Botschafter des Heils in Christo 1869

Der ungebahnte Weg

Als die Kinder Israel auf dem Punkt standen, in das verheißene Land einzutreten, rollten die Wasser des Jordans zwischen ihnen und dem Gegenstand ihrer Hoffnung. Diese Wasser waren ein Vorbild des Todes, d. h. des Todes in einer gewissen Beziehung, nämlich desjenigen, welcher zwischen der Wüste und Kanaan liegt, während das rote Meer jenen Tod vorbildlich darstellte, welcher Ägypten von der Wüste trennt. Die Israeliten schritten durch das Meer in die Wüste. Sie schritten durch den Jordan in das Land Kanaan. In Ägypten, in der Wüste und in dem Land Kanaan sehen wir die drei verschiedenen Stellungen des Volkes Gottes. Tatsächlich befinden wir uns in Ägypten, bezüglich unserer Erfahrungen sind wir in der Wüste; durch Glauben sind wir im Geist und dem Grundsatz nach in Kanaan. Wir wandeln durch die Welt, die für die neue Natur moralisch eine Wüste ist; unsere Heimat ist droben, wo Jesus unser Haupt und Vorläufer ist.

Der Jordan musste jetzt durchschritten werden, bevor das Volk sein verheißenes Erdteil antreten konnte. Zu ihren Füßen dehnte sich der drohende Schlagbaum aus, der wohl nie drohender den Weg versperrte, als in dem Augenblick, in welchem „der lebendige Gott“ im Begriff war, zu Gunsten seines Volkes zu handeln; denn „der Jordan war voll an allen seinen Ufern die ganze Zeit der Ernte“ (Joh 3,15). Der Tod war nie drohender, nie schrecklicher, und nahm nie eine fürchterlichere Form an, als in dem Augenblick, wo der Fürst des Lebens seine Macht zu unseren Gunsten zerstörte und ihn in einen Fußsteig umwandelte, auf welchem wir zu unserer himmlischen Heimat schreiten können. Das tiefe Bette des Jordans war ein ungebahnter Weg für Israel; sie mussten daher warten, bis die von den Priestern getragene Arche des lebendigen Gottes vor ihnen herging, um ihren Weg zu öffnen. „Nach dreien Tagen aber gingen die Hauptleute durch das Lager und geboten dem Volk und sprachen: Wenn ihr sehen werdet die Lade des Bundes des Herrn, eures Gottes, und die Priester aus den Leviten sie tragen, so zieht aus Von eurem Ort und folgt ihr nach. Doch dass zwischen euch und ihr Raum sei bei Zweitausend Ellen. Ihr sollt nicht zu ihr nahen, auf dass ihr wisst, auf welchem Weg ihr gehen sollt; denn ihr seid den Weg vorhin nicht gegangen.“ – „Und Josua sprach zu den Kindern Israel: Herzu, und hört die Worte des Herrn, eures Gottes! Und sprach: Dabei sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist, und dass Er vor euch austreiben wird die Kanaaniter usw. – Siehe, die Lade des Bundes des Herrschers über alle Welt wird vor euch hergehen in den Jordan“ (Jos 3,2–4.9–10).

Hier haben wir also ein herrliches Vorbild von dem Herrn Jesus Christus bezüglich seiner Überwindung der Macht des Todes für sein Volk. Er begegnet dem Tod in seiner erschreckendsten Form. Der Jordan hatte eine drohende Miene angenommen, als die Bundeslade seine mächtigen Fluten zurückdrängte und eine Heerstraße zum Übergang der Erlösten des Herrn bildete. „Und die Priester, die die Lade des Bundes des Herrn trugen, standen also im Trockenen, mitten im Jordan. Und ganz Israel ging trocken hindurch, bis das ganze Volk alles über den Jordan kam“ (V 17). Es war ein vollständiger Sieg des Lebens über den Tod. Es war die Macht des lebendigen Gottes, welcher selbst den Tod in einen Fußsteig des Lebens umwandelte. Den Füßen der Erlösten Gottes wurde nicht gestattet, die finsteren Wasser des Todes zu berühren. Diese Wasser sahen in der Entfernung drohend aus; für das Auge der Natur waren sie in der Tat erschreckend; aber in dem Augenblick, wo sich das Volk näherte, war, statt einer erschreckenden Flut, nichts als ein trockener Fußpfad zu finden. Gott, der lebendige Gott, war da in Gnade und Wahrheit; und dieses fand seinen Ausdruck in den Priestern und in der Bundeslade. Das verändert den Charakter jedes Dinges. Der Tod verliert seine Existenz, wenn Gott gegenwärtig ist. Die Sünde brachte den Tod in die Welt. Die Sünde ist der wirkliche Stachel des Todes; aber die Gnade ist erschienen und hat alles verändert, so dass der Gläubige sagen kann: „O Herr! durch diese Dinge leben die Menschen; und in allen diesen Dingen ist das Leben meines Geistes.“ Das ist der moralische Triumph jener Gnade, welche „durch die Gerechtigkeit herrscht zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ In Christus und durch Ihn hat die Gnade so gewirkt, dass der Tod in einen Diener des Gläubigen umgewandelt ist. Anstatt ein furchtbarer Feind zu sein, ist er ein wirklicher Teil unseres Eigentums; (siehe 1. Kor 3,21) anstatt ein unübersteiglicher Schlagbaum zu sein, ist er ein Fußsteig geworden.

In Johannes 13 haben wir cm Gegenbild von dem, was wir in Josua gesehen haben. Dort belehrt unser geliebter Herr seine Jünger, dass Er vor ihnen her durch den Jordan des Todes gehen, dass ein „Raum“ zwischen Ihm und ihnen sein müsse, und dass sie Ihn nicht begleiten können, während sein Fuß den schrecklichen Pfad betrat. „Kinder! noch ein wenig bin ich bei euch; ihr werdet mich suchen, und so wie ich den Juden sagte: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen, – so sage ich jetzt auch euch“ (V 33). Diesen Weg zu gehen war für die Jünger ebenso unmöglich, wie für die Juden. Jesus musste ihn ganz allein betreten. Wer hätte Ihn begleiten können? Wer hätte dem schrecklichen Heere aller Machte der Finsternis der List Satans, der Wut der Hölle und vor allen: dem Zorns Gottes begegnen können? Wer konnte diesen Dingen widerstehen? Wer außer Ihm, dem Gott Menschen?

Petrus verstand dieses nicht. Er glaubte dem Tod begegnen zu können. Er wollte es wagen, den göttlich bezeichneten „Raum“ – die geheimnisvollen „zweitausend Ellen“ zu überspringen. Der arme Petrus! Wie wenig dachte er daran, dass das ferne Rauschen der fürchterlichen Fluten des Jordans ihn so sehr erschrecken würde, dass er mit Flüchen und Schwüren seinen Herrn und Meister verleugnete. „Herr!“ fragte er, „wohin gehst du?“ Jesus antwortete ihm: „Wo ich hingehe, kannst du nur jetzt nicht folgen; du wirst mir aber nachher folgen“ (V 36). Mit anderen Worten, der gnadenreiche Herr sagt seinem armen Diener, dass Er ihm vorausgehen müsse, um ihm durch die futtern Wasser des Todes einen trockenen Fußpfad zu öffnen, auf welchem Petrus in Gemeinschaft mit allen Erlösten unverletzt zur Herrlichkeit eingehen könne. Welche Gnade! Er ging allein – in die finstere, schreckenerregende Einsamkeit. Wehrlos trat er dem mit seiner ganzen Macht ausgerüsteten und mit allen Schrecken bewaffneten Tod entgegen. Dort gab es kein einziges Ufer, welches den wirklichen Jordan in sein Bett eingezwängt hätte. Nur ein finsterer, öder Raum, der durch keinen Lichtstrahl erheitert wurde. Zeigte sich dem Auge. Dort war die Bosheit Satans, des Feindes des Menschen, sowie die feige Flucht seiner nächsten Freunde; und nachdem schließlich die Menschen und Teufel ihr Äußerstes versucht hatten, öffnete sich vor dem Fürsten des Lebens eine so dunkle und schaurige Region, dass weder ein Mensch, noch ein Engel hineinzutreten vermochte, und wo Er den „Kelch“ des gerechten Zornes Gottes wider die Sünde trinken und – was uns unmöglich gewesen wäre – das Verborgene des Antlitzes Gottes ertragen musste.

Das war die Antwort auf die Frage des Petrus: „Wohin gehst du?“ Wer hätte es verstehen können? Niemand; und statt jeder ferneren Erklärung sagt der Herr einfach: „Du kannst mir jetzt nicht folgen; du wirst wir aber nachher folgen.“ Wenn der Weg geöffnet war, sollte Petrus folgen; denn dann konnte er es. Welch ein gnadenreicher Herr und Meister! Er wollte den Schrecken des Todes begegnen, damit wir die Freude der Unsterblichkeit genießen möchten.

Doch Petrus begreift noch immer die Andeutungen des Herrn nicht. „Herr!“ sagt er, „warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben werde ich für dich lassen.“ – Jesus antwortete ihm: „Du wirst dein Leben für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast“ (V 38). Der arme Petrus kannte weder sich selbst, noch den Weg, den er im Selbstvertrauen zu unternehmen bereit war. Aber Jesus – gepriesen sei sein Name! – kannte beides; Er ging mit festen Schritten den Pfad allein; und dann führte Er seinen armen Diener auf demselben Pfad zur Herrlichkeit. Und mit welcher Güte sucht Er bei Petrus und den anderen Jüngern jeden Gedanken zu entfernen, der sie mutlos und traurig machen könnte! „Euer Herz“ – sagt Er – „werde nicht bestürzt. Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich. Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen, wenn es aber nicht so wäre, so würde ich es euch gesagt haben. Ich gehe hin, für euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seid“ (Kap 14,1–3).

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