sünder. Gott ist gleichsam aus dem Dunkel seiner Verborgenheit hervorgetreten und zeigt sich, wie Er ist, in der ganzen Herrlichkeit seiner Natur und seines Wesens, als Licht und Liebe. Nichts anderes bleibt jetzt übrig für den Menschen, als sich ebenfalls zu zeigen, wie er ist. Er wird so zu sagen durch die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes genötigt, sich in seiner wahren Gestalt darzustellen, als „der Gesetzlose, der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens“, dessen Wille nichts anders ist, als der unverbesserliche Grundsatz des Bösen: die „Gesetzlosigkeit.“ Das Kreuz ist der moralische Beweis von dieser Tatsache; der tatsächliche Beweis davon wird erst dann gesehen werden, wenn die Schranke beseitigt ist, welche Gott bis zur Erfüllung seiner anderweitigen Absichten aufrecht hält. Sicherlich ist der Zustand des Menschen und seine Feindschaft gegen Gott am Kreuzvollständig erwiesen worden, und die ganze Welt ist des Todes des Herrn schuldig. Aber erst bei der Offenbarung des Gesetzlosen finden wir die ganze Welt tatsächlich in offenbarer Empörung gegen den Herrn begriffen. Bis dahin trägt die Gesetzlosigkeit den Charakter des „Geheimnisses“, und zwar deshalb, weil sie sich in das Gewand der Gottseligkeit eingehüllt hat. Das Böse hat den Schein des Guten angenommen, und das ist seine schlimmste und bei weitem gefährlichste Form, weil es so am leichtesten täuschen kann. Was wir in der bekennenden Kirche sehen, ist nicht der offenbare Widerstand gegen das Gute, sondern vielmehr eine Nachahmung desselben. Wohl hat sie von Zeit zu Zeit einen solchen Widerstand in der Verfolgung der wahren Christen an den Tag gelegt, wenn diese es wagten, den Schleier des Geheimnisses zu lüften und den wahren Charakter der bekennenden Kirche ans Licht zu stellen; aber auch selbst diesem Widerstand wussten sie den Schein der Gerechtigkeit zu geben.

Die bekennenden Massen werden durch diesen Schein der Gottseligkeit getauscht, aber nicht nur sie, sondern auch leider viele wahre Gläubige, welche das Böse nur nach seiner äußeren Form und nicht nach seinem Grundsatz beurteilen. Wenn einmal der Gesetzlose offenbart sein wird, dann ist die Gesetzlosigkeit kein Geheimnis mehr; trotzdem aber ist sie bis dahin immer die Gesetzlosigkeit, selbst wenn sie die Form der Gottseligkeit trägt. Sie täuscht nur umso mehr, je mehr sie sich der Wahrheit nähert. Der Mensch kann alle, Formen des Christentums nachahmen, und er hat es getan; aber indem er dabei nach seinem eignen Willen handelte, hat er dasselbe nur verdorben und seines wahren Charakters beraubt, und er befindet sich im Widerstand gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in der Kirche. Das ist das Geheimnis der Gesetzlosigkeit. Am Ende richtet sich dieser Widerstand gegen Christus selbst bei seiner Erscheinung in Herrlichkeit und nimmt dann den Charakter der offenbaren Empörung an. Jetzt hat er noch einen geistigen Charakter, da er sich gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes richtet, wodurch dessen Gegenwart tatsächlich geleugnet und seine Person verachtet wird. Dieser Sünde der Gesetzlosigkeit macht sich ein jeder teilhaftig, der sich anmaßt, die Kirche und ihre Angelegenheiten nach seinem eignen Willen zu regeln und zu leiten, entgegen den Anordnungen des Wortes Gottes und unabhängig von der Leitung des Heiligen Geistes. Und ach! In welch ausgedehntem Maß geschieht dieses nicht allein in den großen Staatskirchen, sondern auch mehr oder weniger in allen Parteien, und zwar nicht selten von Seiten der wahren Gläubigen. Schon das Vorhandensein dieser vielen Kirchen und Parteien ist der traurige Beleg dafür.

Die Kirche ist nach der Schrift „der Leib Christi“, „das Haus Gottes, die Versammlung des lebendigen Gottes“, die also nur aus lebendigen Gliedern besteht und wozu alle wahre Gläubige auf der Erde gehören (1. Kor 12,27; 1. Tim 3,15). Alle sind durch einen Geist zu einem Leib getauft (1. Kor 12,13). „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid in einer Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über alle und durch alle, und in uns allen“ (Eph 4,4–6). Das ist der ebenso kurze, als einfache und klare Begriff der Kirche. Hier gibt es nur eine Autorität, diejenige Christi, ihres alleinigen Hauptes; und nur eine Leitung, diejenige des Heiligen Geistes. Der Begriff einer allgemeinen, aus Gläubigen und Ungläubigen zusammengesetzten Kirche ist der Schrift ebenso fremd, als die vielen voneinander unabhängigen Kirchen oder Parteien unter verschiedenen Häuptern und Leitern; alles das ist nur die Frucht der Gesetzlosigkeit des Menschen, der da handelt nach seinem Willen, nach dem Grundsatz der Unabhängigkeit und des Bösen. Man hat die der Aufrechthaltung der Einheit als erste Bedingung zu Grund liegende Ermahnung, zu wandeln „mit aller Demut usw.“ außer Acht gelassen. Dieser Grundsatz des Bösen, des Hochmuts, des eignen Willens leitet einen jeden, der eine Partei aufrichtet oder sich wissentlich einer solchen anschließt, unter welcher Form dies auch geschehen mag. Ein solcher mag ein wahrer Christ sein – man findet deren, Gott sei Dank! in allen Parteien – aber er steht in tatsächlichem Widerstand gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, und er wird dadurch ein Werkzeug in der Hand Satans, des großen Widersachers Christi und der Seinen, und arbeitet ihm, ohne es zu wollen und zu wissen, in die Hände. Anstatt „die Einheit des Geistes“ Zu bewahren und mitzuwirken an der „Auferbauung des Leibes des Christus“, legt er an das große Zerstörungswerk des Feindes, an die Zersplitterung der Kirche, mit Hand an. Mit einem Wort, er wandelt grundsätzlich in den Fußstapfen des Gesetzlosen, „welcher widersteht und sich selbst erhöht.“ Man wird vielleicht sagen: Das heißt die Sache doch übertreiben! Aber nein; es heißt vielmehr die Sache im Licht Gottes betrachten und nach dem Grundsatz beurteilen, der jene Person leitet. Die Frage ist: Handle ich nach dem Willen Gottes oder nach meinem eignen, wenn ich mich irgendeiner Partei anschließe? Suche ich die Ehre und die Interessen Christi oder meine eignen? Ich gebe zu, dass viele Christen in Unwissenheit handeln; aber ich bin auch überzeugt, dass, wenn es ihnen aufrichtig um den Willen Gottes und die Ehre und Interessen Christi zu tun wäre, sie sich der Leitung des Heiligen Geistes und dem Wort Gottes unterwerfen und in diesem Fall nicht in Unwissenheit bleiben würden. Gott kann Geduld mit unserer Unwissenheit haben, und Er allein kann uns durch seinen Geist erleuchten, aber Er weiß auch, ob wir erleuchtet werden wollen, und ob sein Wille allem maßgebend für uns ist. Die Lehre von der Versammlung Gottes und der Stellung des Gläubigen nach dem Wort ist so klar und einfach, dass alle Schwierigkeiten bald verschwinden für den, der aufrichtig der Wahrheit zu gehorchen wünscht. „Wenn jemand will seinen (Gottes) Willen tun, der wird von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist, oder ob ich von mir selbst rede“ (Joh 7,17). Es gibt Verführer und Verführte, und offenbar trifft erstere eine größere Verantwortlichkeit, aber die Grenzlinie zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gutem und Bösem, ist so scharf bezeichnet, dass niemand irgendwelche Entschuldigung hat. Ich verweile hier nicht länger bei der Lehre von der Kirche und der Stellung, welche der Gläubige einzunehmen hat, sondern wiederhole nur, dass ein jeder Christ, der in der Wahl seiner Stellung nach seinem eignen Willen handelt, sich im Widerstand gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes befindet und sich somit dem Grundsätze nach der Sünde der Gesetzlosigkeit teilhaftig macht. Es gibt in dieser Beziehung einen positiven und einen negativen Ungehorsam. Im ersten Fall weiß man den Willen Gottes und widersteht ihm, indem man sich in der Wahl seiner Stellung durch allerlei selbstsüchtige und menschliche Erwägungen bestimmen lässt. Im Zweiten Fall prüft man nicht, was der Wille Gottes ist, und verharrt gleichgültig in einer falschen Stellung. Dessen ungeachtet ist man gleichfalls strafbar, weil man das Wort Gottes, den Ausdruck seines Willens, besitzt. Warum nicht prüfen, wenn Gott seinen Willen so klar und bestimmt mitgeteilt hat, dass man ihn wissen kann? Einfach darum nicht, weil man ungehorsam ist (denn Gott fordert uns auf, zu prüfen), oder auch, weil man der Verantwortlichkeit entgehen will. Aber der im bürgerlichen Leben geltende Grundsatz: „Unkenntnis der Gesetze schützt nicht“, trifft auch hier zu. Man wandelt im Ungehorsam in dem einen, wie in dem anderen Fall. Und „wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, und Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst“ (1. Sam 15,23). Eine neutrale Stellung des Gläubigen inmitten des gegenwärtigen Zustandes der Kirche gibt es nicht, sie ist gleichfalls nur eine Wahl nach eigenem Willen. Im eigentlichen Sinne hat man gar keine Wahl, wenn Gott seinen Willen bereits deutlich kundgetan hat.

Lieber Leser, der du bekennst, durch das kostbare Blut Christi erkauft, aus dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf errettet und ein lebendiges Glied am Leib Christi zu sein, der du aber eine Stellung einnimmst nach deinem eigenen Willen, bedenke doch, dass du dich dadurch der Wirksamkeit des Heiligen Geistes widersetzest und dich der Gesetzlosigkeit teilhaftig machst, welche in der bekennenden Kirche wirksam ist und diese dem verhängnisvollen Augenblick entgegenführt, wo sie aus dem Mund des Herrn ausgespien werden wird! Betrachte die unendliche Zersplitterung der Kirche Christi, die Verunstaltung ihrer Einrichtungen sowie der Lehre und des inneren Wesens des Christentums. Betrachte die Kirche des Mittelalters mit ihrem finsteren Aberglauben, ihrer Abgötterei und ihren schrecklichen Missbräuchen. Siehe, wie auf der anderen Seite durch die fortgesetzte Verfälschung der Wahrheit die bekennenden Massen dem offenbaren Unglauben in die Arme getrieben werden. Siehe, wie die bekennende Christenheit gleich Sodom und Gomorra der Schauplatz einer immer mächtiger anwachsenden Sittenlosigkeit und aller Arten von Verbrechen ist. Siehe vor allem die schreckliche Verunehrung des Namens Jesu. Richte ferner deinen Blick auf den Gipfelpunkt des Verderbens – den „Gesetzlosen, den Menschen der Sünde, den Sohn des Verderbens“, der als das Bild Satans in seinem Hass gegen Christus die ganze Welt mit sich fortreißen wird zur offenbaren Empörung gegen Ihn, den Herrn der Herrlichkeit. Betrachte alle diese Resultate, denen erst das Gericht bei der Erscheinung des Herrn ein Ende machen wird.

Betrachte den Bereich des Bösen, der Finsternis, in welchem du dich bewegst, indem du deinem eigenen Willen folgst in der Wahl deiner Stellung. Ich möchte nicht übertreiben; ich gebe gerne zu, dass du als ein wahrer Christ das offenbare Böse verabscheust und nichts mit der großen Masse der Ungläubigen gemein haben willst; du hältst dich nicht nur fern von ihren weltlichen Ausschweifungen und Festgelagen, sondern machst auch in religiöser Beziehung keinerlei Gemeinschaft mit ihnen. Aber ich sage noch einmal, solange du nicht deine Stellung unter der Leitung des Heiligen Geistes nach dem Wort Gottes einnimmst, handelst du nach deinem eigenen Willen und somit nach dem Grundsatz der Ungläubigen.

Indessen will ich durchaus nicht mit dem oben angedeuteten traurigen Zustand der Christenheit den ganzen Bereich des Bösen bezeichnet wissen, sondern habe nur mit wenigen Zügen den äußeren Umriss desselben darstellen wollen. Auch sage ich nicht, dass man mit dem Aufgeben einer falschen und dem Eintreten in die wahre Stellung an und für sich die Grenze dieses Bereichs überschritten habe. Weit entfernt davon! Ohne Zweifel hat man mit der äußeren Trennung vom Bösen einen großen Schritt nach dieser Richtung hingetan; aber die Täuschung würde nur umso gefährlicher sein, wenn man sich einbilden wollte, damit auch den letzten Schritt getan zu haben. Nicht oft genug können wir uns daran erinnern, dass die verblendende Macht des Bösen umso gefährlicher ist, je mehr es sich der Wahrheit nähert, und dass wir gerade dann der grüßten Nüchternheit und Wachsamkeit bedürfen. Der Betrug der Sünde ist weit mehr zu fürchten, als die Sünde selbst, wenn diese als solche offenbar ist (Heb 3,13). Wenn Satan die Gestalt eines Engels des Lichts annehmen kann, so weiß er auch seine Schlingen geschickt genug zu legen, dass selbst der treueste Christ hineingeraten kann, wenn er nicht stets wachsam ist. Seiner äußeren Stellung nach auf dem Boden der Wahrheit stehen heißt noch nicht sich außerhalb des Bereiches des Bösen befinden, oder genügend gegen dasselbe geschützt sein. Denn wann findet der praktische Übergang aus dem Bereich des Bösen in denjenigen des Guten statt? Dann, wenn man in jeder Beziehung nicht mehr nach seinem eignen, sondern nach dem Willen Gottes wandelt, oder mit anderen Worten, wenn man nicht mehr nach dem alten, sondern nach dem neuen Menschen, nicht mehr nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandelt, wenn man in der Kraft des Geistes den Tod des alten Menschen verwirklicht und das Leben Jesu offenbart. Denn der Bereich des Lichtes ist der Bereich des Lebens, während die Finsternis der Bereich des Todes ist. Der Gläubige ist seiner Stellung nach aus dem Tod in das Leben hinübergegangen, er hat das ewige Leben (1. Joh 5,11–12). Er ist dem Fleisch nach mit Christus gestorben und kann mit dem Apostel sagen: „Und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Insoweit wir daher dieses Leben verwirklichen, befinden wir uns praktisch in dem Bereich des Lichtes, wie der Apostel weitersagt: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes.“ Die Person Christi ist der alleinige Gegenstand und Mittelpunkt unseres neuen Lebens, da Er selbst unser Leben ist.

Wenn wir daher das Geheimnis der Person Christi kennen, so werden wir nicht nur verstehen, was dieses Leben, sondern auch was das Christentum nach seinem inneren Wesen und seiner wahren Bedeutung vor Gott ist. Wir werden finden, dass Christus und das wahre Christentum im schroffsten Gegensatz steht zu dem Menschen der Sünde und dem falschen Christentum. Zugleich werden wir den Charakter seiner Erniedrigung und seines Gehorsams kennen lernen (Fortsetzung folgt).

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