Botschafter des Heils in Christo 1886

Der Erstgeborene

Die Gerechtigkeit Gottes war, wie wir in Römer 3,21 lesen, zwar bereits „durch das Gesetz und die Propheten bezeugt“, wurde aber erst durch das Kreuz, die Auferstehung und Verherrlichung unseres Herrn völlig ans Licht gebracht. Jene Zeugnisse im Gesetz und in den Propheten verhalten sich zu ihrer Erfüllung, wie der Schatten zum Körper, d. h. sie bieten eine Ähnlichkeit und einen Gegensatz. Der Schatten und die Umrisse eines Körpers mögen einfacher erscheinen als der Körper selbst, aber es fehlt ihnen die Fülle und Vollkommenheit. Der Herr hat uns im Alten Testament so viele Schatten und Vorbilder gegeben, damit wir die Wirklichkeit besser verstehen möchten. Einen der interessantesten dieser Schatten finden wir in der verschiedenen Stellung und dem verschiedenen Lose der Erstgeborenen von den reinen und unreinen Tieren. Dieselben liefern uns ein wunderbares Vorbild von dem Erlöser, von dem erlösten Sünder und von der Erlösung überhaupt.

Von Natur und nach dem Gesetz über die reinen und unreinen Tiere, hatten die reinen Tiere vor den unreinen einen großen Vorzug. Darum nahm auch Noah von den reinen Tieren je sieben Paare, von den unreinen aber nur je ein Paar zu sich in die Arche. Ganz anders aber stand es um die Erstgeborenen dieser Tiere. Ist es nicht eine wunderbare Tatsache, dass die Erstlinge der unreinen Tiere ein besseres Los hatten als diejenigen der reinen? Sie durften sich allerdings (nur auf Grund der Erlösung) ungehindert ihres Lebens freuen, während die Erstlinge der reinen Tiere unwiderruflich dem Tod verfallen waren. Wir lesen in 4. Mose 18,15 und 17: „Die Erstgeborenen der Menschen sollst du jedenfalls lösen, und auch das Erstgeborene der unreinen Tiere sollst du lösen. Aber das Erstgeborene eines Rindes oder das Erstgeborene eines Schafes oder das Erstgeborene einer Ziege“ – also der reinen Tiere – „sollst du nicht lösen; sie sind heilig. Ihr Blut sollst du auf den Altar sprengen.“

In diesen zwei Klassen von Tieren nun werden uns die beiden Menschen vorgebildet: der unreine oder sündhafte Mensch, und der heilige Mensch. Der Mensch, und zwar sein ganzes Geschlecht, jedes Einzelwesen inbegriffen, findet – mit alleiniger Ausnahme eines Einzigen – seinen Platz neben dem unreinen Tiere; und das nicht erst, nachdem er gesündigt hat, sondern schon von Geburt an. Die Sünde der ersten Menschen hat uns alle in die Stellung von Sündern gebracht: wir sind alle „von Natur Kinder des Zorns“ (Eph 2,3). Darum heißt es gerade da, wo von der Lösung der Erstlinge der unreinen Tiere die Rede ist: „Die Erstgeborenen der Menschen sollst du jedenfalls lösen, und auch das Erstgeborene der unreinen Tiere sollst du lösen.“ Der Mensch wird in dieser Beziehung mit dem unreinen Tiere auf ein und denselben Boden gestellt. Das zeigt uns die unheilige Natur des Menschen. In gleicher Weise wird in 2. Mose 13,13 der Mensch mit dem Esel zusammengestellt, was uns an das Wort Zophars erinnert: „Doch der Mensch ist geboren wie das Füllen eines Wildesels“ (Hiob 11,12), wodurch jedenfalls der von Natur unbändige Charakter unserer Herzen angedeutet werden soll. Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft wider Gott; sie „ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht.“

Wir sehen also, dass der Mensch ohne Gott ist, unter dem Gericht steht und schon von Geburt an eines Heilands bedarf. Dem entspricht auch das Wort des Apostels: „Durch eines Menschen Ungehorsam sind die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt“ (Röm 5,19). Aber ebenso allgemein wie der Fall des Menschen ist, ebenso allgemein ist auch die Erlösung gegen alle gerichtet: „das Erstgeborene der unreinen Tiere sollst du lösen.“ In diesen Worten ist für alle die Tür zur Erlösung geöffnet. „Also nun, wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen zur Verdammnis gereichte, so auch durch eine Gerechtigkeit gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens.“

Allein inmitten des freien Erbarmens stand einer, für den es kein solches Erbarmen gab; für die Erstgeborenen der reinen Tiere gab es kein Entrinnen vom Tod. Der Grund hierfür mag seltsam erscheinen; wir lesen: „denn sie sind heilig.“ Der Unheilige wurde vom Gericht des Todes errettet, der Heilige nicht. Welch ein Rätsel für den Verstand des natürlichen Menschen! Scheint diese Anordnung nicht mit aller Gerechtigkeit im Widerspruch zu stehen, und ist sie nicht tatsächlich in Widerspruch mit der menschlichen und gesetzlichen Gerechtigkeit? Wir haben hier ein herrliches Bild von der Gerechtigkeit Gottes in der Errettung des Sünders. Der Wille Gottes war unsere Heiligkeit, und diese konnte nur auf Grund eines Opfers zuwege gebracht werden, „durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi“ (Heb 10,10).

Der Herr kam, um den Willen Gottes zu tun. Er nahm in unendlicher Gnade den Platz des reinen Tieres ein, Er, der selbst „der Erstgeborene aller Schöpfung“ ist, und der von dem Engel Gabriel in Lukas 1,35 „das Heilige“ genannt wird. Das unbedingte Todesurteil, das über alles Erstgeborene der reinen Tiere ausgesprochen war, deutete die schreckliche Lage an, in welcher der Herr sich befand, als Er herniederkam; für Ihn gab es kein Entrinnen vom Tod. Wohl blickte Er über den Tot hinaus, nach oben auf den Platz zur Rechten Gottes, wo „Fülle von Freuden“ ist und „Lieblichkeiten immerdar“; und Er war deshalb fähig zu sagen: „Die Messschnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern, ja, ein schönes Erbteil ist mir geworden“ (Ps 16,6.11). Andererseits aber lag auch die Last des schrecklichen Gerichts, in welches Er gehen musste, schwer auf seinem Geist. Seine Feinde, die hinsichtlich der Wahrheit ganz unwissend waren, drückten in ihrem bitteren, grausamen Hohn den Ernst seiner Lage ganz richtig aus: „Andere hat Er gerettet, sich selbst kann Er nicht retten.“ Das Bewusstsein und Gefühl von dem, was vor Ihm lag, war gegen das Ende seiner Laufbahn besonders lebendig in seiner Seele (vgl. Joh 12,27); aber nichts konnte Ihn aufhalten, vorwärts zu gehen. So lesen wir: „Jesus nun, der alles wusste, was über Ihn kommen würde, ging hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr?“ Im Garten Gethsemane lag wirklich der Schrecken des Todes und des Gerichts auf seiner heiligen Seele. Er rang im Gebet: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Aber es war nicht möglich; hieß es doch: „Du sollst nicht lösen!“ Betreffs des Vorbildes war geboten: „Du sollst ihr Blut auf den Altar sprengen.“ Da gab es keinen Ausweg, kein Entrinnen.

Demzufolge sehen wir auch, dass das Schreien des Herrn um Befreiung und Erlösung keine Erhörung fand. „Ich rufe des Tages, aber du hörst nicht.“ Es konnte nicht eher Erhörung finden, bis das Werk vollbracht war. Allein in dieser schrecklichen Tiefe der Leiden, wo die Tiefe der Tiefe zurief beim Brausen der Wassergüsse, da sehen wir die wunderbare Vollkommenheit des Herrn. Er rechtfertigt Gott inmitten jener Leiden. Er sagt von Gott: „Du aber bist heilig, der du wohnst unter den Lobgesängen Israels.“ Die Größe seiner Leiden vermochte nur darzutun, wie vollkommen heilig Er war. Keine Widerrede entrang die Trübsal seiner Brust. Er war der Mann, in welchem nur Gutes war und aus dem nur Gutes hervorkommen konnte; Er war ein duftender Wohlgeruch für Gott. Alle, auch die treusten Männer Gottes, die je ernstlich auf die Probe gestellt worden sind, haben in der Probe nicht bestanden; so Hiob und andere. Auch sie müssen, wie wir, mit dem unreinen Tiere zusammengestellt werden. In Christus allein finden wir das Gegenbild des reinen Tieres, und die Folge davon für Ihn (Dank seiner Gnade und Liebe zu uns) war diese, dass Er der Einzige war, für den es keine Lösung, kein Entrinnen gab; Er musste den Tod erleiden, auf dass durch Gottes Gnade eine Lösung, ein Entrinnen sei für den Sünder, der an Ihn glaubt.

Doch verfolgen wir die Geschichte der Erstgeborenen noch etwas weiter; sie ist voll von Interesse und Belehrung für uns. Die Erstgeborenen in Israel wurden nicht nur, wie alle übrigen, bei dem Passah durch Blut errettet, sondern bildeten auch in besonderer Weise und mehr als alle anderen das Eigentum Gottes, wie Gott zu Mose sagt: „Heilige mir alles Erstgeborene; was irgendwie die Mutter bricht ... ist mein“ (2. Mo 13,2). Der Erlöste war also nicht nur vom Tod erlöst, er war auch für Gott erkauft. „Ihr seid um einen Preis erkauft; verherrlicht nun Gott an eurem Leib“ (1. Kor 6,20).

Die Geschichte der Erstgeborenen war diese: Gott hatte in Israel sein Heiligtum mit seinen verschiedenen und mannigfachen Dienstleistungen, zu deren Verrichtung eine sehr große Zahl von Menschen nötig war. Dieser Dienst gehörte den Erstgeborenen, an deren Stelle aber der Stamm Levi trat. Jeder Levit vertrat einen Erstgeborenen in Israel. So viele Erstgeborenen aber in Israel mehr waren als Söhne des Stammes Levi, diese mussten ein jeder durch fünf Schekel Silber gelöst werden (siehe 4. Mo 3,46–48; Kap 8). So bildeten die Leviten in einem besonderen Sinne ein erlöstes Volk. Auch waren sie ohne Frage ein treffendes Vorbild von den Gläubigen der gegenwärtigen Zeit, sowohl was unsere Erlösung betrifft, als auch in unserer Verpflichtung zum Dienst als Erlöste Gott gegenüber. Gottes Aufforderung an uns lautet: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges Schlachtopfer, heilig, Gott wohlgefällig, welches ist euer vernünftiger Dienst“ (Röm 12,1).

Der Erstgeborene hatte demnach eine zweifache Geschichte von seiner Erlösung an; und so ein jeder von uns, so viele wir errettet sind. Zuerst starb er in seinem Stellvertreter, und dann lebte er als Diener und Knecht in dem Leviten. Dieses findet sein Gegenbild heute in dem Gläubigen: Wir sind mit Christus gestorben (Röm 6,6–8). Das ist der Abschluss unserer Geschichte als verantwortliche und schuldige Kinder Adams. „Ich bin mit Christus gekreuzigt.“ Ähnlich hätte ein Vater in Israel sagen können: „Mein Sohn ist in dem Lamm gestorben“; damit endete seine Geschichte. Aber dann heißt es auch: „Doch ich lebe.“ Wir besitzen jetzt ein neues Leben: „Christus lebt in mir!“ Hier sehen wir gleichsam den Leviten vor uns, der, vom Tod errettet, nun sich Gott ganz weihte. Die Person bleibt natürlich dieselbe. Der in dem Stellvertreter Gestorbene ist auch der, welcher lebt; aber er lebt jetzt nicht mehr sich selbst, sondern dem Herrn. Ich bin gestorben als ein Kind Adams; ich lebe jetzt als ein Kind Gottes, durch Ihn erlöst, aus Ihm geboren.

Diese Tatsache zeigt uns sowohl unser Vorrecht, als auch unsere Verantwortlichkeit. Wir dürfen und sollen uns der Sünde für tot halten, Gott aber lebend in Christus Jesus, unserem Herrn. Christus ist nicht nur der Erstgeborene, der gestorben ist, sondern auch der Erstgeborene, welcher lebt. Er ist der Erstgeborene aus den Toten. Wie gesegnet ist es, an Ihn zu denken in seinem Triumph über alle seine Feinde! Und in dieser herrlichen Stellung macht Er uns in Gnade mit sich eins. Denn „Der, welcher heiligt, und die, welche geheiligt werden, sind alle von einem.“ Er, der Erstgeborene, hat uns mit sich aufs Innigste vereinigt. Wir bilden darum aus Gnaden „die Versammlung der Erstgeborenen, die in dem Himmel angeschrieben sind“ (Heb 12,23). Auch sind wir „eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe“ (Jak 1,18).

Wenn wir unsere Vereinigung mit Christus betrachten – o dass wir sie völliger verstehen möchten! – so müssen wir dankerfüllt anerkennen, dass uns alle unsere Segnungen aus Gnaden zu teil geworden sind, indem Er, ohne entrinnen und ohne gelöst werden zu können, den Tod geschmeckt hat. So nur konnte „das Wohlgefallen Jehovas in seiner Hand glücklich gedeihen“, und sein Wille auch in Bezug auf uns erfüllt werden. Wir sind jetzt gleichsam mit Christus die Erstgeborenen; doch Gottes Ratschluss sichert Ihm, dem Hochgelobten, auch hierin den ersten Platz, „auf dass Er in allen Dingen den Vorrang habe.“ „Denn welche Er zuvor gekannt hat, die hat Er auch zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29).

Der Herr gebe uns allen, so viele wir Ihn als unseren Erlöser kennen, das aufrichtige Begehren, „als Lebende aus den Toten“ jetzt „Dem zu leben, der für uns gestorben ist und ist auferweckt worden!“ Er kommt bald zurück, und sein Lohn mit Ihm!

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