Botschafter des Heils in Christo 1860

Macht ihn los und lasst ihn gehen

Es gibt viele lebendig gemachte Seelen, welche die Kraft dieser Worte: „Macht ihn los und lasst ihn gehen,“ noch nicht verstanden haben. Sie sind durch die Leben gebende Stimme des Sohnes Gottes aus einem Zustand des Todes lebendig gemacht, aber sie „kommen heraus an Füßen und Händen mit Grabtüchern gebunden,“ und ihre Angesichter mit einem Schweißtuch umbunden; oder mit anderen Worten: sie sind bis jetzt noch nicht fähig gewesen, die Fesseln ihres vorigen Zustandes abzulegen und in der Freiheit, womit Christus die Seinen freigemacht hat, zu wandeln. Aus den mannigfachen Anstrengungen und Kämpfen, worüber sie sich beklagen, geht hervor, dass sie göttliches Leben empfangen haben. Ein Toter macht solche Erfahrungen nicht. Solange Lazarus in dem stillen Grab, in der kalten Gewalt des Todes lag, fühlte er nicht, dass seine Grabtücher ein Hindernis waren, um sich zu bewegen, und sein Schweißtuch ein Hindernis, um zu sehen. Alles war finster, kalt und leblos, und die Grabtücher waren der einzige Schmuck für einen solchen Zustand. Ein Mensch, dessen Hände und Füße von den Fesseln des Todes gebunden waren, konnte unmöglich die Unbequemlichkeit der Grabtücher fühlen, noch konnte ein Mensch, dessen Augen durch die kalte Hand des Todes versiegelt waren, die Unbequemlichkeit eines Schweißtuches fühlen.

Also ist es bei den Unbekehrten, bei den Unwiedergebornen, bei den Nichterweckten. Sie sind „tot“ – moralisch, geistlich tot. Ihre Füße sind mit den Fesseln des Todes gebunden; aber sie wissen es nicht. Ihre Hände sind durch die Banden des Todes gefesselt, aber sie fühlen es nicht. Ihre Augen sind mit dem finsteren Schweißtuch des Todes bedeckt, aber sie bemerken es nicht. Sie sind tot. Sie sind angetan mit den Gewändern des Todes – die Grabtücher liegen auf ihnen und sind ihrem Zustand angepasst.

Diejenigen nun, für welche ich dieses schreibe, haben auf die eine oder andere Weise die allmächtige, Leben gebende Stimme des Sohnes Gottes, der „die Auferstehung und das Leben“ ist, gehört. Diese Stimme hat entweder durch einen Vers aus dem Wort Gottes, oder durch eitle Predigt, oder durch einen Traktat, oder durch ein Lied, oder durch ein Gebet, oder durch einen ergreifenden Vorfall usw. auf sie gewirkt. Sie hat ihr Ohr erreicht, hat in ihrem Herzen Anklang gefunden, und ist in die Tiefe ihres Wesens durchgedrungen. Das Leben in seiner ganzen Wirklichkeit ist vorhanden. Die neue Geburt hat stattgefunden. Die neue Natur ist ihnen mitgeteilt. Sie geben Lebenszeichen von sich; aber die Grabtücher und das Schweißtuch sind noch da. Ich glaube, dass viele in diesem Zustand leben; sie sind wiedergeboren, aber sie kennen weder die Vorrechte, welche an diese Geburt geknüpft, noch den Zweck des Lebens, dessen sie teilhaftig geworden sind. Mit einem Wort, es ist nötig, dass die Stimme, welche schon gesagt hat: „Lazarus, komm heraus,“ auch sagt: „Macht ihn los und lasst ihn gehen.“ Sie sind lebendig gemacht, aber sie bedürfen befreit zu werden.

Lasst uns einige Beispiele aus dem Wort Gottes nehmen. Der verlorene Sohn war lebendig gemacht, ehe er befreit war. „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen,“ war die Äußerung des neuen Lebens – die Sehnsucht der neuen Natur. Aber wie wohl er seinen traurigen Zustand eingesehen hatte und er sich nach dem Haus seines Vaters sehnte, so war doch sein Herz über seine Annahme als Sohn nicht gewiss. Er kannte nicht die Gedanken seines Vaters über ihn, noch wusste er, dass alle seine Sünden schon vergeben waren und dass das Herz seines Vaters mit vollkommener Liebe gegen ihn erfüllt war; und darum wollte er zu seinem Vater mit diesen Worten kommen: „Ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“

Konnte es möglich sein, dass der verlorene Sohn immer in dieser Ungewissheit voranging? O nein; sobald er sich aufgemacht hatte, um zu seinem Vater zu gehen, nahm die Liebe des Vaters, der ihm schon, als er noch ferne war, entgegenkam, jede Ungewissheit und jeden Zweifel aus seinem Herzen hinweg. In den Armen seines Vaters war keine Furcht mehr möglich. Er nahm ihn nicht als Tagelöhner auf, sondern ließ ihm, als dem geliebten Sohn, das vornehmste Kleid anziehen und um seinetwillen ein Freudenfest veranstalten. Da konnte er an der Seite seines Vaters ruhen und sich erfreuen; er konnte alles vergessen, denn er war von allen Banden gelöst und vollkommen befreit. Ebenso war es mit Lazarus. Auch er konnte unmöglich die übrigen Tage seines Lebens mit seinen Grabtüchern und seinem Schweißtuch umhergehen. Dieselbe Stimme, welche ihn lebendig gemacht und auferweckt hatte, befahl auch: „Macht ihn los und lasst ihn gehen.“ Und ist es nicht ebenso mit jedem, der durch den Namen des Sohnes Gottes eines neuen Lebens teilhaftig geworden ist? Gewiss. Auch er darf nicht länger durch die Fesseln des Grabes gebunden bleiben. Seine Hände und Füße müssen entbunden sein, so dass er Christus dienen und in seinen Geboten wandeln kann. Sein Angesicht muss enthüllt und das Schweißtuch weggenommen sein, damit er den anschauen kann, dessen Stimme ihn lebendig gemacht hat.

Lasst uns ein anderes Beispiel wählen. Im 7. Kapitel des Römerbriefs wird uns der Zustand eines Menschen vor Augen gestellt, der sich anstrengt, den Willen Gottes zu vollbringen, ohne die Kraft Gottes zu haben, denselben zu tun, weil das „Ich“ immer der Mittelpunkt seiner Gedanken ist. In solch einem Zustand befinden sich auch wirklich bekehrte Seelen. Auch sie sagen: „Ich habe Wohlgefallen am Gesetz Gottes nach dem Innenmenschen;“ aber zu gleicher Zeit: „ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.“ Der Gläubige aber ist nicht „verkauft“, sondern „gekauft“ – erlöst „mit dem Blut Christi“ – „von der Sünde freigesprochen“ – „freigemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes.“ – Weiterhören wir solch eine Seele bekennen: „Was ich will, das tue ich nicht, sondern was ich hasse, das übe ich aus.“ Dies ist ein Zustand von fortdauernder Niederlage, während. der Gläubige sagen kann: „Wir sind mehr als Überwinder“ – und: „Gott sei Dank, der uns allezeit im Triumphzug in Christus umherführt“ (Röm 8,37; 2. Kor 2,14). Endlich hören wir diese Klage: „Ich elender Mensch, wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ Der Gläubige aber, anstatt ein elender Mensch zu sein, der nach Errettung sucht, ist wirklich ein glücklicher Mensch, der sich freut, vollkommen und ewig erlöst zu sein.

Das 7. Kapitel des Römerbriefs, welches so oft missverstanden wird, kann also nur auf eine erweckte Seele, welche noch nicht in Wahrheit befreit ist, angewandt werden – auf eine Seele, welche noch nicht fähig ist, zu sagen: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (Röm 8,2). Solch eine Seele hat wohl die Worte: „Lazarus, komm heraus“ gehört, aber noch nicht begriffen, dass auch zu ihr gesagt ist: „Macht ihn los und lasst ihn gehen.“ Mit anderen Worten: Hier ist Leben, aber keine Freiheit; hier ist genug Licht, um den elenden Zustand des alten, aber nicht genug, um die köstliche Stellung des neuen Menschen zu sehen – hier ist ein richtiger Begriff von der Geistlichkeit des Gesetzes, aber keine Erkenntnis von der Erlösung aus der verdammenden Macht desselben. Können wir mit solch einem Zustand zufrieden sein? Ist dies die wahre Stellung eines Gläubigen? Gewiss nicht. Wir könnten ebenso gut behaupten, dass Lazarus ganz zufrieden gewesen wäre, sein ganzes Leben, „an Händen und Füßen gebunden und das Angesicht mit einem Schweißtuch bedeckt,“ umherzugehen. Gott aber tut kein halbes Werk, weder an dem Leib, noch an der Seele. Er sagt nie: „Komm heraus,“ ohne hinzuzufügen: „Macht ihn los und lasst ihn gehen.“ Er kann sein Volk nicht in Knechtschaft, „verkauft unter die Sünde“, lassen. Und täte Er dieses, würde Er damit nicht beweisen, dass Er es nicht befreien könnte oder wollte? Wenn Er sein Volk in Zweifel ließe, würde das nicht beweisen, dass sein Wort nicht genügend sei, um Sicherheit zu geben? Gewiss. Wer aber wollte dies zu behaupten wagen? Keiner, welcher die Liebe seines Herzens, den Wert seines Opfers und die Autorität seines Wortes kennt.

Und lasst uns bemerken, dass es ein und dieselbe Stimme ist, welche lebendig macht und befreit, welche uns von der Herrschaft des Todes erlöst und in die Freiheit des Lebens einführt. Das Leben und die Freiheit sind mit einander verbunden, weil sie aus ein und derselben Quelle entspringen. Das Leben, welches der Gläubige hat, ist nicht das verbesserte Leben des ersten, sondern das mitgeteilte Leben des zweiten Adams; und die Freiheit, in welcher der Gläubige wandelt, ist keine Freiheit für den alten Adam, um seiner schrecklichen Lust zu dienen, sondern eine Freiheit für den neuen Menschen, um mit Gott zu wandeln und in die heiligen Fußstapfen Christi zu treten. Wie aber werden wir dieses Lebens und dieser Freiheit teilhaftig? Durch das Wort Gottes, erlangt durch Glauben, durch die Kraft des Heiligen Geistes. Dieselbe Stimme, welche Lazarus auferweckte, macht die Seele lebendig. Und wo wird diese Stimme vernommen? Im Wort der Wahrheit des Evangeliums. Die Seele, welche an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, bat ein neues Leben empfangen. Welches Leben? Das Auferstehungsleben Christi. Das einfache Wort des Evangeliums ist der Samen, welcher dies neue Leben hervorbringt. Und was erklärt dieses Evangelium, diese frohe Botschaft des Heils? Dass Christus gestorben und auferstanden ist – dass Er die Sünde durch sein eigenes Opfer weggenommen hat – dass Er in den Himmel eingegangen ist – dass Er uns von unseren Sünden gereinigt hat – dass Er jeder Forderung, jeder Frage, ja allem, was gegen uns war, völlig begegnet ist – dass die Gerechtigkeit befriedigt – das Gewissen beruhigt – der Feind beschämt ist. Dies gibt Leben und Freiheit – neues Leben und göttliche Freiheit. Dies entrückt ganz und gar die Seele aus der alten Schöpfung und aus allem, was dazu gehört, und versetzt sie in die neue Schöpfung mit all ihren Vorrechten, mit all ihrer Freude und Herrlichkeit. Der Tod Christi befreit den Gläubigen aus der Stellung des alten Adams, in welche er geboren war, und seine Auferstehung versetzt ihn in die Stellung des neuen Adams, in welche er wiedergeboren ist.

Alles dieses ist durch das Wort Gottes – durch die Stimme Christi – durch die Wirkung des Heiligen Geistes. Keine menschlichen Anstrengungen kommen hierbei in Betracht. Der Leichnam des Lazarus wurde durch die Stimme Christi auferweckt; und die Seele, tot in Sünden und Übertretungen, wird ebenfalls durch die Stimme Christi auferweckt. Die lebendig machende Kraft für beide, die Seele und den Leib, ist in der Stimme des Sohnes Gottes (Siehe Joh 5,25 vgl. mit V 28–29). Dies benimmt dem Menschen allen Ruhm, welcher da bleibt, wo er hingehört – in der Hand des Sohnes Gottes. Ihm sei die Herrlichkeit und Ehre immer und ewiglich!

O, wie sehr wünsche ich, dass die Seelen, für welche ich dieses schreibe, verstehen mögen, was ich gesagt habe. Ich schreibe für lebendig gemachte, aber noch nicht befreite Seelen – für solche, die herausgekommen, aber noch nicht losgemacht und in Freiheit weggegangen sind. Sehr viele sind in diesem Zustand. Viele sind in dem Zustand des verlorenen Sohnes, als er aus dem fremden Land zurückgekehrt war, aber die Arme seines Vaters noch nicht erreicht hatte. – viele sind in Römer 7. Doch ich wünsche sehr ihre vollkommene Befreiung; ich bezeuge ihnen dringend, dass das ganze Werk vollbracht – das Opfer vollkommen – die Schuld bezahlt ist. Sie haben nichts mehr zu tun, um einen vollkommenen Frieden zu besitzen. Christus hat Frieden gemacht. Gott ist befriedigt, wovon der Heilige Geist Zeugnis gibt. Das Wort Gottes spricht es ganz deutlich aus. Wo ist dann nun noch ein Grund für den Zweifel? Der Leser denkt vielleicht: „Ach! er liegt in mir selbst.“ Aber ich erwidere: Du hast nichts zu tun in einer Sache, worin schon alles für dich getan ist. Die Gerechtigkeit Gottes ist für den, der nicht wirkt. Hättest du noch etwas zu tun, um die Gerechtigkeit zu erwerben, dann wäre Römer 4,5 nicht wahr. Erwäge und erfreue dich an diesem herrlichen Wörtchen „nicht“. Es ist nicht der Mühe wert, um die menschliche Wirksamkeit, die menschlichen Gefühle usw. in die Waagschale zu legen, um dadurch das Opfer Christi gültig zu machen. Christus hat alles getan für deine gegenwärtige, persönliche und vollkommene Errettung.

Gott gebe, dass viele Seelen von den Grabtüchern, womit sie jetzt noch gebunden sind, befreit werden! Er gebe, dass viele diese durchdringenden und ergreifenden Worte: „Macht ihn los und lasst ihn gehen“ hören und verstehen!

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