Botschafter des Heils in Christo 1884

Die beiden Geheimnisse - Teil 3/3

Die Schrift zeigt uns Jesus als den „eingebogen Sohn, der in des Vaters Schoß ist“, und der zugleich als ein wirklicher und abhängiger Mensch in vollkommenem Gehorsam hienieden wandelte – sie zeigt uns seinen Platz und seinen Pfad. Beide waren so unzertrennlich mit einander verbunden, wie seine Gottheit und Menschheit; denn Er ist „Gott, offenbart im Fleisch“, wahrer Gott und wahrer Mensch. In allen Verhältnissen und Umständen des menschlichen Lebens, durch welche sein Pfad Ihn hindurchführte, strahlte seine Herrlichkeit hervor als die eines Eingeborenes vom Vater, und durch diese hindurch erglänzte die Herrlichkeit des Vaters. Denn wer Ihn sah, sah den Vater; Er ist „der Abglanz seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens.“ Aber diese Herrlichkeit wurde in Ihm als dem wirklichen Menschen Christus Jesus gesehen, welcher in den einfachsten und niedrigsten Verhältnissen dieses Lebens als ein gehorsamer Diener einherging. Welch eine wunderbare, dem Verstand des Menschen unfassbare Sache! Ein Mensch, der als der ewige Sohn Gottes, als eins mit dem Vater, immer in dessen Schoß ist, verfolgt zugleich als ein Diener in vollkommenem Gehorsam hienieden seinen Pfad! Und welch ein Pfad war das! In einer Welt, deren Zustand den völligsten Gegensatz zu dem ewigen Wohnplatz des Sohnes bildete, und wo alles im Widerspruch stand mit der Natur und dem Willen Gottes, konnte es für Ihn, der gekommen war, um den Willen Gottes zu tun, nur ein Pfad der tiefsten Prüfungen und Leiden sein; und dies umso mehr, je unendlicher seine Liebe zum Vater war. Aber eben diese Liebe war es auch, die Ihn in diesen Prüfungen und Leiden nur eine Gelegenheit zur Verherrlichung seines Vaters erblicken lieh, und diese also wiederum zu einer Quelle unaussprechlicher Freude für Ihn machte. Denn Er wandelte ununterbrochen in der Klarheit des angesichts seines Vaters, obwohl Er als „der Mann der Schmerzen, mit Leiden bekannt“, durch diese Welt ging; und darum war sein Pfad, so dornenvoll er einerseits sein mochte, andererseits ein glücklicher und gesegneter. Mein Leser, kennst du diesen glückseligen Pfad der Freude, des Glaubens und des Gehorsams? diesen geheimnisvollen Pfad, von dem es heißt: „Der Raubvogel kennt ihn nicht, und das Auge der Weihe erspäht ihn nicht?“ (Hiob 28,7) Kennst du diesen Pfad im Licht des Angesichts eines unendlich liebenden Vaters? Ja, durch die Gnade ist dieser Pfad des Sohnes Gottes der unsere geworden, nachdem uns in Ihm ein Platz im Herzen des Vaters geschenkt ist durch die Erlösung. Wie wichtig ist es, seinen Platz und seinen Pfad zu verstehen! Und je mehr wir den ersteren kennen, desto fähiger werden wir sein, den letzteren zu wandeln.

Selbstredend ist und bleibt zwischen dem Herrn und uns ein großer Unterschied, und wir haben denselben stets mit aller Ehrfurcht und Demut im Gedächtnis zu behalten. Er besitzt als der ewige Sohn Gottes eine persönliche Herrlichkeit und Würde, die keine Kreatur mit ihm teilen kann. Denn alles, was wir aus Gnaden sind und besitzen, sind und besitzen wir durch Ihn und in Ihm. Er ist „Gott, offenbart im Fleisch“; und seine Erniedrigung änderte nichts an der Natur und dem Wesen seiner ewigen Gottheit, noch an der Natur der Gemeinschaft, welche Er ununterbrochen mit dem Vater hatte, es sei denn, dass diese dem Vater einen neuen Anlass gab, den Sohn zu lieben, wie wir lesen: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wieder nehme“ (Joh 10,17). In seiner Erniedrigung ruhte das Auge des Vaters allezeit mit demselben Wohlgefallen auf Ihm, wie in den Zeitaltern der Ewigkeit vor Grundlegung der Welt. 1 Nicht genug können wir daher der persönlichen Herrlichkeit des Sohnes Gottes eingedenk sein; und wir sehen bei verschiedenen Gelegenheiten – wie z. B. auf dem heiligen Berge – dass der Vater ein Vergessen jener Herrlichkeit oder auch nur die geringste, selbst unwissentliche Herabsetzung seines Sohnes der Liebe nimmer zugeben kann. Petrus stellte in seiner Unwissenheit Mose und Elias mit dem Herrn auf gleichen Boden, indem er sagte: „Lass uns hier drei Hütten machen, dir eine und Mose eine und Elias eine.“ Doch er hatte kaum ausgeredet, als die Stimme des Vaters ertönte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe, Ihn hört“; und von dem Augenblick an sahen die Jünger niemanden mehr, als Jesus allein. Niemand außer Ihm konnte einen solchen Platz in dem Herzen des Vaters haben und der Gegenstand seines Wohlgefallens sein. Und wenn die Gnade uns zu Gegenständen seines Wohlgefallens gemacht hat, so konnte dies doch nur geschehen in Ihm und durch Ihn, den Geliebten. Je mehr wir die persönliche Majestät und Herrlichkeit des Sohnes Gottes erkennen, desto anbetungswürdiger erscheint uns diese Gnade, die seinen Platz im Herzen des Vaters und seinen Pfad hienieden zu dem unsrigen gemacht hat.

Ohne Zweifel werden hier stets unergründliche Tiefen für uns bleiben, sowohl hinsichtlich des Pfades, als auch des Platzes. Denn wer könnte den Pfad dessen ergründen, der, als die göttliche Liebe und Heiligkeit selbst, inmitten einer Welt der Sünde und des Elends, der Leiden und der Schmerzen vollkommen fühlte wie ein Mensch, und bei welchem jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat der Ausdruck der Macht des Heiligen Geistes und des Gehorsams gegen Gott war? Wer könnte die in der menschlichen Natur offenbarte göttliche Vollkommenheit ergründen? Wer die Offenbarung der göttlichen Langmut und Geduld, Gnade und Liebe in einem Menschen, der, obwohl Gott seiend, keinen Gebrauch von seiner Macht inmitten des Widerspruchs und der höhnischen Herausforderungen elender Sünder machte, es sei denn zu ihren Gunsten? Wer könnte die Macht und Energie des Geistes in einem Menschen ergründen, der aus Gehorsam gegen Gott auf das Nötigste verzichtete, während Ihm die ganze Schöpfung zu geböte stand und sozusagen zu seinen Füßen lag? Wer könnte die Heiligkeit des Wandels eines Menschen verstehen, dessen Gemeinschaft mit Gott eine völlig ununterbrochene war? Und wer könnte ergründen, was der Schoß des Vaters für den Sohn war und ist, sowie die Liebe, das Glück und die Freude, die Er dort genoss und genießt? Wer könnte den wertschätzen, welchen die Person und der Pfad des Sohnes für den Vater hatte? Wer die Wonne fassen und beschreiben, die das Vaterherz in dem Anschauen des Sohnes seiner Liebe empfand und in alle Ewigkeit empfindet? Und dennoch sind es diese Dinge, „die uns von Gott geschenkt“ und deren Tiefen uns durch die Gnade im Wort offenbart sind, damit wir sie unter der Leitung des Heiligen Geistes erforschen sollen; und dennoch ist dieser Platz und dieser Pfad in Christus Jesus der unsrige geworden. Alles besitzen wir durch Ihn und in Ihm – selbstredend nicht seine ewige Gottheit, wohl aber seine göttliche Natur; nicht die Macht Gottes, wie Er sie auch als Mensch besaß, wohl aber seine moralische Kraft; denn derselbe Geist, in dessen Kraft Er hienieden gewandelt hat, wohnt auch in uns.

Lieber Leser, kennst du diesen Platz des Sohnes Gottes? Kannst du glauben, dass du in Ihm dem Herzen des Vaters ebenso nahegebracht und geliebt bist, wie Er von Ihm geliebt ist? Höre, was Er selbst sagt: „Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben, habe ich ihnen gegeben, auf dass sie eins seien, gleich wie wir eins sind. Ich in ihnen und du in mir, auf dass sie in eins vollendet seien, und auf dass die Welt erkenne, dass du mich gesandt und sie geliebt, gleich wie du mich geliebt hast“ (Joh 17,22–23). Er teilt mit uns seine Herrlichkeit, welche der Vater Ihm als Belohnung für seine freiwillige Erniedrigung gegeben, und in welcher Er mit uns vor der Welt erscheinen wird, und zwar um dieser den öffentlichen Beweis zu liefern, dass wir an derselben Liebe teilhaben, womit Er geliebt ist. Wie überaus groß wird diese Herrlichkeit sein, wenn einmal alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist, unter Ihm als Haupt vereinigt und alles seinen Füßen unterworfen sein wird, wenn jedes Knie der Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen vor Ihm sich beugen, und jede Zunge bekennen wird, dass Er Herr ist zur Verherrlichung Gottes des Vaters? Aber größer noch als alles ist sein Platz im Schoß des Vaters – dem Mittelpunkt aller Herrlichkeit – und unser Platz in Ihm, dem Geliebten. Welch eine Gnade, jetzt schon in Ihm dort unseren Platz und unser „Teil mit Ihm“ zu haben! 2 Welch ein köstliches Teil! Der Herr beauftragte die Maria Magdalena mit der herrlichen Botschaft an seine Jünger: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, und zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17). Es war die erste Botschaft, die Er den Seinen nach seiner Auferstehung sandte und wodurch Er sie mit ihrer neuen, auf die Erlösung gegründeten Stellung bekannt machte. Und in der Tat ist das Werk vollbracht, unsere Erlösung eine vollendete Tatsache; in der Auferstehung Christi haben wir ein neues Leben empfangen. Denn Er selbst ist unser Leben. Aber nicht allein das; Er hat auch auf Grund seines vollbrachten Werkes den Heiligen Geist hernieder gesandt, um Wohnung in uns zu machen, und dieser ist die Macht des neuen Lebens, kraft dessen wir Gemeinschaft haben mit dem Vater und dem Sohn. Darum sagt auch der Apostel: „Und das Leben ist offenbart worden, und wir haben gesehen und Zeugen und verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem Vater war und uns offenbart worden ist; was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei“ (1. Joh 1,2–4). Dasselbe sagt der Herr in Johannes 17, wenn Er von der herrlichen Stellung der Seinen redet. Er stellt sie mit sich in dasselbe Verhältnis zum Vater, indem Er sagt: „Und dies rede ich in der Welt, auf dass sie meine Freude völlig in sich haben.“ Die Seinen sollten dies hienieden hören und verstehen, und dieses Verhältnis als ihr gegenwärtiges Teil kennen, und infolge dessen dieselbe Freude genießen, welche Er in dieser Gemeinschaft auf seinem mühe– und leidensvollen Pfad genossen hatte.

Und nun, geliebter Leser, ehe wir weitergehen, fragen wir uns noch einmal: Kennen wir diesen Platz, und befinden wir uns dort in der Kraft des Heiligen Geistes, in dem Bewusstsein einer vollbrachten Erlösung und der dadurch bewirkten vollkommenen Vergebung und Reinigung, sowie in dem Genuss der Liebe des Vaters, des Friedens und der Freude des Sohnes Gottes? Denn das war der Platz des Christen in den Ratschlüssen Gottes schon vor Grundlegung der Welt, und er ist und bleibt es in die Zeitalter der Zeitalter.

Es ist wahr, wir tragen noch den Leib der Niedrigkeit und sind noch umgeben von dieser Welt der Sünde, welche im Bund mit Satan uns auf jegliche Weise zu beeinflussen und zu stören sucht. Aber die Sünde an und für sich kann unsere Gemeinschaft mit Gott nicht stören, denn wir besitzen eine vollbrachte Erlösung. Und obgleich die Sünde noch in uns wohnt, so ist diese doch eben sowohl wie unsere Sünden am Kreuz gerichtet, und wir sind jetzt in dem zweiten Adam, dem auferstandenen und verherrlichten Christus; der Heilige Geist wohnt in uns, und das Leben des Sohnes Gottes ist unser Leben, sein Gott und Vater ist unser Gott und Vater, und sein Pfad unser Pfad.

Aber woher kommt es, dass wir so wenig von dieser Freude kennen, welche der Sohn Gottes auf diesem Pfad in vollkommenem Maß genoss, und welche, wie Er sagt, auch wir ebenso völlig genießen sollen? Einfach daher, weil wir uns zu wenig in der Kraft des Heiligen Geistes auf diesem Pfad und ebenso wenig in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn befinden. Beides ist unzertrennlich mit einander verbunden; man kann nicht praktisch in dieser Gemeinschaft sein, wenn man sich nicht auf jenem Pfad befindet. Das, was letzteren kennzeichnet, ist Gehorsam und Kraft. Zuerst der Gehorsam, dann die Kraft, denn der Heilige Geist kann nur dann seine Macht in uns entfalten, wenn unser Wille gebrochen und unsere Herzen Ihm unterworfen sind. Dies sehen wir deutlich in dem Leben des Herrn Jesus, obgleich Er nie einen bösen Willen hatte, der gebrochen werden musste. Sein Wille und sein Herz waren dem Willen Gottes völlig unterworfen, und Er nahm gleich im Beginn seines öffentlichen Dienstes seinen Platz als abhängiger Mensch ein, indem Er sich eins machte mit dem bußfertigen Überrest und sich gleich diesem taufen ließ und betete. Infolge dessen wurde der Himmel aufgetan, und der Heilige Geist kam auf Ihn hernieder. Dasselbe finden wir bei den Jüngern vor dem Pfingsttag; sie waren versammelt und hielten alle einmütig an am Gebet. Die Antwort darauf von Seiten Gottes war die Ausgießung des Heiligen Geistes. Ich sage nicht, dass die Erfüllung der verheißenen Sendung des Heiligen Geistes von den Gebeten der Jünger abhängig war, sondern spreche nur von diesem Zustand der Abhängigkeit, der sich bei ihnen wie auch bei dem Herrn in den Gebeten kundgab, als sie den Heiligen Geist empfingen. So finden wir auch bei einer anderen Gelegenheit, dass sie alle erfüllt wurden mit dem Heiligen Geist, nachdem sie gebetet hatten (Apg 4,31). Nicht dass sie Ihn aufs Neue empfangen hätten – das war ein für alle Mal geschehen – aber ihr Zustand war ein solch abhängiger, dass seine Macht sich in ihnen in besonderer Weise offenbaren konnte. Dies war bei dem Herrn immer in vollkommener Weise der Fall; Er war stets vollkommen abhängig von Gott und war erfüllt mit dem Geist „ohne Maß.“ Voll Heiligen Geistes kehrte Er vom Jordan zurück und wurde durch den Geist in die Wüste geführt, und nachdem Er dort durch ein vollkommenes Verharren in der Abhängigkeit von Gott den Sieg über jegliche Versuchung Satans davongetragen, kehrte Er in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück (Lk 4). Wir sehen, sein Pfad war ein Pfad „von Kraft zu Kraft“, denn es war nichts in Ihm, was den Heiligen Geist hätte betrüben können. Seine Sprache als Diener Gott gegenüber war: „Du bist der Herr“, und: „Dein Wohlgefallen zu tun, Jehova, ist meine Lust“ (Ps 16,40). Immer war der Vater der Gegenstand und die Wonne seines Herzens, und dessen Verherrlichung der Beweggrund und Zweck seines Wandels. Er konnte sagen: „Jehova ist das Teil meines Erbes und meines Bechers ... Ich habe Jehova stets vor mich gestellt, denn zu meiner Rechten ist Er“ (Ps 16). Wie ungetrübt konnte der Heilige Geist in Ihm wohnen, dessen Herz so völlig unterworfen und von solchen Zuneigungen erfüllt war, wo sich stets eine so vollkommene Einheit mit den Gedanken und Absichten Gottes offenbarte! Wie vollkommen musste die Freude eines solchen Herzens sein! „Darum freut sich mein Herz, und es frohlockt meine Herrlichkeit“ (Ps 16).

Geliebter Leser, wie sieht es dagegen in unseren Herzen aus, die wir berufen sind, seinen Fußstapfen nachzufolgen, zu wandeln, wie Er gewandelt hat? Ist Christus der Gegenstand und die Wonne unserer Herzen, wie es der Vater für Ihn war? Sind wir Ihm so völlig unterworfen, dass wir zu jeder Zeit und in allen unseren Plänen zu Ihm sagen: „Du bist der Herr?“ Dürfen wir uns wundern, wenn bei der großen Kälte und Gleichgültigkeit, die sich unter uns gegen Christus kundgeben, bei dem vielen Ungehorsam und Eigenwillen, in welchem so mancher unter uns ohne Furcht Tag für Tag vorangeht, der Heilige Geist tief betrübt ist und infolge dessen Kraft und Freude mangeln? Was kann es nützen, dass wir die Lehre von der Befreiung dem Verstand nach kennen und äußerlich auf dem Boden der Wahrheit stehen, wenn der Heilige Geist tief betrübt über unseren Herzenszustand sein muss? Sicherlich können wir dann nicht sagen, dass wir uns auf dem Pfad des Sohnes Gottes befinden – auf dem Pfad des Gehorsams und der Kraft, des Friedens und der Freude. Unstreitig gibt es auf diesem Pfad viel Kampf und viel Gebet und Flehen – Gebete, die sich zum Angstruf steigern und zum ringenden Kampf werden mögen, aber darin zeigt sich gerade die völlige Abhängigkeit. Das Gefühl der eignen Schwachheit, verbunden mit der Furcht Gottes, geht immer vereint mit einem Zustand des unaufhörlichen Gebets und des Vertrauens auf Gott, und darin besteht unsere Kraft. „Meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht.“ Der natürliche Mensch, der im Selbstvertrauen und in der Kraft des Fleisches vorangeht, betrachtet einen solchen Zustand der Abhängigkeit als Torheit und bespöttelt ihn als große Schwachheit; aber er kennt die Kraft Gottes nicht und weih nicht, dass „das Törichte Gottes weiser ist, als die Menschen, und das Schwache Gottes stärker ist, als die Menschen“ (1. Kor 1,25). Aber auch viele Gläubige verstehen leider so wenig von dem „guten Kampf des Glaubens“, der, geführt in der Kraft und Energie des Geistes, sicher zum Sieg führt und aus welchem man, anstatt geschwächt, stets mit erneuerter Kraft hervorgeht. Auch glaube ich, dass viele Gläubige ebenso wenig von der persönlichen Gegenwart und Macht des Heiligen Geistes ahnen, der jetzt in unserer Mitte ist, als einst die Menschen von der Größe und Herrlichkeit des Sohnes Gottes ahnen mochten, der unter ihnen wandelte.

So groß wie der Unterschied zwischen dem Menschen der Sünde und dem Herrn Jesus ist, soweit gehen auch die Pfade des ersten und des zweiten Adam auseinander; aber ebenso verschieden ist auch der Ausgang von beiden. Der Zweck des Herrn Jesus hienieden war, den Willen Gottes zu tun, worin derselbe auch bestehen und was dessen Erfüllung auch kosten mochte. „Denn ich bin vom Himmel herniedergekommen, nicht auf dass ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 6,38). Er war stets der Diener, der nichts zu sagen, sondern nur zu gehorchen hatte. Aber Er war dies freiwillig; und dieses kennzeichnet seinen Gehorsam in ganz besonderer Weise. Er war wahrhaftiger Mensch, aber auch wahrhaftiger Gott, „Gott über alles, gepriesen in Ewigkeit.“ Er gehorchte wie einer, der Macht hatte über alles und dem alles zu geböte stand, der aber freiwillig, um zu gehorchen, keinen Gebrauch davon machte, es sei denn zu Gunsten anderer. „Welcher, da Er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist und, in seiner Stellung wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tod, ja, zum Tod des Kreuzes“ (Phil 2,6–8). Welch eine Erniedrigung, aber auch welch eine Erhabenheit in dieser Erniedrigung! Der Ausgang einer solchen freiwilligen Erniedrigung und der dadurch bewirkten Verherrlichung Gottes konnte kein anderer sein, als die Verherrlichung des Namens Jesu in die Zeitalter der Zeitalter – eine Verherrlichung sondergleichen. „Darum hat Ihn auch Gott hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeglichen Namen ist, auf dass in dem Namen Jesu jegliches Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jegliche Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,9–11). Gott hat Ihn gesetzt zu seiner Rechten in den himmlischen Örtern, „über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Herrschaft und jeglichen Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen, und hat alles unterworfen unter seine Füße“ (Eph 1,21–22).

Wie traurig stellt sich dagegen der Gesetzlose in seinem Hochmut dar, der sich selbst erheben will, ohne irgendwelche Macht zu besitzen – denn ein „Hauch“ von Seiten des Herrn, und er ist nicht mehr. „Den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft“ (2. Thes 2,8). Das Gericht des Herrn wird entscheiden, wer Autorität hat – Gott oder der Mensch; es wird dem Hochmut des aufrührerischen Willens des Menschen und seinen Anmaßungen für immer ein Ende machen. Ja wahrlich, nichts kann törichter und erbärmlicher sein, als der Hochmut und die Einbildungen des Menschen, dessen Leben „ist wie ein Dampf, der eine kleine Zeit sichtbar ist, dann aber verschwindet“ (Jak 4,14). Wie eitel und nichtig ist das ganze Treiben und Tun des Menschen, der blindlings seinem eignen Willen folgt, ohne irgendwelche Rücksicht auf Gott zu nehmen, und der, aufgeblasen durch das scheinbare Gelingen seiner hochfahrenden Pläne, keine Ahnung von der schrecklichen Enttäuschung hat, die ein plötzliches Gericht über ihn bringen wird! Mit Schrecken wird er die Torheit seiner eignen Wege erkennen müssen; er wird sehen, wohin dieselben ihn geführt haben, und leider zu spät erfahren, was in Wirklichkeit die Sphäre ist, in welcher er sich während seines ganzen Lebens bewegt hat, wenn er fern von Gott in ewiger Finsternis einer hoffnungslosen Verzweiflung preisgegeben sein wird. „Die hohen Augen des Menschen werden erniedrigt, und die Hoheit des Mannes wird niedergebeugt werden; und Jehova allein wird erhaben sein an selbigem Tag. Denn der Tag Jehovas der Heerscharen wird kommen über alles Hoffärtige und Hohe und über alles Erhabene, und es wird gedemütigt werden. ... Und es wird gebeugt werden der Hochmut des Menschen, und erniedrigt die Hoheit des Mannes, und Jehova allein wird erhaben sein an selbigem Tag. Und die Götzen werden gänzlich verschwinden. Und man wird gehen in die Höhlen der Felsen und in die Klüfte der Erde vor dem Schrecken Jehovas und vor der Herrlichkeit seiner Majestät, wenn Er sich aufmachen wird, zu schrecken die Erde. ... Lasst nun ab von dem Menschen, dessen Odem in seiner Nase ist! denn worin ist er zu achten?“ (Jes 2,12–22)

Das ist der traurige Ausgang des eignen Willens und der eignen Wege des Menschen. „Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt Er Gnade.“ Wie traurig aber, wenn solche, die den Herrn kennen, oft Tag für Tag nach einem Grundsatz wandeln, der zu solch schrecklichen Resultaten führt! Wenn es einerseits auch wahr ist und bleibt, dass die Errettung des Gläubigen eine unumstößliche Tatsache ist, so bleibt doch andererseits niemand, der in irgendeiner Weise seine eignen Wege geht, sei er bekehrt oder unbekehrt, vor mehr oder weniger schrecklichen Enttäuschungen bewahrt. Solche Wege schließen selbstredend immer Gott aus und können daher zu keinem anderen als zu einem traurigen Ziele führen. Wie groß auch die Langmut und Geduld Gottes sein mögen, so bleibt es dennoch ein unwandelbarer Grundsatz: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten! Denn was irgend der Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleisch Verderben ernten; wer aber für den Geist sät, wird von dem Geist ewiges Leben ernten“ (Gal 6,7–8). Es gibt keinen Mittelweg zwischen Geist und Fleisch, Licht und Finsternis, Gut und Böse. Ich stehe entweder auf der einen oder auf der anderen Seite.

Möchten wir doch stets eingedenk bleiben, dass der wahre Charakter unseres eignen Willens, unter welcher Form er sich auch offenbaren mag, nichts als Auflehnung gegen die Autorität Gottes ist! Möchten wir in der Furcht Gottes und mit aller Demut in allen Dingen prüfen, was der Wille des Herrn ist – mit einem Wort, möchten wir in der Kraft des Heiligen Geistes wandeln auf dem Pfad des Sohnes Gottes, eingedenk unserer gesegneten Stellung in Ihm!

Fußnoten

  • 1 Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf einen unrichtigen Ausdruck aufmerksam machen, der von manchen Gläubigen oft im Gebet gebraucht wird und ihre Unkenntnis betreffs des Geheimnisses der Person Christi verrät. Sie sagen und danken dem Herrn dafür, dass Er den Schoß des Vaters verlassen habe. Allein Christus hat als der ewige Sohn Gottes nie den Schoß des Vaters verlassen, selbst dann nicht, als Er am Kreuz als unser Stellvertreter von Gott verlassen war. Wer den obigen Ausdruck gebraucht, denkt nicht daran, dass Christus wahrer Gott und zugleich wahrer Mensch war. Sicherlich birgt sein Verlassensein von Gott ein unergründliches Geheimnis in sich, und wir müssen dessen in tiefster Ehrfurcht stets eingedenk bleiben, da es uns einen Blick tun lässt in die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes gegenüber unseren Sünden und unserem Zustand. Aber mit derselben Ehrfurcht und aus demselben Grund müssen wir die persönliche Herrlichkeit des Sohnes Gottes aufrecht halten, denn eben diese ist es, die seinem Opfertod den unvergleichlichen und unergründlichen Wert verlieh, welchen er in den Augen Gottes hat, und die seinem Verlassensein wegen unserer Sünden den Charakter des Geheimnisses aller Geheimnisse gibt.
  • 2 Ohne Zweifel setzt der Genuss dieser Gemeinschaft nicht nur die Erlösung und den Besitz der göttlichen Natur, sondern auch die praktische Reinheit voraus. Denn Gott ist Licht, und wie konnten wir mit Ihm Gemeinschaft haben, wenn wir in irgendeiner Weise verunreinigt sind? Obwohl daher der Herr zu seinen Jüngern sagen konnte: „Ihr seid rein“, so musste Er doch auch zu Petrus sagen: „Wenn ich dich nicht wasche, so. Haft du kein Teil mit mir“ (Joh 13,8).
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