Botschafter des Heils in Christo 1860

Das gute Teil

Die Familie in Bethanien war eine gesegnete. Sie nahm den Herrn in ihrem Schoß auf und „Jesus aber liebte die Martha und ihre Schwester und Lazarus“ (Joh 11,5). Diese waren auch von seiner Liebe überzeugt, denn als Lazarus krank war, ließen Ihm die Schwestern sagen: „Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank“ (Joh 11,3). Sie wussten, dass alle die Gefühle und Sympathien seines Herzens für sie würden rege werden, sobald Er von der Krankheit ihres Bruders hören würde.

Wir finden aber unter diesen beiden Schwestern in Betreff ihrer inneren Stellung zum Herrn einen großen Unterschied. Das Leben in Martha war schwach und die Gefühle ihrer Liebe gingen nicht sehr tief. Sie nahm sicher den Herrn mit Freuden in ihr Haus auf und war auch selbst mit vielem Dienen beschäftigt, aber ihr Herz war in seiner unmittelbaren Nähe nicht völlig ruhig und glücklich. Sie hatte mehr Ruhe in ihrem Dienst, als in seiner Gegenwart und deshalb war sie auch lieber mit vielen Dingen beschäftigt, als dass sie horchend zu seinen Füßen saß. Dies aber lässt uns klar erkennen, dass sie eher an die Bedürfnisse des Herrn, als an seine Fülle dachte und dass sie auch weniger fähig war, die Gedanken Gottes zu verstehen und die gesegneten Ströme der Gnade in sich aufzunehmen. Mit einem Wort: Martha liebte den Herrn, aber sie hatte wenig wahre Gemeinschaft mit Ihm.

Sie ist aber ein getreues Bild vieler Gläubigen in unsern Tagen. Es fehlt sogar nicht an solchen, deren Herz in der unmittelbaren Nähe des Herrn mit Furcht und Unruhe erfüllt und deren Angesicht mit Schamröte bedeckt werden würde. Es sind Gläubige, die ihr Herz meist in der Welt haben und es durch allerlei eitle und fleischliche Dinge verunreinigen. Selten befinden sie sich durch Glauben, mit ihrem Wandel in der unmittelbaren Gegenwart des Herrn. Und wenn einmal das Licht, etwa am Ende ihres Lebens, auf ihr Gewissen wirkt, dann sind sie mit Furcht und Schrecken erfüllt. Es ist wahr, die Gnade Gottes kann sie nicht lassen, aber hinter ihnen liegt dann ein unreines und verlornes Leben.

Andere beschäftigen sich zwar, wie Martha, viel mit solchen Dingen, die den Herrn und sein Werk betreffen, aber sie haben wenig wahre Gemeinschaft mit der Quelle allen Dienstes, mit dem Herrn selbst. Wo aber diese Gemeinschaft fehlt, da fehlt auch die wahre Abhängigkeit von Gott und die Erkenntnis seines wohlgefälligen Willens. Man geht voran in eigener Weisheit und eigener Kraft und der freie Dienst der Liebe wird zu einem mechanischen Dienst der Pflicht. Und anstatt in der gesegneten Gegenwart des Herrn, bewegt man sich so oft nur in menschlichen Formen und Satzungen. Und ach, wie allgemein ist dieser Zustand bei so vielen Christen in unsern Tagen geworden! Sie beunruhigen sich weit eher über den Mangel ihres Dienstes, als über den Mangel ihrer Gemeinschaft mit dem Herrn und seiner Fülle. Deshalb ist auch ihr Gebet fast nur ein Zufluchtnehmen in ihren Bedürfnissen und nicht ein gesegneter Umgang des Herzens mit Gott und ihre Ruhe ist mehr auf ihren Dienst, als auf die Gnade in Jesu gegründet. Es ist auch wenig Bedürfnis vorhanden, um tiefer in die Gedanken Gottes und in seinen wohlgefälligen Willen einzudringen. Sie sind zufrieden, wenn ihre Erkenntnis so weit reicht, dass sie eben ihr Gewissen vor Gott zu stillen vermögen und sie bleiben unbekannt mit dem Frieden und der Freude in dem Herzen Jesu auf dieser Erde.

Martha konnte das Benehmen ihrer Schwester nicht verstehen, weil sie die verborgene und innige Liebe ihres Herzens zum Herrn nicht verstand. Sie hielt sicher ihren Dienst für das gute Teil und trat deshalb ganz freimütig zum Herrn und sagte: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich alleine gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun, dass sie mir helfen soll“ (Lk 10,40). Doch hier in der Gegenwart des Lichtes, wird ihr Tun nach seinem wahren Wert beurteilt: „Martha, Martha! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge; eins aber ist nötig. Denn Maria aber hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden kann“ (Lk 10,41.42). Und was war denn dieses gute Teil der Maria? Der Herr selbst. Sie saß zu seinen Füßen und horchte auf die gesegneten Worte, die von seinen Lippen strömten. Sie konnte nicht fern sein, wenn der Herr nahe war. Sie konnte sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen, wenn Er Worte des Lebens mitteilte. Da wo Martha beunruhigt wurde, da war für sie der Platz der süßesten und glückseligsten Ruhe. Seine gesegnete Gegenwart machte für ihr Herz alles tot um sie her. Es war nur für Ihn geöffnet und alle ihre Gefühle und Neigungen nur auf Ihn gerichtet. Sie dachte nur an seine Fülle und setzte sich an die unversiegbare Quelle und trank mit vollen Zügen die Worte des Lebens. Sie war das leere Gefäß, in welches der Herr seine gesegneten Ströme der Gnade und des Friedens ergießen konnte. Ihr Herz war fähig, die Gedanken und Gefühle seines Herzens zu teilen. Und wurde sie selbst auch von niemand verstanden, so verstand sie doch der Herr und mehr begehrte sie nicht. Er bezeugte: „Maria hat das gute Teil erwählt.“

O, wie glücklich ist ein Herz, welches das gute Teil erwählt hat, welches die gesegnete Gemeinschaft des Herrn allem anderen vorzieht! Nichts kann uns so beglücken und erfreuen als Er und nichts macht uns so fähig, im Dienste des Herrn gesegnet zu wandeln, als die stete und innige Gemeinschaft mit der Quelle. Dies lehrt uns ebenfalls die Maria.

Im Anfang des zwölften Kapitels des Johannesevangeliums finden wir Jesum wieder in Bethanien und wir lesen in Vers 3: „Da nahm Maria ein Pfund Salböl von echter, sehr kostbarer Narbe und salbte die Füße Jesu und trocknete die Füße mit ihren Haaren. Das Haus aber wurde von dem Geruch des Salböls erfüllt.“ Die anwesenden Jünger aber waren ebenso wenig fähig, diesen Dienst der Maria zu verstehen, als Martha fähig gewesen war, ihr Sitzen zu den Füßen des Herrn zu verstehen. Der Herr aber verstand sie auch hier, und das war für Maria immer genug. Sie lebte nur für Ihn und darum hatte auch sein Zeugnis allein Wert für sie. Und Er bezeugte: „Denn sie hat ein gutes Werk an mir getan“ (Mt 26,10). Glückliche Maria! Sie hat das gute Teil erwählt und das gute Werk getan.

Der Herr aber gebe, dass auch wir das gute Teil erwählen, damit wir fähig sein mögen, das gute Werk zu tun!

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel