Botschafter des Heils in Christo 1860

Eine schlaflose Nacht

„In derselben Nacht konnte der König nicht schlafen“ (V 1). Woher kam dies? Was trieb den Schlaf von den Augen des Monarchen hinweg? Warum konnte der mächtige Ahasveros sich nicht einer Gnade erfreuen, welche ohne Zweifel das Teil seiner geringsten Untertanen war? Manche mögen sagen: „Die schweren Sorgen der Regierung raubten ihm diese Wohltat, deren der arbeitende Mann sich erfreut.“ Dies mochte in jeder anderen Nacht der Fall sein; aber „in dieser Nacht“ müssen wir den Grund seiner Ruhelosigkeit ganz anderswo suchen. Der Finger des Allmächtigen war in jener schlaflosen Nacht. „Der Herr Gott der Hebräer“ hatte für sein geliebtes Volk ein mächtiges Werk zu vollbringen, und um dieses auszuführen trieb er den süßen Schlaf von dem luxuriösen Lager des Monarchen von hundert sieben und zwanzig Provinzen.

Dies stellt den Charakter des Buchs Ester auf eine bemerkenswerte Weise ans Licht. Der Leser wird bemerken, dass in diesem interessanten Teile der Schrift der Name Gottes nicht ein einziges Mal gehört wird, und dennoch ist augenscheinlich sein Finger auf alles gedrückt. Der gewöhnlichste Umstand offenbart seinen wunderbaren Rat und seine anbetungswürdige Tat. Das natürliche Auge vermag die Bewegung der Räder von Jehovas Wagen nicht zu verfolgen; aber der Glaube folgt nicht allein, sondern er kennt auch die Richtung, in welcher er dahinfährt. Der Feind macht Pläne, aber Gott ist über ihm. Jede Bewegung Satans erscheint nur als ein Glied in der wunderbaren Kette, durch welche der Gott Israels seinen Gnadenratschluss in Betreff seines Volkes ans Licht bringt. So war es, so ist es jetzt und so wird es immer sein. Die Bosheit Satans, der Stolz des Menschen, die feindseligsten Einflüsse – kurz alles sind nur Werkzeuge in der Hand Gottes zur Erfüllung seiner gnädigen Ratschlüsse. Dies gibt inmitten des unaufhörlichen Wankens und Schwankens der menschlichen Angelegenheiten dem Herzen die süßeste Ruhe. „Das Ende des Herrn“ wird sicher gesehen werden (Jak 5,11). „Sein Rat wird bestehen und Er wird alles tun, was Ihm wohl gefällt.“ Gepriesen sei sein Name für diese ermunternde und befestigende Versicherung! Sie erquickt das Herz zu jeder Zeit. Jehova ist immer hinter der Szene. Jedes Rad, jede Schraube, ja jeder Stift in der großen Maschine der menschlichen Geschicke ist unter seiner Kontrolle. Wenn auch die Kinder der Erde seinen Namen nicht kennen, noch anerkennen, so wird doch durch die Kinder des Glaubens sein Finger gesehen, seinem Wort vertraut und sein Ende erwartet.

Wie klar und deutlich tritt uns dies alles im Buch der Ester entgegen! Wasti Schönheit – des Königs Stolz darüber – sein ungeziemender Befehl – ihre unwillige Weigerung – der Rat der königlichen Ratgeber – kurz alles ist nur die Entfaltung der reifenden Ratschlüsse Jehovas. – Von „all den jungen, schönen Jungfrauen, welche auf das Schloss Susan zusammengebracht waren,“ (Kap 2,3) wurde keiner erlaubt, das Herz des Königs zu gewinnen, als Ester, der Tochter eines unbekannten jüdischen Hauses – einer einsamen Waise. Und wiederum ward es unter allen Beamten, Dienern und Aufsehern in dem Palast niemandem erlaubt, die Verschwörung gegen das Leben des Königs zu entdecken, als „einem gewissen Juden, dessen Name Mordechai war.“ Und nichts vermochte in jener Nacht die lästigen Stunden des Monarchen auszufüllen, als „das Gedächtnisbuch der Chronika“ (Kap 6,1) – eine sonderbare Erquickung für einen genusssüchtigen König! Aber Gott war hinter diesem allem. Es stand nun ein gewisses Verzeichnis in dem Buch in Betriff eines Juden, welches sich gleich dem Auge des ruhelosen Monarchen darstellen musste. Mordechai musste in Erinnerung kommen. Er musste für sein Treue belohnt werden, und zwar so belohnt, dass das Gesicht des stolzen Amalekiters Haman mit überwältigender Schaam bedeckt wurde. In demselben Augenblick, als dies Verzeichnis an die Reihe kam, musste der stolze und böse Haman in dem Hof vor dem Haus des Königs gesehen werden. Er war gekommen, um den Tod des Mordechai zu bewerkstelligen, aber siehe da! durch die göttliche Vorsehung wird er gezwungen, zu Mordechais Triumph und Ehre den Plan zu entwerfen. Er war gekommen, um ihn an einen Galgen aufhängen zu lassen, aber er wurde bestimmt, mit des Königs Gewand ihn zu bekleiden, auf des Königs Ross ihn zu setzen und in eigener Person und zwar, zu Fuße ihn durch die Stadt zu begleiten, und wie ein Herold, seinen Triumph zu verkündigen.

Wer hätte daran denken können, dass der höchste Beamte in dem ganzen Reiche des Ahasveros, ein Nachkomme des Hauses Agag, würde gezwungen werden, also einen armen Juden zu bedienen – ja solch ein hochgestellter Beamte, solch ein Jude, und in solch einem Augenblick? Wahrlich, der Finger des Allmächtigen war in diesem allen? Nur ein Ungläubiger, ein Atheist, oder ein Zweifler könnte eine so augenscheinliche Wahrheit in Frage stellen.

So viel nun in Betreff der Vorsehung Gottes. Lasst uns jetzt den Stolz des Haman ein wenig näher betrachten. Trotzend auf seine Würde, auf seinen Reichtum und seinen Glanz, wurde sein nichtswürdiges Herz durch eine ganz kleine Sache verblendet – durch eine Sache, welche ein wahrhaft großer Geist und ein wohlgesinntes Herz nicht einmal der Mühe werthält darüber zu denken. Die einfache Tatsache, dass Mordechai sich nicht vor ihm beugen wollte, machte ihn unglücklich, obgleich er den ersten Platz am Thron innehatte, obgleich ihm der Ring des Königs anvertraut war, obgleich er fürstlichen Reichtum besaß und in eine fürstliche Stellung gesetzt war. Er sagte: „An dem allen habe ich kein Genüge, solange ich sehe den Juden Mordechai in des Königs Tor sitzen“ (Kap 5,13). Der elende Mensch! Die höchste Stellung, der größte Reichtum, der ausgedehnteste Einfluss, die schmeichelhaftesten Beweise der königlichen Gunst, ja „an dem allen“ hatte er kein Genüge, und zwar deshalb nicht, weil ein armer Jude sich weigerte, vor ihm sich zu beugen. So ist das natürliche Herz – so ist der Mensch – so ist die Welt!

Der „Stolz kommt vor dem Verderben und Hochmut. vor dem Fall.“ Dies bewies Haman auf eine schlagende Weise. In demselben Augenblicke, als er im Begriff war, seinen Fuß auf den höchsten Gipfel seines Ehrgeizes zu setzen, wurde er durch die göttliche Vorsehung auf eine ganz wunderbare Weise genötigt, für den armen Mordechai einen Triumph zu bereiten und für sich – einen Galgen. Der Mann, dessen bloße Gegenwart ihm sein Leben in Glanz und Pracht verbitterte, musste jetzt von ihm bedient werden; und derselbe Galgen, welchen er für sein beabsichtigtes Opfer hatte bereiten lassen, wurde jetzt zu seiner eigenen Hinrichtung benutzt!

Warum aber verweigerte Mordechai, sich vor dein Haman zu beugen? Scheint es nicht blinde Hartnäckigkeit zu sein, dem höchsten Beamten des Königs die übliche Ehre zu beweisen? Gewiss nicht. Wohl war Haman der höchste Beamte des Ahasveros; aber er war der größte „Feind Jehovas“, weil er der größte „Feind der Juden war“ (Kap 3,6 und 10). Er war ein Amalekiter; und Jehova hatte geschworen, „dass er mit Amalek Krieg führen wollte von Geschlecht zu Geschlecht“ (2. Mo 17,16). Wie konnte nun ein wahrer Sohn Abrahams sich vor einem beugen, mit welchem Jehova im Krieg war. Unmöglich! Er konnte das Leben eines Ahasveros retten, aber er konnte sich nimmer vor einem Amalekiter beugen. Als ein treuer Jude wandelte er zu nahe mit dem Gott seiner Väter, als dass er dem Samen Amaleks hätte Ehre erweisen können.

Die unbewegliche Weigerung des Mordechai, sich vor Haman zu beugen, war also nicht die Frucht einer blinden Hartnäckigkeit und eines dummen Stolzes, sondern es war der köstliche Glaube und die hohe Gemeinschaft mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er konnte nimmer die Ehre, welche dem Gott Israels gehörte, verlassen. Durch Glauben wollte er unter Jehovas Banner verweilen; und während er dort verweilte, konnte er nimmer einem Amalekiter gehorchen. San Volk war beraubt und zerstreut; ihr schönes Haus war zertrümmert und die alte Herrlichkeit Jerusalems verblichen; – musste aber deshalb der Glaube die hohe Stellung, in welche der Ratschluss Gottes sein Volk gesetzt hatte, aufgeben? Keineswegs. Inmitten des Ruins wandelt er ruhig weiter. Er hält unbeweglich an der Verheißung Gottes fest; er stellt sich auf den Boden, welche jene Verheißung jedem Glaubenden gibt. Mordechai war bestimmt, den Ruin tief zu fühlen. Er kleidete sich in Sacktuch; aber er würde sich nimmer unter einen Amalekiter gebeugt haben.

Und was war die Folge? Sein Sacktuch wurde in ein königliches Gewand und sein Platz am Tor des Königs in einem Platz nächst dem Thron verwandelt. Er verwirklichte in seiner glücklichen Erfahrung die Wahrheit der alten Verheißung, dass Israel „das Haupt und nicht der Schwanz“ sein sollte (5. Mo 28,13). – Mordechai nahm seine Stellung auf dem erhabenen Grund, worin der Glaube die Seele immer stellt. Er bildete seinen Weg nicht nach dem Anblick der Dinge um ihn her, sondern nach dem Wort Gottes durch den Glauben. Die Natur möchte fragen: „Warum wolltest du dich nicht nach den äußeren Umständen richten, warum nicht dein Verhalten der Lage der Dinge anpassen? Warum wolltest du den Amalekiter nicht mehr anerkennen, indem du siehst, dass er eine so hohe Stellung einnimmt?“ So möchte die Natur sprechen, aber der Glaube antwortet ganz einfach: „Jehova hat geschworen, dass Er mit Amalek Krieg haben will von Geschlecht zu Geschlecht.“ Also ist es immer. Der Glaube fasst den lebendigen Gott und sein ewiges Wort und bleibt im Frieden und wandelt in heiliger Erhebung.

O möchte die köstliche Belehrung, die wir in dem Buch Ester finden, durch die Kraft des Heiligen Geistes unseren Herzen recht nahegebracht werden! Wir sehen darin die Vorsehung Gottes, den Stolz des Menschen und die Macht des Glaubens. Wir finden hier aber auch ein schlagendes Bild von den Taten Jehovas für sein Volk, ein Vorbild von der plötzlichen Vernichtung seines letzten, stolzen Unterdrückers, und ein Bild seiner endlichen Wiederherstellung und seiner ewigen Segnung, Ruhe und Herrlichkeit.

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