Botschafter des Heils in Christo 1869

Ein Ohr und ein Herz für Jesus und sein Wort

Nichts ist für den Gläubigen von größerer Wichtigkeit, als ein Ohr und ein Herz für Jesus und sein Wort zu haben. Dieses würde uns manche Traurigkeit und manche Täuschung ersparen und uns viele Erquickung und Freude bereiten. Auf das „Aufmerken“ und „Gehorchen“ legt der Herr ein ganz besonderes Gewicht; und beides wird durch uns in dem Maß geübt werden, als unser Ohr und Herz für den Herrn und sein Wort geöffnet sind.

Ich will zum Beweis dieser Behauptung etliche Beispiele anführen, und zwar aus dem Leben der Jünger während ihres Umgangs mit dem Herrn Jesus auf Erden. Das erste Beispiel lesen wir in Markus 3,17: „Und als es Jesus merkte, spricht Er zu ihnen: Was überlegt ihr, dass ihr keine Brote habt? Nehmt ihr noch nichts wahr, und versteht auch nichts? Habt ihr noch euer Herz verhärtet? Augen habt ihr und seht nicht? Und Ohren habt ihr, und hört nicht?“ – Die Veranlassung zu diesen an die Jünger gerichteten Fragen fand der Herr in ihrer Meinung, dass die Warnung vor dem Sauerteig der Pharisäer und Schriftgelehrten aus dem Grund geschehen sei, weil sie vergessen hatten, Brote mit sich zu nehmen. Die wunderbare Speisung der 4000 Männer mit wenigen Broten und Fischen hatte soeben statt gehabt; und mit einem Blick auf diese Tatsachen stellt der Herr diese Fragen. Wäre dort ein Auge gewesen, um zu sehen, und ein Herz, um zu verstehen, dann würden sie sicher nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass der Herr sie wegen des Vergessens weniger Brote ermahne. Sie hatten jedoch aus allem, was geschehen war, noch nicht verstanden, wer Jesus war, weshalb Er sagte: „Habt ihr noch euer Herz verhärtet?“ – Und weiter fragte der Herr: „Als ich die fünf Brote unter die Fünftausend brach, wie viele Körbe voll Brocken hobt ihr auf? Sie sagen zu Ihm 7 Zwölf. Als aber die sieben unter die Viertausend, wie viele Körbe, mit Brocken gefüllt, hobt ihr auf? Sie aber sagten: Sieben.“ – Wie beschämend waren ihre eigenen Antworten für sie! Wie beschämend, beim Anschauen solch einer Fülle noch bekümmert zu sein wegen etlicher Brote! Wie beschämend, in Gegenwart dessen zu sein, der bewiesen hatte, dass es für Ihn dasselbe war, ob der Vorrat aus sieben, oder aus fünf Broten bestand, und dann noch zu fragen: „Sollte es auch sein, weil wir vergessen haben, Brote mit zu nehmen?“ War Er nicht da, der nur auszuteilen gebot; und der sicher nicht eher endigte, bis alle gesättigt waren? Gewiss, solange noch ein Bedürfnis vorhanden war, wurde die Vorratsscheune nicht geschlossen. Ein sehendes Auge würde bemerkt haben, dass das Meiste gerade dann übrigblieb, als das Wenigste vorhanden war. Wie wenig hatten daher ihre Herzen noch verstanden von dem, was Jesus war und was Er tat! – Doch – sehen wir in ihnen nicht unser eigenes Bild? Mangelt auch uns nicht oft ein hörendes Ohr und ein verständiges Herz? Wie oft haben wir die Macht des Herrn gesehen; wie oft haben wir erfahren, dass Er geholfen hat, wo es uns unmöglich schien! Und dennoch – wie oft ist es geschehen, dass wir kurz nach solchen herrlichen Erfahrungen beschwert und verlegen um uns schauten, wenn sich Widerwärtigkeiten von höchst geringer Art zeigten! Wurde es da nicht offenbar, dass wir noch dasselbe Herz hatten, welches stets dieselbe Frage erhebt: „Wie soll ich durchkommen?“ O möchten wir doch lernen, was Jesus ist, damit unser Auge sich für seine Fülle öffne! Dann werden wir erfahren, dass die Gegenwart eines solchen Herrn völlig genügend ist.

Das zweite Beispiel finden wir in Johannes 14, wo der Herr seine Jünger über seinen Hingang zum Vater belehrt. In Vers 5 lesen wir: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; und wie können wir den Weg wissen?“ – Und in Vers 9: „Solange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen; und wie sagst du: Zeige uns den Vater?“ – Hier sehen wir, dass die Jünger nichts von dem Hingang Jesu zum Vater verstanden, und weder den Weg zum Vater, noch den Vater selbst erkannten. Aber hatte der Herr Jesus nicht manchmal mit ihnen über den Vater gesprochen? Leuchtete es aus seinen Handlungen und Werken nicht deutlich hervor, dass der Vater in Ihm, und Er in dem Vater war? Hatte Er es ihnen nicht zu erkennen gegeben, dass Er dorthin gehen würde, wo Er zuvor war? O ja; aber sie verstanden es nicht. Es waren himmlische Dinge, über welche Er mit ihnen sprach; und um himmlische Dinge zu verstehen, muss man ein himmlisch gesinntes Herz haben. Sie lebten jedoch nur in der Erwartung, dass der Herr seine Herrlichkeit auf Erden offenbaren werde. Sie hatten es nicht verstanden, dass Er sie in Verbindung mit dem Himmel und mit dem Vater gebracht hatte und darum ihre Schritte auch dorthin richtete. Sein „Reich war nicht von dieser Welt.“ Es war deshalb nicht zu verwundern, dass sie als völlig Unkundige vor Ihm standen, als Er mit ihnen über diese Dinge sprach.

Ebenso ist es oft mit uns. Dieselben beschämenden Fragen muss der Herr auch oft an uns richten, wenn Er unsere Unwissenheit und unseren Unverstand bezüglich der himmlischen Dinge gewahrt. Nachdem wir seit Jahren bekehrt sind, zeigt es sich nur zu oft, dass mir wegen unserer irdischen Gesinnung die himmlischen Unterweisungen des Herrn nicht verstehen konnten. Ein himmlisch gesinntes Herz, welches fähig ist, die ganze Herrlichkeit und Kostbarkeit der Verheißungen des Herrn zu fassen, mangelt leider auch uns nicht selten. Es ist wahr, unsere Erkenntnis reicht viel weiter, als die der Jünger, und diese Erkenntnis mag uns drängen, dieselben Fragen zu tun; aber wo ist das Herz, das sich jener herrlichen Stätte erfreut, die Jesus im Haus des Vaters bereitet? Wo ist das Herz, welches die innige Vereinigung Jesu mit den Seinen offenbart? Wo ist das Herz, welches die Freude des Herrn begreift, wenn Er zu den Seinen sagt, dass Er sie abholen wolle, damit sie seien, wo Er ist? Wie sehr verraten die täglichen Umstände unsere geringe Erkenntnis von dem Vater und seiner Liebe zu uns! Und dieses alles sind Folgen unserer irdischen Pläne und Erwartungen. Diese mögen nicht gerade sündig sein, aber weil sie irdisch und weltlich sind, machen sie uns ungeschickt, um himmlische Dinge zu verstehen; und wir brauchen deshalb nicht zu fragen, wohin ein Herz geleitet wird, welches von allerlei weltlich gesinnten Überlegungen erfüllt ist. Ach! solch ein Herz kann nichts verstehen von Jesu und seiner Liebe.

Und wie war das Verhalten der Jünger nach der Auferstehung des Herrn? Wir sehen sie traurig und in ihren Hoffnungen getäuscht. Maria klagt voll Traurigkeit: „Sie haben meinen Herrn weggenommen; und ich weiß nicht, wo sie Ihn hingelegt haben.“ Und die in ihren Hoffnungen getäuschten Jünger sagen auf dem Weg nach Emmaus: „Wir hatten gehofft, dass Er der wäre, der Israel erlösen würde.“ – Bei Thomas zeigte sich ein Unglaube, welcher nur durch das Schauen dessen zu befriedigen war, von welchem die anderen bezeugten, dass Er auferstanden war. Ach! es fehlte allen ein Ohr für das Wort des Herrn! Hatte der Herr nicht oft über sein Leiden und Sterben gesprochen? Hatte Er ihnen nicht oft gesagt, dass Er nach drei Tagen wieder auferstehen werde? Musste Er die nach Emmaus wandernden Jünger nicht wegen der Trägheit ihres Glaubens zurechtweisen? Hätten sie ein Ohr für sein Wort gehabt, so würden sie sich alles dieses erspart haben und in diesem Augenblick der Gegenwart des Fürsten des Lebens mit Freude und Anbetung erfüllt gewesen sein.

Aber so geht es oft. Wir hören nicht gern von Dingen, die mit unserer Natur und unserem Willen in: Streit sind. Und so war es bei den Jüngern. Es war ganz gegen ihre Gedanken und gegen ihren Willen, dass ihr Herr leiden und sterben sollte. – Auch wir würden uns viele Trübsale und Täuschungen ersparen, wenn wir beim Hören des Wortes des Herrn weniger mit unserer Natur und unserem Willen zu Rache gingen. Bezeugen es leider nicht unsere eigenen Erfahrungen, dass wir durch manche Prüfungen heimgesucht werden, denen wir sicher entgangen wären, wenn wir auf das Wort des Herrn gelauscht hätten? Ach, wie viele traurige Wege gibt es unter den Kindern Gottes, weil ihr Ohr für das Wort des Herrn geschlossen gewesen ist! Das Wort Gottes ist in Wahrheit unseres Fußes Leuchte; und wenn wir mehr auf ihren Schein achteten, so würden wir nicht so viel im Finsteren umhertappen, sondern in manchen vorübergehenden Trübsalen eine Quelle von Freude finden.

Doch wenn auch bei dem Umgang der Jünger mit dem Herrn ihre Unwissenheit und Schwachheit an den Tag tritt, so bemerken wir doch zu gleicher Zeit ihre Anhänglichkeit und Liebe zu Jesu. Zeugen auch ihre Tränen, ihre Traurigkeit und Verlegenheit von ihrer Unwissenheit, so zeugen sie nicht weniger von ihrer Anhänglichkeit an Jesu. Offenbaren sie sich als Lehrlinge, die oft bei den Unterweisungen ihres Meisters große Unaufmerksamkeit zeigen, so stehen sie Zugleich doch auch vor uns als solche, die ein Herz für Jesus haben, – ein Herz, das bereit war. Alles zu verlassen und Ihm zu folgen, der ihnen für dieses Leben keine Annehmlichkeiten bieten konnte. Wer unter uns fühlte nicht, dass wir in dieser Hinsicht so wenig mit ihnen zu vergleichen sind? Ach! hätten doch auch wir ein solches Herz für Christus, welches bei allem, was geschieht, in Ihm den einzigen Gegenstand von wahrem Wert erkennt!

Der Herr Jesus wusste es, dass Er so viel bei ihnen galt, darum begegnete Er ihnen als der treue Hirte in ihrer Schwachheit, um ihre Tränen zu trocknen. Nicht einen einzigen Augenblick vergaß Er die Seinen; und ihre Schwachheiten vermochten seine Liebe nicht zu schwächen. Er legte ihnen die Schriften aus, ohne dass ein Verweis über seine Lippen kam. Welch ein Glück für uns, einen solchen Herrn zu haben! Keine Mängel und Gebrechen vermögen unsere Gemeinschaft zu stören. Das kann nur die Sünde tun. Jede Unreinigkeit freilich, von welcher Art sie auch sein mag, verhindert den Herrn, uns zu begegnen. Wegen unserer Mängel und unserer Schwachheit kann Er mit uns reden, wie Er es mit den nach Emmaus wandernden Jüngern tat; aber unsere Sünden müssen wir vor Ihm verurteilen und sie hinweg tun. Um unsere Gemeinschaft mit dem Herrn zu unterhalten, ist Reinheit die erste Bedingung. Verwechseln wir daher unsere Sünden nicht mit unseren Schwachheiten. Werfen mir aber auch unser Vertrauen nicht weg, wenn wir unsere vielen Gebrechen und Schwachheiten sehen, sondern nehmen wir stets unsere Zuflucht zum Herrn, der die Seinen nimmer abwies, sondern sie stets mit Langmut behandelte und ihnen in Liebe begegnete.

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