Botschafter des Heils in Christo 1884

Über das Verhalten des Gläubigen in den Tagen des Verfalls - Teil 3/3

Wir haben also gesehen, dass die Gaben, sei es zur Verkündigung des Evangeliums, oder zum Dienst der Heiligen, überall ihre Geltung haben, und nicht an einen bestimmten Ort oder an eine lokale Versammlung gebunden sind, und dass ein jeder Christ, der vom Herrn eine Gabe empfangen hat, verpflichtet ist, sie in seinem Dienst und zu seiner Verherrlichung zu gebrauchen, ohne auf irgendwelche andere Genehmigung zu ihrer Ausübung zu warten. Außer den angeführten Stellen gibt es noch viele andere, welche die Wahrheit des Gesagten klar und deutlich beweisen. Als nach dem Tod des Stephanus eine große Verfolgung Wider die Versammlung zu Jerusalem ausbrach, wurden alle Gläubige, mit Ausnahme der Apostel, in die Gegenden von Judäa und Samaria zerstreut. „Die Zerstreuten nun gingen umher und verkündigten das Wort.“ Solche, die eine besondere Gabe dazu empfangen hatten, werden es öffentlich, und die Anderen mehr im Verborgenen getan haben; aber alle waren beschäftigt, die gute Botschaft auszubreiten (Apg 8,1–4). Etliche Kapitel weiterlesen wir: „Und des Herrn Hand war mit ihnen, und eine große Zahl glaubte und bekehrte sich zu dem Herrn“ (Kap 11,19–21). Der Herr erkannte den Dienst dieser Zerstreuten an und krönte ihn mit einem großen Erfolg. – Als Paulus zu Rom im Gefängnis war, wurden die meisten der Brüder, indem sie im Herrn Vertrauen gewonnen hatten, durch seine Bande viel kühner, „das Wort zu reden ohne Furcht“ (Phil 1,13–14). Als Glieder des Leibes Christi machten sie von der empfangenen Gabe freimütig Gebrauch. – in 1. Korinther 14,31 schreibt der Apostel an die Versammlung: „Ihr könnt einer nach dem Anderen alle weissagen, auf dass alle lernen und alle getröstet werden.“ Das heißt doch sicher nicht, die Erbauung der Versammlung gewissen Personen oder einem besonderen Stand anvertrauen, oder an ein besonderes Amt knüpfen, noch findet sich in diesen Worten eine Spur von dem Gedanken, dass dieser Dienst der Genehmigung und Bestätigung von Seiten der Menschen, von Seiten irgendeiner kirchlichen oder weltlichen Behörde bedürfe. Das Wort Gottes lehrt überall, und zwar in der klarsten Weise, dass jeder Christ einzig und allein als ein Glied des Leibes Christi, und eben deshalb, weil er ein solches Glied ist, mit der ihm von dem Herrn verliehenen Gabe zu dienen verpflichtet ist; und diese Gabe ist der völlige Beweis, dass er von dem Herrn zum Dienst berufen, erwählt und eingesetzt ist, dass er auf keine andere Genehmigung und am wenigsten auf eine Anstellung von Seiten der Menschen zu warten hat.

Gab es im Anfang auch so genannte Ämter in der Kirche oder Versammlung, so dürfen wir dieselben doch nicht mit den Gaben verwechseln, wie es heutzutage meist geschieht. Man spricht von einem Predigtamt, Lehramt und Hirtenamt, 1 und mit diesen angeblichen Ämtern wird ein besonderer Stand betraut, den man den geistlichen Stand nennt. Diesem allein schreibt man das Recht zu, das Evangelium zu predigen und die Menschen zu erbauen. Im Wort Gottes aber findet man nichts der Art. Wenn jemand kommt, um zu lehren, so haben wir nicht zu fragen, ob er ein Amt habe, ob er geweiht oder ordiniert sei, sondern wir sollen allein die Lehre prüfen, die er bringt. Der Apostel Johannes schreibt dies sogar an eine Frau: „Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht“ (2. Joh 1,10).

Das Wort Gottes kennt eigentlich nur zwei Arten von Ämtern, oder richtiger von Diensten, nämlich das Amt der Aufseher oder Ältesten, und dasjenige der Diener oder Diakonen. Die mit diesen Diensten betrauten Personen wurden, obgleich auch sie ihre Befähigung allein vom Herrn empfingen, von Menschen angestellt. Die Ältesten wurden an jedem Ort von den Aposteln oder ihren Abgeordneten gewählt und in ihr Amt eingesetzt. Wir lesen in Apostelgeschichte 14,23, dass Paulus und Barnabas auf ihrer Rückkehr von der ersten Reise in jeder Versammlung Älteste wählten, und dass der Apostel später den Titus in Kreta mit dem Auftrag zurückließ, in jeder Stadt Älteste anzustellen (Tit 1,5). Und obgleich Timotheus nicht in Ephesus gelassen wurde, um Älteste einzusetzen, sondern um über die Lehre zu wachen, so wurde er doch mit den nötigen Eigenschaften eines Aufsehers bekannt gemacht (1. Tim 3,1–7). Nie aber ist eine Versammlung mit der Anstellung von Ältesten durch irgendeinen Apostel beauftragt worden, noch finden wir irgendwo einen Anhaltspunkt dafür, dass eine Versammlung sich selbst Älteste gewählt habe. Heute geschieht dies allgemein, obwohl niemand dazu irgendwie bevollmächtigt ist, noch auch bevollmächtigt werden kann, weil die Apostel nicht mehr vorhanden sind und auch keine Anweisung zur Anstellung von Ältesten hinterlassen haben. Zudem macht die gegenwärtige Zersplitterung unter den Gläubigen eine solche Anstellung unmöglich, da die Versammlung Gottes an einem Ort aus allen daselbst wohnenden wahren Christen besteht, während die zu dem Ältestendienst befähigten Männer in den verschiedenen Parteien zerstreut sind. Auch kann nicht behauptet werden, dass in allen Versammlungen zurzeit der Apostel Älteste angestellt waren; wenigstens scheint dies in Korinth nicht der Fall gewesen zu sein, da der Apostel, obwohl dort sehr viele traurige Dinge vorlagen, der Ältesten mit keinem Wort Erwähnung tut. Die Einsetzung von Ältesten, wie sie heutzutage geschieht, ist daher nichts anders, als ein Werk menschlicher Anmaßung.

Die Ältesten hatten ihre Obliegenheiten nur an dem Ort oder in der Versammlung zu erfüllen, wo sie als solche eingesetzt waren, und nicht anderswo. Ihre Pflichten waren diejenigen eines Aufsehers. Der Apostel selbst gibt ihnen an verschiedenen Stellen diesen Namen, wie z. B. in Philipper 1,1; ebenso in Apostelgeschichte 20,28, wo er zu den Ältesten der Versammlung in Ephesus sagt: „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher euch der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hat, die Versammlung Gottes zu hüten.“ Es war also ihre Pflicht, über die Herde zu wachen, acht zu haben auf alles, wodurch dieselbe Schaden nehmen konnte, und besonders, wachsam zu sein gegen die falschen Lehrer. Nicht alle Ältesten hatten Gaben; denn wir lesen in 1. Timotheus 5,17: „Die Ältesten, die wohl vorstehen, lass doppelter Ehre würdig geachtet werden, sonderlich die da arbeiten im Wort und in der Lehre.“

Den Dienern oder Diakonen lag es ob, wie schon ihr Name besagt, die Versammlungen zu bedienen; auch gab es Dienerinnen. Ihr Dienst beschäftigte sich mehr mit äußeren Dingen, z. B. mit der Versorgung der bedürftigen Witwen. Wenigstens geht dies aus Apostelgeschichte 6 hervor, wo wir lesen, dass 7 Männer zu diesem Dienst erwählt und eingesetzt wurden, weil die Apostel sich nicht länger mit demselben befassen wollten, um ungehindert im Gebet und im Dienst des Wortes verharren zu können. Wenn nun diese Diener Gaben besahen, so hatten sie, wie alle Christen, dieselben auszuüben. Wenn sie ihr Amt mit Treue und Sorgfalt verwalteten, so erwarben sie sich „eine schöne Stufe und viel Freimütigkeit im Glauben, der in Christus Jesus ist“ (1. Tim 3,13). Die Bestätigung dieser Worte sehen wir in ganz hervorragender Weise bei Stephanus und Philippus, die zu den oben erwähnten sieben Diakonen in Jerusalem gehörten (In Bezug auf den Ersten vergleiche das 6. und 7. Kapitel, und ans den letzten das 8. Kapitel der Apostelgeschichte).

Indes kann auch von einer öffentlichen Anstellung von Diakonen beute, der allgemeinen Zersplitterung wegen, ebenso wenig die Rede sein, als von derjenigen der Ältesten. Immer aber bleibt uns die nie fehlende Treue und Liebe Gottes. Er hat die Bedürfnisse in seiner geliebten Versammlung in allen Zeiten vorher gekannt und dafür Sorge getragen. So schwach und traurig ihr gegenwärtiger Zustand auch sein mag, so hat Er doch alles, was nützlich und nötig ist, zuvor verordnet, und wird es denen gewiss nicht vorenthalten, die Ihn darum bitten. Und sicher gibt es in vielen Versammlungen noch erfahrene und treue Männer, die über die Seelen wachen, die Unordentlichen zurechtweisen, die Kleinmütigen trösten und sich der Schwachen annehmen, und auch solche, die für die Bedürfnisse der Heiligen mit Liebe und Ausharren Sorge tragen; und wenn wir diese auch nicht Älteste oder Diakonen nennen, so haben wir sie doch um ihres Werkes willen anzuerkennen und zu lieben. So ermahnt uns das Wort: „Wir bitten euch aber, Brüder, dass ihr die erkennt, die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und dass ihr sie über die Maßen in Liebe achtet, um ihres Werkes willen“ (1. Thes 5,12–13). Eine ähnliche Ermahnung finden wir in 1. Korinther 16,15: „Ich ermahne euch aber, Brüder: ihr kennt das Haus des Stephanas ... dass sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben, auf dass auch ihr solchen untertan seid und einem jeden, der mitwirkt und arbeitet.“ Der Herr gebe, dass wir allezeit auf seine Treue rechnen, in Abhängigkeit und Furcht vor Ihm wandeln und in allem durch sein Wort uns leiten lassen! Dann werden wir stets die gesegnetsten Erfahrungen von seiner Gnade und Liebe machen. 5. Das zusammenkommen der Gläubigen zum gemeinschaftlichen Gebet und zur Erbauung

Der erste und wichtigste Gegenstand beim Zusammenkommen der Gläubigen im Namen Jesu ist und bleibt, wie schon erwähnt, die Verkündigung des Todes des Herrn; und ist der Zustand der Herzen der Art, dass der Geist Gottes in ihnen wirken und die wahre Anbetung hervorbringen kann, so wird Christus selbst, sowie seine Liebe, seine Leiden und sein Opfertod, aller Gefühle in Anspruch nehmen und beschäftigen. Jedes Lied, das gesungen, jedes Gebet, das gesprochen, und jeder Schriftabschnitt, der gelesen wird, wird zu seinem Lob und zu seiner Verherrlichung sein. In einer solchen Zusammenkunft kommen die Gaben zur Erbauung und Belehrung eigentlich gar nicht in Betracht. Es handelt sich allein um die Anbetung des Herrn und nicht um unsere Bedürfnisse. Sind Gaben vorhanden und die Zeit erlaubt es, so können sie nachher, nach dem eigentlichen Kultus, in Ausübung kommen; allein dies ist nicht der Zweck der Zusammenkunft, sondern die Erlösten sind im Namen Jesu, ihres geliebten Herrn, versammelt, um seinen Tod zu verkündigen und um Ihm die Opfer des Lobes darzubringen.

Es ist aber auch sicher dem Herrn wohlgefällig, wenn die Gläubigen an einem Ort außerdem, sowohl zu gemeinschaftlichem Gebet, als auch zu gegenseitiger Erbauung, Ermahnung und Belehrung zusammenkommen. Die erste Versammlung in Jerusalem beharrte nicht nur im Brechen des Brotes, sondern auch in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft und in den Gebeten. Das Gebet ist der Ausdruck unserer Abhängigkeit von Gott. Wir werden in seinem Wort oft dazu ermahnt und ermuntert, denn in unserer großen Schwachheit und in den mannigfachen Versuchungen hienieden bedürfen wir stets seiner Gnade. Auch Jesus, unser geliebter Herr, der als Mensch auf der Erde in vollkommener Abhängigkeit von Gott wandelte, brachte manche Stunde – einmal lesen wir sogar von einer ganzen Nacht – im Gebet zu. Die Apostel legten die Versorgung der Witwen in andere Hände, um ungehindert im Gebet und im Dienst des Wortes beharren zu können (Apg 6). Von der Versammlung zu Jerusalem geschah ein anhaltendes Gebet zu Gott, als Petrus von Herodes ins Gefängnis gesetzt worden war (Apg 12).

Es hat nun wohl für die Versammlung kaum eine Zeit auf der Erde gegeben, wo für sie mehr Ursache zu unaufhörlichem Gebet und Flehen vorhanden gewesen wäre, als gerade die gegenwärtige. Gewiss bleibt der Herr immer derselbe; seine Treue und Liebe zu den Seinen bleiben zu aller Zeit ebenso unveränderlich und ungeschwächt, wie sein für sie vollbrachtes Werk unantastbar und ewig gültig ist; und dies ist für sie stets eine große Ursache, allezeit seinen Namen zu preisen und zu verherrlichen. Doch in welch einen traurigen Zustand ist die Versammlung durch ihre eigene Untreue gekommen! Wie groß ist ihr Verfall, und wie gering die Erkenntnis und der Genuss ihrer gesegneten Vorrechte! Wie ist alles in ihrer Mitte so schwach geworden, und wie wird der Herr auf so mannigfache Weise verunehrt, der Geist betrübt und das Wort vernachlässigt! Gewiss werden alle, die diesen traurigen Zustand erkennen und zu Herzen nehmen, sich gedrungen fühlen, sich in gemeinschaftlichem Gebet vor Ihm zu demütigen und um seine Gnade zu flehen. Und wenn sie die „bösen Tage“ erkennen, in welchen die Gläubigen in ihrer großen Schwachheit sich gegenwärtig befinden – Tage, die zwar angenehm für das Fleisch, aber höchst gefährlich für das geistliche Leben sind, wie schon so viele traurige Beispiele uns gezeigt haben – so wird auch dies für sie einen mächtigen Antrieb bilden, im gemeinschaftlichen Gebet für alle die Heiligen den Herrn um Wachsamkeit, Nüchternheit und Kraft zu bitten. Und wenn sie sich der großen Gnade und Barmherzigkeit des Herrn bewusst sind, der allezeit bereit ist, für die Bedürfnisse der seinen Sorge zu tragen und sie nie zu versäumen, so wird es ihre Freude sein, gemeinschaftlich und voll Vertrauen alle ihre Anliegen im Gebet und Flehen und mit Danksagung vor Ihm kund werden zu lassen. Zugleich werden sie die Worte des Apostels beherzigen: „Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und für alle, die in Hoheit sind, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn dieses ist gut und angenehm vor unserem Heiland Gott, welcher will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim 2,1–4).

Wie viel Ursache gibt uns dies alles, sowohl im Kämmerlein, als auch gemeinschaftlich unsere Knie vor dem Herrn zu beugen, Ihn zu preisen und alle unsere Bedürfnisse in anhaltendem Gebet vor Ihn zu bringen. Freilich wird ein Herz, das an allen diesen Dingen wenig Anteil nimmt, auch wenig Antrieb zum Gebet fühlen, sowohl im Verborgenen, als auch im Öffentlichen in Gemeinschaft mit anderen. Und die meist so schwach besuchten Gebetsversammlungen liefern leider den traurigen Beweis, dass es viele solcher Herzen gibt. Möchte doch der Herr in seiner reichen Gnade ein tieferes Bedürfnis zum Gebet in aller Herzen wachrufen!

Wenn wir nun zum Gebet versammelt sind, so lasst uns nicht vergessen, dass der Herr unser Innerstes erforscht und unsere geheimsten Gedanken und Gefühle kennt. Wer das Gebet spricht, ist gleichsam der Mund der Versammlung und hat darüber zu wachen, dass sein Gebet unter der Leitung des Geistes stehe, der Wahrheit gemäß und allen vernehmlich sei, damit alle ihr Ja und ihr Amen dazu sagen können. Leere Worte gelangen nicht zum Thron der Gnade und finden deshalb keine Erhörung; sie sind wie Spreu vor dem Wind. Es können mit schönen und wahren Worten die wichtigsten Gegenstände im Gebet vorgebracht werden; aber ist dieses nicht der Ausdruck eines wirklich gefühlten Bedürfnisses, kommt es nicht aus einem Herzen, welches sehnlichst wünscht, dass der Herr in seiner Gnade und nach seinem Willen erhören möge, so ist es ganz wertlos. Ebenso unnütz und verwerflich ist es, wenn jemand betet, um die Zeit auszufüllen, oder um auch einmal von seinem Vorrecht Gebrauch zu machen, oder gar um zu zeigen, mit welch gefühlvollen Worten er sein Gebet vorzubringen vermag. Möge uns doch der Herr, wenn wir zum Gebet versammelt sind, vor allen diesen traurigen Auswüchsen bewahren und durch seinen Geist uns leiten, dass wir stets auf eine würdige Weise, mit einem wahrhaftigen Herzen und aus einem tief gefühlten Bedürfnis alle unsere Anliegen im Gebet und Flehen und mit Danksagung vor Ihm kund werden lassen!

Zu welchem Zweck aber auch die Versammlung zusammenkommen mag, sei es zur Verkündigung des Todes des Herrn, oder zum Gebet, oder zur Erbauung, immer bedarf sie in ihrer Mitte der Wirksamkeit und Leitung des Heiligen Geistes, wenn nicht all ihr zusammenkommen vergeblich, ungesegnet und fruchtleer bleiben soll. Ohne diese Wirksamkeit wird weder der Herr verherrlicht, noch die Versammlung erbaut. Man ist in unseren Tagen so geneigt, die Erbauung und Belehrung der Versammlung von besonders begabten Personen abhängig zu machen, und kommt daher oft in große Verlegenheit, wenn diese nicht gegenwärtig sind. Wir haben nun solche Gaben gewiss mit Dank gegen den Herrn anzuerkennen und zu benutzen; aber es ist ganz verwerflich, wenn eine Versammlung auf diese blickt und die Erbauung von ihnen erwartet, und nicht vom Herrn. Auf diese Weise wird das Bewusstsein der Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung immer mehr geschwächt und seine gesegnete Wirksamkeit verhindert. Wir lesen in 1. Korinther 14,26: „Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder von euch einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprache, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung: alles geschehe zur Erbauung.“ Auch das Vorschlagen eines Liedes oder das Vorlesen eines Schriftabschnittes sollte stets in dem Gefühl der völligen Abhängigkeit von der Leitung des Geistes geschehen, damit nicht seine Wirksamkeit in der Versammlung durch ein willkürliches Handeln in dieser Beziehung gehemmt werde, wie dies leider nicht selten geschehen ist.

Gewiss wird eine Versammlung, die wahre und wirkliche Erbauung sucht, diese reichlich finden, wenn aller Herzen sich zum Herrn wenden. Der Geist, der in ihrer Mitte wohnt und aller Bedürfnisse kennt, wird in Fülle darreichen, wenn Er es auch nicht durch eine zusammenhängende Rede oder einen längeren Vortrag geschehen lässt. Wäre die Erbauung davon abhängig, wie viele zu meinen scheinen, so müsste an jenen Orten, wo die meisten begabten Brüder sind, der Zustand der Versammlung am geistlichsten sein; man findet aber nicht selten gerade das Gegenteil. Die meiste und wirkliche Erbauung wird da gefunden werden, wo man alles allein von dem Herrn erwartet und dem Heiligen Geist völlig Raum lässt, auszuteilen und zu wirken, wie Er will. Auch ist wohl zu beachten, dass alle zur Erbauung der Versammlung mitzuwirken berufen sind, wenn auch nicht durch die tätige Ausübung einer Gabe, so doch durch ihre Fürbitte.

In 1. Kor 14 wird uns auch die Ordnung angegeben, in welcher die Ausübung der Gaben stattfinden soll. „Propheten aber lasst zwei oder drei reden, und die Anderen lasst urteilen. ... Denn ihr könnt einer nach dem Anderen alle weissagen, auf dass alle lernen und alle getröstet werden“ (V 29.31). Es ist gut, in allem dem Wort Gottes unterworfen zu sein. Findet jemand in einer Versammlung keinen Raum mehr, noch ein Wort zur Erbauung zu reden, so braucht ihm das keine Sorge zu machen. Wenn er in der Furcht des Herrn wandelt und sich der Leitung des Geistes überlässt, so wird die Gelegenheit zur nützlichen Anwendung seiner Gabe sicher nicht ausbleiben. Es ist aber nichts trauriger, als wenn jemand durch einen schönen Vortrag gefallen oder seine Kenntnisse an den Tag bringen will. Mag ein solcher auch noch so sehr der Wahrheit gemäß reden, so wird doch die Versammlung nicht erbaut werden; er ist nur ein Hindernis für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in derselben; und wie groß ist seine Verantwortlichkeit! Wenn die Tätigkeit eines Bruders in der Versammlung – und diese hat darüber zu urteilen – nicht zur wirklichen Erbauung gereicht, so hat er sich stille zu verhalten. Wir sind leicht in Gefahr, das uns verliehene Maß der Gabe des Christus zu überschätzen; deshalb ermahnt der Apostel einen jeden, „nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu deuten, dass er mäßig gesinnt sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat“ (Röm 12,3). Und im Blick auf unsere Schwachheit und auf die große Verantwortlichkeit, die mit dem Dienst in der Versammlung verbunden ist, warnt der Apostel Jakobus: „Werdet nicht viele Lehrer, meine Brüder, wissend, dass wir ein schwereres Urteil empfangen werden; denn wir alle straucheln oft“ (Jak 3,1–2). Ja, auch in Bezug auf unseren Dienst haben wir nötig, uns immer unserer großen Schwachheit und unserer völligen Abhängigkeit bewusst zu bleiben.

Der Herr gebe denn, dass wir stets und in allem auf sein Wort achten und durch seinen Geist uns leiten lassen! Dann wird unser Pfad hienieden gesegnet sein, und sein Name allezeit durch uns verherrlicht werden. Er gebe auch in seiner Gnade, dass diese Zeilen für all die Seinen, die sie lesen, von Nutzen sind!

Fußnoten

  • 1 Wir bemerken hier, dass das von Luther in Apostelgeschichte 6,4; 20,24; Römer 12,7; 1. Korinther 12,5; 2. Korinther 3,7-9; 4,1; 5,18; 6,3; Epheser 4,12 und an anderen Stellen mit „Amt“ übersetzte griechische Wort (diakonia) nicht „Amt“, sondern „Dienst“ bedeutet. Auch das Wort „Apostelamt“ (Apg 1,25; Röm 1,5 usw.) bat eigentlich den Sinn von „Apostelschaft“ (apostolä).
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