Botschafter des Heils in Christo 1886

"Geht zu Joseph!"

Joseph ist eines der schönsten und vollendetsten Vorbilder von dem Herrn Jesus, sowohl in den Tagen seiner Erniedrigung, als auch in den Tagen seiner Herrlichkeit. Die Zeit ist noch nicht gekommen, wann Gott die Menschen zwingen wird, Jesu die Ehre zu geben, die Ihm gebührt. Gott ist sehr geduldig und langmütig, langsam zum Zorn und groß an Güte, und seine Langmut ist Errettung (siehe 2. Pet 3,15). Gott zögert noch in seiner Güte, da die Erscheinung des Herrn in Herrlichkeit für diese Welt ein schonungsloses Gericht bedeutet.

Joseph ging, wie wir in 1. Mose 37 lesen, in der Einfalt und Liebe seines Herzens aus, um seine Brüder zu besuchen und nach ihrem Wohlergehen zu fragen. Sie aber „ersannen gegen ihn den Anschlag, ihn zu töten“, und verkauften ihn schließlich an vorüberziehende Ismaeliter um zwanzig Silberlinge, den Preis des geringsten Sklaven. Wie lebendig erinnert uns dies an einen anderen, Größeren, der aus seines Vaters Haus kam, um nach der Wohlfahrt seiner Brüder zu sehen, und der genau dieselbe Behandlung erfuhr wie Joseph! „Die Seinen nahmen Ihn nicht an“; und schließlich wurde Er um dreißig Silberlinge verraten, verkauft und aus dieser Welt hinausgeworfen, nicht in eine Grube, wie Joseph, sondern in ein Grab. Wohl ist es wahr, dass liebende Hände Ihn von dem Kreuz herabnahmen und Ihn in eine Gruft legten, in welcher noch nie jemand gelegen hatte. Aber böse, gottlose Hände hatten Ihn ans Kreuz genagelt, und die Welt hatte gehofft, Ihn nie wieder zu sehen. Aber „Gott hat Ihn auferweckt aus den Toten.“ Der Mensch schlug und tötete Ihn; Gott weckte Ihn auf.

Er kam in all der Liebe seines Herzens in diese Welt; aber der Mensch hatte keine Liebe für Ihn. Liebst du Ihn, mein Leser? Findet Er, wenn Er in dein Herz blickt, wahre Zuneigungen und Gefühle der Liebe für Ihn? Wenn nicht, so hast du kein Recht, jene zu verurteilen, die Ihn verwarfen in den Tagen seiner Erniedrigung.

Joseph kam nach Ägypten, in das Haus Potifars, und fand infolge seiner Treue und Gottesfurcht einen Platz im Gefängnis. Doch zu seiner Zeit wurde er auf Befehl des Pharao aus dem Kerker geholt und über das ganze Land Ägypten gesetzt. „Und der Pharao ließ ihn fahren auf dem Zweiten Wagen, den er hatte, und man rief vor ihm her: Bückt euch!“ (1. Mo 41,43) So hat auch Gott seinen Geliebten zu seiner Rechten erhöht und gebietet heute allen Menschen allenthalben, sich vor Ihm zu beugen. Die Zeit naht heran, wo jedes Knie sich beugen muss vor Jesu; aber Gott will, dass wir jetzt schon unsere Knie, ja mehr noch, dass wir unser Herz vor Ihm beugen. Ist es deine Freude, mein Leser, in seiner Gegenwart zu erscheinen, seinen Wert anzuerkennen und Ihn Herr zu nennen?

Der niedrige Platz, den Jesus freiwillig einnahm, gab Ihm ein moralisches Anrecht auf Erhöhung von Seiten Gottes. Denn wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Und Gott hat Ihn erhöht; Er hat „Ihn hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist“ (Phil 2). Es gibt keinen Namen im Himmel und auf Erden, der dem Namen Jesu gleichkäme. Gott hat erklärt, dass alle Ihn als Herrn anerkennen sollen, die Himmlischen, die Irdischen und Unterirdischen, d. h. Engel, Menschen und Teufel. Die Teufel haben Ihn nie als Herrn anerkannt, während Er hienieden war; aber der Tag wird kommen, an welchem Gott sie zwingen wird, „anzuerkennen, dass Er Herr ist, zur Verherrlichung Gottes des Vaters.“ Welch ein Vorrecht, Ihn jetzt schon als Herrn anerkennen und vor Ihm die Knie beugen zu dürfen!

Ohne Zweifel war es für manchen stolzen ägyptischen Edlen sehr demütigend, sich vor dem hebräischen Knecht in den Staub beugen zu müssen. Aber die Zeit der Hungersnot kam, und weder ihr Stolz noch ihre hohe Stellung konnten sie von dem nagenden Hunger befreien. Sie wandten sich in ihrer Not an den Pharao, und dieser wies sie an Joseph. „Geht zu Joseph“, lautete seine Antwort, „was er euch sagt, das tut.“ Wie manche hungernde und dürstende Seele schreit auch heute in ihrer Not und Bedrängnis zu Gott! Wie lautet seine Antwort? „Gehe zu Jesu!“ Gehörst du auch zu der Zahl dieser Seelen, mein Leser? O dann lausche doch auf die Worte Gottes. Gehe zu Jesu! Sagst du: Ich möchte gern errettet werden, wenn ich nur wüsste, wie ich zu Jesu kommen sollte? Betrachte dann den weiteren Verlauf der interessanten Geschichte Josephs und siehe, wie die Ägypter zu ihm kamen.

Der Pharao hatte Joseph den Namen „Zaphnath–Pahneach“ gegeben, d. h. Erhalter der Welt oder des Lebens, oder auch, wie es andere übersetzen: Offenbarer der Geheimnisse. – Ist das nicht genau das, was Jesus ist? Werfen wir einen Blick auf Ihn am Jakobsbrunnen, wo Er mit dem samaritischen Weib zusammentraf. Zeigt Er sich dort nicht als der Offenbarer von Geheimnissen, wenn Er zu ihr sagt: „Fünf Männer hast du gehabt, und den du jetzt hast, der ist nicht dein Mann?“ Der Herr kennt alle unsere Geheimnisse; vor Ihm sind die geheimsten Gedanken des Herzens offenbar. Er kennt jede Sünde, auch die in der tiefsten Verborgenheit geschehen ist, von der kein Mensch eine Ahnung hat; und welch ein Glück ist das für alle, die an Ihn glauben! Er kannte uns durch und durch, und doch hat Er uns geliebt; Er hat uns geliebt, so wie wir waren. Und von dieser Liebe getrieben, kam Er herab, um uns zu erretten. Und jetzt? Alle unsere Sünden hat Er nach seiner göttlichen Kenntnis getragen, getilgt und vergeben.

Was tut das Weib, als sie erkennt, dass Er alles weiß, was sie getan hat? Flieht sie vor Ihm? Nein, sie bleibt stehen und spricht mit Ihm, und nachdem sich der Herr ihr, der überführten Sünderin, als der Christus offenbart hat, lässt sie ihren Wasserkrug stehen, läuft in die Stadt und ruft: „Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was irgend ich getan habe: ist dieser nicht der Christus?“ Anstatt bange vor Ihm geworden zu sein, fordert sie alle auf, zu kommen und Ihn auch kennen zu lernen; und als sie kommen, da finden sie, dass Er nicht nur ein Offenbarer der Geheimnisse ist, sondern auch „der Heiland der Welt“ – der wahre Joseph.

Sind alle meine Leser bereits zu diesem Heiland der Welt gekommen? Vielleicht muss das Gewissen des Einen oder Anderen antworten: Nein, ich bin bis heute noch nicht in Wahrheit zu Ihm gekommen. Aber lass mich dann fragen: Warum nicht? Sagst du in deinem Herzen: Ich weiß nicht, wie Er mich aufnehmen würde, wenn ich zu Ihm käme? Lass uns dann sehen, wie Joseph seine Brüder aufnahm, als sie in ihrer Not zu ihm kamen.

„Und Jakob sah, dass Getreide in Ägypten war, und Jakob sprach zu seinen Söhnen: Was seht ihr einander an? Und er sprach: Siehe, ich habe gehört, dass Getreide in Ägypten ist; zieht hinab und kauft uns von da Getreide, auf dass wir leben und nicht sterben. Und die Zehn Brüder Josephs zogen hinab, Getreide zu kaufen aus Ägypten“ (1. Mo 42,1–3). Sie hatten gehört, dass in Ägypten Getreide zu haben war. Sie hatten vernommen, dass eine Errettung aus ihrer Not möglich war, und wussten auch, dass ein schrecklicher Hungertod sie ereilen würde, wenn sie diese Errettung nicht erlangten. Sie fühlten ihr Bedürfnis für einen Erretter, und sie konnten der Errettung nicht teilhaftig werden, ohne sich an den Erretter zu wenden. Es gab keine Befreiung aus ihrer bedrängten Lage, außer in Ägypten bei Joseph; es gab keine Möglichkeit, ihren Hunger zu stillen, außer bei ihm, dem Verachteten, bei ihm, den sie einst gehasst und in die Sklaverei verkauft hatten, den aber Gott hoch erhoben und befähigt hatte, sie in ihrer Not zu erretten. Alles, was sie bedurften, war bei Joseph, aber auch nur bei Joseph zu finden.

Ist es nicht genauso mit dem Sünder heute? Gibt es eine Errettung für ihn, außer in Jesu? Kann einer den Hunger der Seele stillen, außer Ihm, der „Überfluss an Brot“ hat? Gibt es eine Möglichkeit, dem sicheren Verderben, dem zweiten Tod, zu entrinnen, außer in Jesu? Nein, da ist kein anderer Weg, kein anderer Name, in welchem wir errettet werden können, als der Name Jesu allein! Und mit diesem Jesus, mit diesem Heiland der Welt, muss der Sünder in lebendige Verbindung kommen. Es genügt nicht, seinen Namen zu tragen und äußerlich mit Ihm in Verbindung zu stehen. Nein, man muss zu Ihm selbst kommen, um Heil und Frieden zu erlangen. Und welch ein Glück! Er steht bereit, Er wartet auf den bußfertigen Sünder; Er sehnt sich danach, ihn zu erretten. Josephs Brüder waren in großer Not, und sie kamen zu Joseph; kein anderer Weg bleibt dem Sünder offen, der seine Not und sein Elend fühlt; er muss dasselbe tun, er muss zu Jesu kommen.

„Und Joseph war der Gebieter über das Land; er verkaufte das Getreide allem Volk des Landes. Und die Brüder Josephs kamen und bückten sich vor ihm, das Antlitz zur Erde“ (V 6). Sie kommen und beugen sich nieder vor Joseph; und welch eine gesegnete, köstliche Sache ist es, wenn der Sünder, getrieben durch seine Not, kommt und sich in den Staub niederbeugt vor Jesu, vor Ihm, der allein dieser Not begegnen kann!

„Und Joseph sah seine Brüder und erkannte sie; aber er hielt sich fremd gegen sie und redete hart mit ihnen und sprach zu ihnen: Woher kommt ihr? Und sie sprachen: Aus dem Land Kanaan, um Speise zu kaufen. Und Joseph erkannte seine Brüder; aber sie erkannten ihn nicht. ... Und Joseph sprach zu ihnen: Das ist es, was ich zu euch gesagt und gesprochen habe: Kundschafter seid ihr. Daran sollt ihr geprüft werden: Bei dem Leben des Pharao! wenn ihr von dannen ziehen werdet, es sei denn, dass euer jüngster Bruder hierherkomme. ... Und er setzte sie zusammen in Haft drei Tage“ (V 7–17).

Die Brüder erkannten Joseph nicht, aber er erkannte sie. Er redete hart mit ihnen. Sie dachten jedenfalls, er sei ein harter Mann. So geht es auch heute manchem Sünder. Er hält Jesus für einen harten Mann; denn Jesus sagt ihm, was er ist. Er sagt ihm, dass er ein Sünder ist, voll von Feindschaft gegen Gott, dass es gar nichts Gutes in ihm gibt. Und das liebt der Mensch nicht. Er hat nicht gern, wenn ans Licht gestellt wird, was in seinem Herzen ist.

Joseph handelt mit seinen Brüdern, wie Gott mit dem Sünder handelt. Gott muss unser Gewissen erreichen und ein Gefühl und Bewusstsein in uns erwecken darüber, was wir sind und getan haben. Die Handlungsweise Josephs weckt das Gewissen seiner Brüder auf; denn sie sagen: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum kommt diese Drangsal über uns“ (V 21).

Es ist eine wunderbare Sache, wenn eine Seele dahin gebracht wird, sich selbst als einen schuldigen, verdammungswürdigen Sünder vor Gott anzuerkennen. Gott muss Wirklichkeit haben. Hast du, mein Leser, dich schon einmal so im Licht der Gegenwart Gottes gesehen? Ist dein Gewissen wirklich einmal erwacht, und hast du ausrufen müssen: Ich bin schuldig; ich bin unpassend für die heilige Nähe Gottes; ich habe die ewige Verdammnis verdient? Wenn nicht, so hast du auch noch nicht die erbarmende Gnade Gottes und die reinigende Kraft des Blutes Christi an deinem Herzen erfahren.

„Und Joseph wandte sich ab von ihnen und weinte.“ – So weinte auch Jahrhunderte später ein Größerer als Joseph bei dem Anblick Jerusalems, dieser bösen Stadt, voller Räuber und Mörder; und nicht nur das, Er vergoss auch sein kostbares Blut für seine Feinde, getrieben von der unvergleichlichen Liebe seines Herzens. Joseph musste hart mit seinen Brüdern reden um ihretwillen; aber sein Herz war voll erbarmender Liebe. Jahre waren dahingerollt, und die Brüder Josephs mochten denken, ihre Missetat sei vergessen; aber sie mussten erfahren, dass Gott sie nicht vergessen hatte, dass ihre Missetat sie fand. Wie ernst redet das zu unseren Herzen!

„Und Joseph gebot, dass man ihre Sacke mit Getreide fülle und ihr Geld zurücklege, einem jeden in seinen Sack“ (V 25). Was können wir hieraus lernen? Was bedeutet das Geld im Sack? Ich glaube, als Vorbild will es uns sagen, dass ein Mensch seine Errettung nicht erkaufen kann. Er ist zu arm, um sie zu kaufen, und Gott ist zu reich, um sie zu verkaufen. Die Errettung muss eine freie Gabe Gottes sein. Wer sie nicht als solche annehmen will, empfängt sie überhaupt nicht. „Denn kostbar ist die Erlösung ihrer Seele, und er muss davon abstehen auf ewig“ (Ps 49,8).

Die Brüder Josephs kommen nach Kanaan zurück und erzählen ihrem Vater alles, was Joseph gesagt hatte. Aber Jakob weigert sich, Benjamin mit ihnen ziehen zu lassen, indem er sagt: „Mein Sohn soll nicht mit euch hinabziehen; denn sein Bruder ist tot, und er ist allein übriggeblieben, und begegnete ihm ein Unfall auf dem Weg, auf dem ihr zieht, so würdet ihr meine grauen Haare mit Herzeleid hinabbringen in den Scheol“ (V 38).

Doch die Hungersnot nahm zu; die Not wuchs, und sie mussten Nahrung haben oder sterben. Juda bot sich an, Bürge für seinen Bruder zu werden, und Jakob ließ sich endlich überreden, Benjamin mit ihnen zu senden. Doch er sagte: „Tut dieses: Nehmt von dem Gepriesenen des Landes in eure Gefäße und bringt dem Mann ein Geschenk hinab: ein wenig Balsam und ein wenig Honig. ... Und nehmt doppeltes Geld in eure Hand, und das Geld, das euch oben in euren Säcken wieder geworden ist, bringt zurück in eurer Hand; vielleicht ist es ein Irrtum. Und nehmt euren Bruder und macht euch auf, zieht wieder zu dem Mann. Und Gott, der Allmächtige, gebe euch Barmherzigkeit vor dem Mann, dass er euch entlasse, euren anderen Bruder und Benjamin“ (Kap 43,11–14).

Das ist der Weg des Menschen, auf welchem er Errettung zu erlangen hofft. Viele denken, dass sie Gott auf irgendeine Weise versöhnen und geneigt machen müssen, sie zu erretten. Sie wollen gute Werke tun, fleißig das Wort Gottes lesen, das Böse meiden, Almosen geben, und was dieser Dinge mehr sind. Aber das wird und kann nimmermehr genügen, niemals zum Ziel führen. Die Errettung ist nicht durch Geld zu erkaufen, und Gott bedarf keiner Besänftigung. Er verlangt danach, gnädig zu sein, dem bußfertigen Sünder in erbarmender Liebe zu begegnen, so wie der Vater nach dem verlorenen Sohn ausschaute und ihn schon erblickte, als er noch ferne war. Gott wartet auf den Augenblick, da Er offenbaren kann, was in seinem Herzen ist. Und was ist in seinem Herzen? Liebe und nichts als Liebe.

Die Brüder Josephs kamen also zum zweiten Male nach Ägypten, und als Joseph Benjamin sah, gab er Befehl, die Männer in sein Haus zu führen. „Und die Männer fürchteten sich, dass sie in das Haus Josephs geführt wurden.“ So ist es stets. Wenn der Sünder zu dem Bewusstsein erwacht, dass er schuldig ist, so fürchtet er die Gegenwart Gottes. Aber Joseph sprach tröstlich zu ihnen, um ihre Herzen zu gewinnen, und sie setzten sich mit ihm zu Tische. „Und sie saßen vor ihm, der Erstgeborene nach seiner Erstgeburt, und der Jüngste nach seiner Jugend; und die Männer verwunderten sich einer gegen anderen. Und er ließ Gerichte tragen von sich zu ihnen, und das Gericht Benjamins war größer, als die Gerichte von ihnen allen, fünfmal. Und sie tranken und tranken sich fröhlich mit ihm“ (V 33–34).

Im nächsten Kapitel hören wir dann, dass Joseph befiehlt, die Säcke seiner Brüder mit Getreide zu füllen, ihnen allen ihr Geld wiederzugeben und seinen silbernen Becher in Benjamins Sack zu legen. Der Augenblick war gekommen, dass sie ihre Sünden bekennen sollten. Juda sagte: „Was sollen wir meinem Herrn sagen? Was sollen wir reden und wie uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden.“ Das ist der Punkt, wohin Gott uns bringen will, wohin Er uns bringen muss. Gott kann nicht befriedigt sein, wenn unser Gewissen uns sagt, dass wir gesündigt haben, wenn wir für uns selbst erkennen, was unser Zustand ist, sondern Er will, dass wir anerkennen und bekennen, was wir sind und getan haben. „Ich tat dir kund meine Sünde und habe meine Ungerechtigkeit nicht zugedeckt. Ich sagte: Ich will Jehova bekennen meine Übertretungen; und du, du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde“ (Ps 32,5). So sprach einst David, und so muss jede Seele heute reden, die wirklich Gott nahen will.

Im 45. Kapitel erreichen wir den Höhepunkt unserer wunderbaren Erzählung: Joseph gibt sich seinen Brüdern zu erkennen. „Ich bin Joseph!“ Derselbe Joseph, den sie in die Sklaverei verkauft hatten, stand vor ihnen als der mächtige Herrscher über das ganze Land; aber er begegnete ihnen in all der Gnade seines Herzens. Er ließ jedermann von sich hinausgehen, und die Schuldigen waren jetzt allein mit ihrem Erretter. Welch ein liebliches Gemälde göttlicher Gnade entrollt sich jetzt vor unseren Blicken! „Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir! Und sie traten hinzu: Und er sprach: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt“ (V 4).

Sobald das Werk der Überzeugung in dem Gewissen getan ist, kann der Herr dem Sünder nahen und sich ihm in seiner überströmenden Gnade offenbaren. Aber nie kommt Er, nie offenbart Er sich eher, als bis der Sünder seinen wahren Platz eingenommen hat, bis eine aufrichtige Betrübnis über seine Sünden bei ihm vorhanden ist. Aber dann ist Er auch völlig bereit, mit seiner freundlichen Stimme das bange, verzagte Herz zu trösten, das erwachte Gewissen zu beruhigen und dem zitternden Sünder sein „Friede dir! Fürchte dich nicht!“ Zuzurufen.

„Und nun betrübt euch nicht, und es entbrenne nicht in euren Augen, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt.“ Ihr seid schuldig, sagt Joseph gleichsam, ihr habt gesündigt; aber Gott hat seine gnädigen Absichten dabei gehabt. So ist auch der Mensch schuldig, den Heiland ans Kreuz geschlagen zu haben; aber Gott hatte seine eignen Gedanken, seine Ratschlüsse der Liebe dabei. Der Mensch sündigte, aber indem er es tat, führte er die Ratschlüsse Gottes aus. „Männer von Israel, hört diese Worte! Jesus, den Nazaräer, ... übergeben nach dem bestimmten Ratschluss und Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen angeheftet und umgebracht“ (Apg 2,22–23). Gerade die Verwerfung Christi und sein Tod auf dem Kreuz wurden, die Grundlage der großen Befreiung, welche Christus für den Sünder vollbracht hat. Das Heil und die Errettung des Sünders sind die Frucht der Leiden des Heilands an dem Kreuz, an welches der Mensch Ihn geschlagen hatte. Wie wunderbar sind die Wege und Ratschlüsse Gottes!

Doch nach all dieser Entfaltung der Liebe Josephs, und nachdem er siebzehn Jahre lang für seine Brüder gesorgt, ihnen das Beste von allem gegeben und ihren Hass nur mit Liebe vergolten hatte, kannten diese dennoch nicht völlig das Herz ihres Bruders, wie uns dies das letzte Kapitel des 1. Buches Mose zeigt. Wir lesen dort: „Und als die Brüder Josephs sahen, dass ihr Vater gestorben war, da sprachen sie: Wenn nun Joseph uns anfeindete! so wird er uns gewiss vergelten all das Böse, das wir ihm angetan haben. Und sie entboten dem Joseph und sprachen: Dein Vater hat vor seinem Tod befohlen und gesagt: So sollt ihr sprechen zu Joseph: O, vergib doch die Übertretung deiner Brüder und ihre Sünde! denn sie haben dir Böses angetan. Und nun vergib doch die Übertretung der Knechte des Gottes deines Vaters! Und Joseph weinte, als sie zu ihm redeten“ (V 15–17).

Wie sehr gleicht das so manchen stets Zweifelnden, stets beunruhigten Gläubigen! Obwohl sie sagen, dass sie an Jesus glauben, haben sie doch keinen Frieden. Sie sind voll von Befürchtungen aller Art. Sie haben nicht die volle, unumstößliche Gewissheit, dass Er sie angenommen und ihnen alles vergeben hat; sie kennen sein Herz nicht; sie sind Ihm nie so nahegekommen, dass sie in seiner Gegenwart erkannt haben, wie völlig alles in Ordnung gebracht ist. Es ist, wie man zu sagen pflegt, nicht alles auf dem Reinen zwischen ihnen und Christus. O, möchte doch keiner der christlichen Leser dieser Zeilen jenen Gläubigen gleichen! Möchte keiner von uns irgendeinen Rückhalt haben in seinem Herzen, keiner das liebende Herz unseres gepriesenen Herrn und Heilands durch irgendeinen Mangel an Vertrauen verwunden! Was muss Er fühlen, wenn Er nach allem, was Er an uns getan, nach all der Freundlichkeit und Liebe, die Er uns erwiesen hat, noch einen Mangel an Vertrauen bei uns entdeckt! Und was muss es für Ihn sein, wenn Gläubige einen solchen Zustand steter Zweifel und Befürchtungen sogar als den allein richtigen Zustand eines Christen bezeichnen!

„Da sprach Joseph zu ihnen: Fürchtet euch nicht!“ Siehe da die Art und Weise, wie auch der Herr Jesus das Herz so gern tröstet. Um das Vertrauen unserer Herzen zu gewinnen, ruft Er auch uns zu, wie einst seinen erschreckten und zagenden Jüngern auf dem sturmbewegten See: „Seid gutes Mutes, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ oder wie der weinenden Sünderin zu seinen Füßen: „Gehe hin in Frieden!“

Und noch einmal wiederholt Joseph: „Und nun, fürchtet euch nicht! Ich will euch versorgen und eure Kindlein. – Und er tröstete sie und redete zu ihren Herzen.“ – Sagt nicht der Herr dasselbe auch zu uns: „Fürchtet euch nicht! Ich sorge für euch? Ich bin bei euch alle Tage?“ Er hat uns nicht nur errettet und reingewaschen durch sein Blut, sondern Er nährt und pflegt uns auch alle Tage. Er lagert uns auf grüner An und führt uns zu stillen Wassern. Er sorgt für einen jeden der seinen Tag für Tag, auf dem ganzen Wege bis zum Ende hin. Könnte seine Liebe sich je verändern? Könnte Er in seiner Fürsorge und Hirtentreue je ermüden? Könnte uns etwas von seiner Liebe scheiden, aus seiner Hand rauben? „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ Darum, mein Leser, lass uns Ihm vertrauen und nie wieder sein Herz durch den geringsten Zweifel, durch das leiseste Misstrauen verwunden!

Seiner Hand entreißt mich nichts!

Wer will diesen Trost mir rauben?

Mein Erbarmer selbst verspricht's,

Sollt ich seinem Wort nicht glauben?

Jesus lässt mich ewig nicht,

Das ist meine Zuversicht.

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