Botschafter des Heils in Christo 1869

Die Liebe untereinander

Es ist leider nur zu offenbar, dass der gegenwärtige Zustand der Kirche oder der Versammlung Christi die Betrachtung der brüderlichen Liebe sehr erschwert, und dass das Zeugnis in dieser Hinsicht ein höchst mangelhaftes ist. Nichtsdestoweniger bleibt die Pflicht, Liebe unter einander zu haben ungeschwächt an ihrem Platz. Die erschwerenden Umstände vermögen diese Pflicht nicht bei Seite zu stellen, noch die Forderungen des Wortes Gottes aufzuheben. Der Herr Jesus selbst sagt: „Dieses ist mein Gebot, dass ihr euch unter einander liebt, gleich wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Es ist daher eine unabweisliche Notwendigkeit, dass wir uns ununterbrochen ermahnen, „Liebe unter einander zu haben.“

„Jeder, der den liebt, der geboren hat, liebt auch den, der aus Ihm geboren ist“ (1. Joh 5,1). das ist eine höchst wichtige Erklärung bezüglich der brüderlichen Liebe. Hier ist keine Rede von irgendeinem Gebot, oder irgendeiner Ermahnung; sondern hier handelt es sich um die Bestätigung einer Tatsache, dass nämlich der, welcher Gott liebt, auch die Brüder liebt. Mit anderen Worten, wenn die Liebe Gottes im Herzen wohnt, so wird dort unfehlbar auch brüderliche Liebe zu finden sein. Wenn ich aus Gott geboren bin, so habe ich nicht nur Ihn lieb, der mich geboren hat, sondern ich liebe auch die, welche aus Ihm geboren sind. Liebe ist die Natur des Lebens, welches ich empfangen habe. Bei einer solchen Erklärung ist es unmöglich, zuzugeben, dass die, welche aus Gott geboren sind, keine Liebe zu einander haben. Das Leben mag unscheinbar, schwach und elend sein, und in einem solchen Fall wird die brüderliche Liebe sich als mangelhaft und armselig erweisen; aber nichtsdestoweniger bleibt es eine Wahrheit, dass überall, wo Leben aus Gott vorhanden ist, auch die Liebe zu den Brüdern gefunden werden wird. Von einem Kind in dem zartesten Alter kann ich –mit Sicherheit sagen: „Da ist ein Sünder; die Sünde wohnt in der Natur dieses Kindes; und wenn es am Leben bleibt, so wird sich auch ohne Zweifel die Sünde offenbaren.“ Ebenso sage ich auch mit derselben Sicherheit von dem, der aus Gott geboren ist: „Da ist jemand, welcher liebt; und sicher wird die brüderliche Liebe bei ihm an den Tag treten; sie wird sich, mag es in einem geringeren oder größeren Maße sein, ganz gewiss in irgendeiner Weise offenbaren.“ Denn der Teufel vermag nichts gegen das Leben, welches wir von Gott empfangen haben; er kann es nicht vernichten; denn das, was uns zu lieben befähigt, bleibt unangetastet. Der Teufel trachtet der Entwicklung dieses Lebens entgegen zu arbeiten, um dessen Offenbarwerdung zu verhindern und die Früchte zu vernichten. Das hat er bei Christus zu tun versucht und wird es auch bei uns tun; und leider sind seine Anstrengungen bei uns nicht immer fruchtlos.

Und dieses ist, glaube ich, die Ursache, warum die Schrift uns, bezüglich der Liebe unter einander, so viele Ermahnungen gibt, um uns die Notwendigkeit fühlen zu lassen, „von Gott gelehrt zu werden, uns einander zu lieben“ (1. Thes 4,9). „Vor allem habt unter einander eine inbrünstige Liebe“ (1. Pet 4,8). „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben ... Und dieses Gebot haben wir von Ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebt“ (1. Joh 4). „Die Bruderliebe daure fort“ (Heb 13,1). Wir müssen auf diese Ermahnungen unsere Aufmerksamkeit richten und „aufeinander Acht haben zur Reizung der Liebe“ (Heb 10,24). Und ach! wie viele Dinge sind geeignet, die Liebe in uns zu schwächen und zu verringern! Lasst uns daher Acht haben auf uns selbst und uns einander ermahnen und reizen zur Liebe! Und so möge Gott selbst uns lehren, uns einander zu lieben!

Der Herr sagt: „dass ihr euch unter einander liebt, gleich wie ich euch geliebt habe.“ – „Gleichwie ich euch geliebt habe.“ – Wenn wir also etwas von der brüderlichen Liebe verstehen wollen, müssen wir zuerst die Liebe Jesu zu uns kennen; denn diese Liebe ist der Maßstab und das Muster unserer Liebe. Das Erste nun, was man von dieser Liebe Christi sagen kann und sagen muss, dass „sie alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,19). Je mehr man sie betrachtet, desto großer erscheint sie uns; wir werden nie den Boden oder die Grenze derselben entdecken; denn sie ist ohne Boden und ohne Grenze; sie ist so unendlich, wie Gott unendlich ist; sie „übersteigt alle Erkenntnis.“ Wir werden sie deshalb nur unvollkommen verstehen. Jedoch darf dieses kein Grund sein, uns wenig mit ihr zu beschäftigen; sondern im Gegenteil müssen wir umso mehr dadurch angespornt werden, sie stets zum Gegenstand unserer Beschäftigung zu machen. Es dient zu unserer Sicherheit; und es ist der Wunsch Jesu: „Bleibt in meiner Liebe.“

Ich will mich darauf beschränken, drei Charakterzüge der Liebe Jesu zu uns zu bezeichnen, die in Bezug auf den Gegenstand, der uns beschäftig, ganz besonders wichtig sind. Der erste dieser Züge ist, dass Er uns zuerst geliebt hat. „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Er hat uns nicht nur geliebt, als nichts Liebenswürdiges an uns zu finden war, sondern sogar, als wir uns in einem hassenswürdigen Zustand befanden, als wir nichts als verdorbene, widerspenstige Sünder waren. Dieser Tatsache, die uns so deutlich in der heiligen Schrift vor Augen gestellt wird, können wir die an die Jünger gerichtete Unterweisung des Herrn beifügen: „Liebt eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen. ... Wenn ihr liebt, die euch lieben, was für Dank ist es euch? Denn auch die Sünder lieben, die sie lieben. ... Und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig über die Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,27–38).

Die Unterweisung sowohl, als auch das Beispiel des Herrn sind für uns eine Aufforderung, zu lieben, wie Er geliebt hat, zuerst zu lieben, und die zu lieben, die nichts Liebenswürdiges besitzen – selbst die Undankbaren und die Bösen. Wenn man daher unter den Brüdern solche findet, die wenig liebenswürdig, die arm, schwach, elend und verachtet sind, dann fordert uns der Herr Jesus auf, gerade an ihnen zuerst unsere Liebe zu betätigen (Siehe Mt 18,10–14). Diejenigen zu lieben, die uns lieben, ist nichts anders, als was auch die Sünder tun; und vielleicht gleichen wir in dieser Hinsicht noch ein wenig den Sündern. Die Neigung, diejenigen zu lieben, die uns lieben, ist ganz natürlich und oft so stark, dass man wohl zehnmal Gelegenheit finden wird, die, welche uns lieben, zu besuchen und ihnen wohl zu tun, während wir kaum einmal Gelegenheit finden, um also zu handeln gegen die, welche uns nicht so lieben, oder welche weniger liebenswürdig und anziehend sind. Wie indes dieses auch sein mag – das Beispiel und die Unterweisung des Herrn zeigen uns, wie Er uns geliebt hat, und wie wir uns unter einander lieben fallen. „Liebt euch unter einander wie ich euch geliebt habe.“

Der zweite Charakterzug der Liebe Jesu zu uns besteht darin, dass dieselbe stets mit der Wahrheit vereinigt ist. „Die Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,13). Die göttliche Liebe ist hierin so wunderbar, dass sie sich weder auf Kosten der Heiligkeit, noch auf Kosten der Wahrheit offenbart hat. Wie groß die Liebe auch sein mag, die Jesus gegen hie Sünder gezeigt hat, so hat man doch nimmer von Ihm sagen können: „Sieh dort jemanden, der das Böse zulässt und auf Kosten der Wahrheit Hiebe übt, oder, der den Menschen schmeichelt und ihre Fehler vor ihnen verbirgt, um sie an sich zu ziehen.“ – Nein, Christus, „der wahrhaftige und treue Zeuge“, hat die Ungerechtigkeit des Menschen ebenso treu ans Licht gestellt, wie die Barmherzigkeit Gottes. Er Hai die Gebrechen desselben nie vor uns verborgen. Er hat sie auch nicht Wertrieben; in dieser und jeder anderen Beziehung hat Er stets die Wahrheit gesagt. Als seine Feinde das im Ehebruch ergriffene Weib zu Ihm führten, wollten sie Ihn zwingen, die Gnade auf Kosten der Wahrheit zu verkündigen. Doch auch hier verließ er den Boden der Wahrheit nicht, sondern sagte: „Wer von euch nicht gesündigt hat, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Joh 8,7). Und in gleicher Zeit offenbart Er die Liebe; indem Er sagt: „So verurteile ich dich auch nicht; gehe hin und sündige nicht mehr“ (V 11). In derselben Weise handelt Jesus gegenüber dem kanaanitischen Weib. Er ließ sie seine Liebe erfahren und sagt ihr Zugleich die Wahrheit in Bezug auf ihren Zustand, sogar in scheinbarer Härte. – Ebenso wirft Er in die Seele der Samariterin ein helles Licht über ihren Zustand, indem Er die Worte an sie richtet: „Fünf Männer hast du gehabt, und den du jetzt hast, ist nicht dein Mann“ (Joh 4,17). Aber auch die Liebe strömt hier in ihrer ganzen Fülle aus. – Dasselbe finden wir in dem Haus Simons gegenüber der Sünderin, sowie in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn; überall verbinden sich Wahrheit und Liebe.

Die Welt kann von ihrer Liebe sagen, dass sie blind ist; aber die göttliche Liebe ist hellsehend und wahrheitsliebend; „wahrhaftig in Liebe“ (Eph 4,15). „Sie freut sich der Wahrheit“ (1. Kor 13,6) Die brüderliche Liebe wird sich daher nie darin erweisen, dass wir unsere Augen schließen vor unseren gegenseitigen Gebrechen; sie erlaubt uns nie, zu dem Bruder zu sagen: „Kümmere dich nicht um meine Gebrechen; und ich will mich nicht um die deinigen kümmern.“ Denn niemand liebt uns mehr als der, welcher uns unseren Zustand nicht verbirgt, sondern uns die Wahrheit sagt. Setzen wir einmal den Fall, dass ich Torheiten begehe, die eines Christen unwürdig sind, und auf einem Weg wandle, wodurch ich mir ein Gericht zuziehe, und mein Bruder, der dieses sieht, würde dazu schweigen. Wird die Liebe also handeln? Nein, sicher nicht! Die Liebe tadelt, die Liebe straft, die Liebe sagt die Wahrheit. Wenn sie eine Wunde auswäscht und verbindet, wird vielleicht der Verwundete schreien und im Zorn die Hand der Liebe abweisen; aber die Liebe wacht, setzt, ihre Pflege fort, bis die Wunde gereinigt und verbunden ist; erst dann hat sie ihren Zweck erreicht. „Deshalb legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten; denn wir sind unter einander Glieder“ (Eph 4,25).

Der Anfang des sechsten Kapitels des Briefes an die Galater zeigt uns, in welchem Geist die Liebe unter einander geübt werden muss, besonders, wenn sie es sich zum Ziel stellt, dem Bösen entgegen zu treten und den Irrenden zurecht zu weisen. Wo der „Geist der Sanftmut und das selbstbeschauen“ mangelt, da mangelt die Liebe. Denn wenn die Liebe die Wahrheit sagt, so ist sie, wie schneidend und verwundend auch die Wahrheit sein mag, stets „langmütig; sie ist gütig, sie eifert nicht, sie tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das ihre, sie sich nicht erbittern, sie denkt nichts Böses, freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie deckt alles zu, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles“ (1. Kor 13) Wir wissen alle, dass es nicht nur eine unangenehme Sache ist, sich mit dem Bösen beschäftigen zu müssen, sondern sogar eine höchst mühevolle. Jedoch werden die Dinge bedeutend vereinfacht werden, wenn die Liebe uns leitet und das Herz, sich selbst beschauend, frei ist von aller Bitterkeit. In diesem Fall wird das Böse gänzlich durch die Wahrheit ans Licht gebracht werden, während die Liebe da ist, um die Wunde zu pflegen und zu verbinden. Im anderen Fall aber wird, wenn die Liebe mangelt, nur das Böse noch mehr aufgeweckt, das Übel ärger gemacht, und die Wunde vergrößert. Liebe und Wahrheit dürfen nimmer getrennt sein.

Aber, dem Herrn sei Dank! Die Liebe hat sich nicht allein mit dem Bösen zu beschäftigen. Es gibt auch Unwissende zu unterweisen. Traurige zu trösten, Kranke zu pflegen. Arme zu speisen und zu kleiden. Die Liebe hat stets Arbeit genug; es wird ihr nimmer die Gelegenheit fehlen, wohltun zu können; sie braucht sich nur umzusehen und wird Arbeit in Überfluss finden. „Meine Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1. Joh 3,18). „Wenn aber ein Bruder oder eine Schwester nackend ist und der täglichen Nahrung entbehrt, und jemand von euch zu ihnen sagen würde: Geht hin in Frieden, werdet gewärmt und gesättigt! ihr ihnen aber nicht die Notdurft des Leibes gebt, was nützt es?“ (Jak 2,15–16)

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