Botschafter des Heils in Christo 1884

Die beiden Geheimnisse - Teil 2/3

Ein Christentum ohne Christus ist wie eine Schale ohne Kern, wie ein Körper ohne Leben. Es nützt zu nichts, als der Welt zu einem Gewände zu dienen, mit welchem sie sich schmücken kann, wie der Wolf mit dem Schafskleide. Ein solches Form Christentum ist der Deckmantel des Geheimnisses der Gesetzlosigkeit. Eine wahrhaft erneuerte und aufrichtige Seele kann ihm keinen Geschmack abgewinnen, ja es ist ihr zum Ekel, und dem Herrn noch mehr; Er wird es samt seinen falschen Bekennern „ausspeien aus seinem Mund“ (Off 3). Ein Christentum ohne Christus, und deshalb ohne Leben, gewährt, trotz aller seiner Zeremonien und kirchlichen Formen, den Bedürfnissen eines Herzens, welches die Kostbarkeit Christi geschmeckt hat, keine Befriedigung. Man findet keine Spur von wahrem Christentum darin. Denn in diesem gibt sich die Macht und Wirksamkeit des Heiligen Geistes kund: einerseits in der Offenbarung der „Geheimnisse Gottes“ – des „Geheimnisses der Gottseligkeit“, des „Geheimnisses des Christus“ – und andererseits in der Verwirklichung dieser Dinge in den Gläubigen. Der Wille und die Tätigkeit des Menschen finden hier keinen Platz, es sei denn unter der Autorität Christi und der Leitung des Heiligen Geistes. Derselbe ist von dem Vater und von dem Sohn eigens zu dem Zweck gesandt worden, den Gläubigen die Herrlichkeit Christi kund zu machen und sie in die „Tiefen Gottes“ einzuführen, in die Dinge, die „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen sind“, „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn Er wird nicht aus sich selbst reden, sondern alles, was irgend Er hören wird, wird Er reden, und das Kommende wird Er euch verkündigen. Derselbe wird mich verherrlichen, denn von dem Meinen wird Er empfangen und euch verkündigen“ (Joh 16,13–14). Das Christentum nach der Schrift setzt bei allen seinen Bekennern die persönliche Gewissheit einer vollkommenen Erlösung und Vergebung voraus, sowie das Bewusstsein, dass sie den Geist der Sohnschaft empfangen haben. Ihre Leiber sind Tempel des Heiligen Geistes, der in ihnen wohnt und in ihnen und durch sie wirkt, bis sie alle hingelangen zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus. Das ist der kurze und wahre Begriff des wirklichen Christentums. Weit entfernt, die Frucht des Willens des Menschen und das Zerrbild seiner verfinsterten und gottentfremdeten Gedanken zu sein, ist es vielmehr die Sphäre der Macht und Wirksamkeit des Heiligen Geistes in den Gläubigen, um sie durch die Offenbarung der Herrlichkeit Christi über sie selbst und das Sichtbare zu erheben und zur Gleichförmigkeit dieser Herrlichkeit zu verwandeln. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18).

Doch bevor wir weitergehen, möchte ich noch einmal an die uns beständig drohende Gefahr erinnern, uns durch unseren Ungehorsam des Widerstandes gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes schuldig zu machen. Woher kommt es, dass wir uns so wenig in diesem Bereich befinden, in welchem der Heilige Geist seine Macht offenbart und die Herrlichkeit Christi entfaltet, deren Anschauen uns die sichtbaren Dinge und uns selbst vergessen und für nichts halten lässt und uns Christus gleichförmig macht? Woher kommt es, dass das Fleisch in uns wirksam ist, dass die Dinge hienieden uns beeinflussen und wir so wenig geistliche Fortschritte machen? Die einfache Ursache ist unser Ungehorsam, dieser Grundsatz des Bösen, der sich der Leitung des Heiligen Geistes nicht unterwirft und seine Gegenwart nicht beachtet. Wir haben in uns selbst keine Kraft, aber was würde das Fleisch in uns oder die Welt um uns her gegen die Macht des in uns wohnenden Geistes vermögen, wenn wir in seinem Gehorsam wandelten und uns seiner Leitung überließen? Der Apostel sagt: „Ihr seid aus Gott, Kinder, und habt sie überwunden, weil der, welcher in euch ist, größer ist, als der, welcher in der Welt ist“ (1. Joh 4,4). Gibt es wohl eine Ermahnung, die von uns mehr zu beherzigen wäre, als die, den Heiligen Geist Gottes nicht zu betrüben (Eph 4,30)? Und ist es nicht höchst traurig, wenn wir bekennen, auf dem Boden der Wahrheit zu stehen, und dabei im Ungehorsam und somit in dem Bereich der Finsternis wandeln gleich solchen, die mit Willen in einer falschen Stellung verharren? Ja, wir sind umso verantwortlicher und strafbarer, wenn wir die Wahrheit besitzen und dennoch nach dem Grundsatz des Bösen wandeln. Was würden wir von den Jüngern denken, die mit dem Herrn wandelten in den Tagen seines Fleisches, wenn sie seine Person und seine Gegenwart so geringschätzend behandelt und so wenig beachtet, sowie seine Anleitungen so wenig befolgt hätten, wie wir dies oft gegenüber dem Heiligen Geist tun, der doch nicht weniger eine göttliche Person ist? Wie sehr wird Er betrübt durch unser Verhalten, und wie wenig haben wir noch bei alledem Leid darüber getragen und diese Sünde im Licht Gottes gefühlt und bekannt! Dürfen wir uns wundern, wenn in unseren Zusammenkünften am Tisch des Herrn, in unseren Gebetstunden und bei der Betrachtung des Wortes der Heilige Geist so wenig wirken kann, und daher so wenig Lob und Anbetung, hingegen so viel Oberflächlichkeit und Trägheit gefunden wird, und die Weltförmigkeit unter uns zunimmt? Täuschen wir uns nicht dadurch, dass wir meinen, bei einer äußeren Trennung vom Bösen im Licht zu wandeln, während wir in tausenderlei Dingen unseren eignen Willen tun und die Leitung des Heiligen Geistes missachten. Das Kennzeichen eines Wandels im Licht ist die Furcht Gottes und das Bewusstsein der Gegenwart des Heiligen Geistes. „Die Furcht Jehovas ist der Kenntnis Anfang; die Narren verachten Weisheit und Unterweisung. Die Furcht Jehovas ist zum Leben, denn gesättigt wohnt man, wird nicht heimgesucht vom Übel. Glückselig der Mensch, der sich immer fürchtet, wer aber sein Herz verhärtet, wird ins Unglück fallen“ (Spr 1,7; 19,23; 28,14).

Der Herr wusste, dass wir in dieser Wüste der Leitung einer göttlichen Person bedurften, und hat in seiner unendlichen Gnade Sorge getragen, dass nach seinem Weggang ein „anderer Sachwalter“ zu uns käme, der bei und in uns sein sollte in Ewigkeit, um uns in alle Wahrheit zu leiten. Der Heilige Geist ist jetzt für uns das, was die Gegenwart Gottes für Israel in der Wolken– und Feuersäule war. Dieselbe fehlte nie, und die Kinder Israel hatten, um ihren Schutz und ihre Leitung zu genießen, nichts zu tun, als ihr zu folgen. Andererseits aber haben wir noch weit mehr als Israel. Der Heilige Geist wohnt in uns als der „Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Tim 1,7), so dass wir in Ihm nicht nur einen sicheren und unfehlbaren Führer, sondern auch die zum Nachfolgen nötige Kraft usw. besitzen. Wenn daher der Ungehorsam für die Kinder Israel verhängnisvoll werden musste, wie vielmehr für uns! Und wir haben gesehen, was unser eigener Wille vor Gott ist; er ist nichts anders als der Grundsatz der Gesetzlosigkeit.

Wie gesegnet hingegen die Folgen eines Gehorsams sind, der in nichts der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Weg steht, sehen wir in der Kirche zurzeit der Pfingsttage. Die Gläubigen befanden sich noch kurz vorher in großer Furcht, Schwachheit und Unwissenheit; aber sie waren gehorsam und fühlten ihre Abhängigkeit von Gott, und dies gab sich in ihren anhaltenden gemeinschaftlichen Gebeten kund. „Diese alle hielten einmütig an am Gebet“ (Apg 1,14). Die Antwort darauf von Seiten Gottes war die Sendung des Heiligen Geistes und dessen mächtige Wirksamkeit in ihrer Mitte. Alle wurden erfüllt mit dem Heiligen Geist, mit Kraft und Energie, mit göttlicher Freude, mit Lob und Dank gegen Gott, mit inniger Liebe zu einander und mit einer Freimütigkeit und Weisheit gegenüber ihren Widersachern, welche diese in Bewunderung und Erstaunen versetzten. Alles zeugte von der alles beherrschenden Gegenwart und Macht des Heiligen Geistes. Die Einheit der Gläubigen war vollkommen verwirklicht nach Innen und nach außen; ihre Trennung von dem Bösen und von der Welt war eine völlige, und ihr Zeugnis der Welt gegenüber überwältigend. Ihr innerer Seelenzustand zeugte von einer wahrhaften Frömmigkeit, einem hohen Ernste und einer göttlichen Einfalt, verbunden mit einem tiefen Gefühl ihrer Abhängigkeit von Gott. Mit einem Wort, wir sehen in ihnen eine herrliche Offenbarung des Lebens Jesu. Nichts mehr stand der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im Weg in der Erfüllung des Zweckes seiner Sendung, nämlich ihnen die unausforschlichen Reichtümer Christi zu offenbaren. Ihre tiefe Erkenntnis und Einsicht in die Gedanken, Ratschlüsse und Geheimnisse Gottes bestätigt uns dieses.

Ach, wie öde und traurig sieht es dagegen in unseren Tagen aus in dem, was einst einem blühenden Garten Gottes glich! Unstreitig hat der Geist Gottes Großes in der letzten Zeit gewirkt; und wir haben alle Ursache, den Herrn zu preisen, dass Er seines Werkes stets eingedenk bleibt trotz der großen Untreue der Seinen. Viele Tausende sind bekehrt worden, und Tausende von Gläubigen haben angefangen, sich wieder im Namen Jesu auf Grund des göttlichen Wortes, unter der Leitung des Heiligen Geistes und im Bewusstsein der Einheit des Leibes Christi am Tisch des Herrn zu versammeln und Ihn zu ihrer Aufnahme vor der bald hereinbrechenden Stunde der Versuchung zu erwarten. Aber gleich wie in den Tagen Esras die Häupter unter den Vätern der zurückgekehrten aus Babel „mit lauter Stimme weinten“, wenn sie das wiederhergestellte Haus Gottes mit dem ersten Haus verglichen, so können auch wir nur weinen bei dem Gedanken an die verschwundene Herrlichkeit der Kirche und der glorreichen Entfaltung der Macht des Heiligen Geistes – weinen über die Verachtung, Schmach und Betrübnis, welche Ihm durch unsere Untreue und unseren Ungehorsam widerfahren sind. Wir können das Geschehene nicht wieder gut machen und jene glorreichen Tage nicht wieder zurückrufen, aber wir können uns mit Ernst und Aufrichtigkeit vor dem Herrn demütigen und gleich den Gläubigen zu Jerusalem anhalten am Gebet zu Gott, damit Er uns Gnade gebe, seinem Geist nicht länger zu widerstreben, sondern uns seiner Leitung und dem Wort Gottes rückhaltlos An unterwerfen.

Nicht dass wir um eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes zu bitten hätten, wie dies leider von so vielen Gläubigen in unseren Tagen der Verwirrung geschieht, indem sie dadurch nur ihre große Unwissenheit betreffs seiner Gegenwart an den Tag legen. Denn Er ist und bleibt bei uns nach der Verheißung des Herrn (Joh 14,17), und seine Macht ist dieselbe geblieben. Aber Er will, dass wir in aller Demut seine Gegenwart anerkennen durch eine gehorsame Unterwerfung unter seine Macht und Leitung. Das ist die wahre und einzig wirkliche Umkehr zur Kraft und Erleuchtung, zur Liebe und Einheit des Geistes und zur Verwirklichung der Einheit des Leibes. Möchten wir eingedenk sein der Worte des Apostels: „Alle aber seid gegen einander mit Demut fest umhüllt; denn Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt Er Gnade. So demütigt euch nun unter die mächtige Hand Gottes, damit Er euch erhöhe zu seiner Zeit“ (1. Pet 5,5–6). Vergessen wir nicht, dass der Hochmut, die Triebfeder des eignen Willens, der große Charakterzug des Gesetzlosen und das charakteristische Kennzeichen des Bereichs des Bösen ist.

Um jedoch wieder auf unseren Gegenstand zurückzukommen, so ist es die wahre, durch den Heiligen Geist bewirkte Erkenntnis Christi, welche uns klein macht in unseren Augen und uns zugleich zu Ihm erhebt, der in Wahrheit groß und würdig ist. Sie erfüllt das Herz mit göttlicher Freude und lebendiger Hoffnung, mit großer Freimütigkeit und kindlichem Vertrauen zu Gott, und erzeugt einen Wandel, der Gottes würdig ist. Sie macht uns Jesus zu einem teuren Gegenstand und bringt uns dadurch in praktische Übereinstimmung mit dem Herzen Gottes, des Vaters, mit seinen Gedanken, Gefühlen und Zuneigungen, indem wir mit Ihm einen und denselben Gegenstand der Freude und Wonne haben; und schließlich verbindet sie uns mit allen Gläubigen, als den Gegenständen der Liebe seines Herzens. Darum wird das Geheimnis des Christus auch das Geheimnis der Gottseligkeit genannt, und mit Recht kann man das Christentum seiner wahren Bedeutung nach den Kreis und Bereich der Offenbarung der Liebe des Vaters, der Herrlichkeit des Sohnes und der Macht des Heiligen Geistes nennen, sowie den Schauplatz der vollkommensten Freude und Glückseligkeit, der ewigen Ruhe und ununterbrochenen Anbetung Gottes im Geist und in Wahrheit. Ein Christ ist seiner Stellung nach ein wahrhaftiger Anbeter im Geist und in Wahrheit, weil der Heilige Geist in ihm wohnt, und weil er Gott kennt, wie Er ist.

Aber wir haben alles in und durch Christus. Er ist der Mittelpunkt des Geheimnisses Gottes, „in welchem verborgen sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol 2,3). Wohl sind diese Schätze bis zur völligen Offenbarung Christi ein Geheimnis; aber der Christ kennt und genießt sie in dem Maß, als er unter der Leitung des Heiligen Geistes Christus erkennt. Alles hängt von der Erkenntnis der Person Christi ab, in welche uns der Heilige Geist allein einführen kann – ohne Zweifel durch das Wort Gottes. Denn wir haben keine neuen oder unmittelbaren Offenbarungen des Geistes außerhalb des Wortes mehr zu erwarten; dies würde zur Schwärmerei führen. Die ganze göttliche Offenbarung ist im Wort enthalten und hat ihren Abschluss gefunden in der Mitteilung des Geheimnisses des Christus durch den inspirierten Apostel, der da sagt: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und ergänze in meinem Fleisch, was noch rückständig ist an den Trübsalen des Christus für seinen Leib, das ist die Versammlung, deren Diener ich geworden bin nach der Verwaltung Gottes, die mir an euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden: das Geheimnis, das verborgen war von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her, jetzt aber offenbart worden ist seinen Heiligen, denen Gott kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses sei unter den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit; den wir verkündigen, indem wir jeglichen Menschen ermahnen und jeglichen Menschen lehren in aller Weisheit, auf dass wir jeglichen Menschen vollkommen in Christus darstellen“ (Kol 1,24–28). Alles ist offenbart, und das Geheimnis des Christus bildet sozusagen die Krone der ganzen Offenbarung, indem in demselben alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen sind. Derselbe Apostel konnte sagen: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben. Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist, denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes.“ Die Apostel empfingen diese Offenbarung unmittelbar durch den Geist Gottes und teilten sie uns im geschriebenen Worte mit, und jetzt empfangen wir das Verständnis dieser Mitteilungen wiederum durch den Geist Gottes. Menschliche Weisheit vermag hier weniger als nichts. „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, denn es wird geistlich beurteilt“ (1. Kor 2). Der Heilige Geist allein konnte die Geheimnisse Gottes durch die Apostel mitteilen, und Er allein kann auch Verständnis über das Mitgeteilte geben. „Denn wer von den Menschen weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? Also weiß auch niemand, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes.“ Kein Mensch kennt meine Gedanken oder Gefühle, wenn ich sie nicht kundgebe, aber mein eigener Geist in mir kennt sie; so auch weiß nur der Geist Gottes, was in Gott ist, und Er allein kann es offenbaren.

Wie töricht ist es daher, wenn der Mensch sich einbildet, mit seinem Verstand die Dinge Gottes erforschen zu können. Er maßt sich an, das zu tun, was nur der Geist Gottes zu tun vermag, und zeigt dadurch nur seine Blindheit. Ein Mensch, der nicht einmal fähig ist, sich selbst zu beurteilen, vermag trotz all seiner Gelehrsamkeit und Weisheit und trotz aller Schärfe seines Verstandes noch viel weniger in die Erkenntnis Gottes einzudringen. Sie ist und bleibt für seinen Verstand ein Geheimnis, und trotz all seiner Spekulationen tappt er unaufhörlich im Finsteren umher, wie ein Blinder am hellen Mittage. Denn die Erkenntnis Gottes beruht nicht auf den Spekulationen des menschlichen Geistes, noch lässt sie sich einstudieren auf den Hochschulen menschlicher Wissenschaft. Solche Studien sind in dieser Beziehung völlig fruchtlos; sie bestätigen nur das Wort des Apostels, der da sagt: „Wo ist der Weise? Wo der Schriftgelehrte? Wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?“ (1. Kor 1,20) Und der Herr selbst sagt: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen offenbart! Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11,25–26). Wenn der Mensch mit seinem Verstand Gott ergründen könnte, so müsste er sein wie Gott, aber dann wäre Gott nicht mehr Gott.

Der natürliche Mensch kennt nichts von der Weisheit Gottes, „welche keiner von den Fürsten dieses Zeitlaufs erkannt hat; denn wenn sie dieselbe erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben“ (1. Kor 2). Die Welt hat keine Ahnung gehabt von der Größe dessen, der in ihrer Mitte war. Aber diejenigen, welche Augen dafür hatten, haben „Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). (Schluss folgt)

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