Botschafter des Heils in Christo 1886

Jesus am Schatzkasten

Es ist ein sehr ernster und für uns alle beherzigenswerter Gedanke, dass Gott all unser Tun von einem Standpunkt aus beurteilt und nach einem Maßstab misst. Er würdigt alles nur, insoweit es mit seinem geliebten Sohn in Verbindung steht. Was für Christus und um seinetwillen getan wird, das allein ist köstlich vor Gott, alles andere, mag es einen noch so schönen Schein haben und von den Menschen anerkannt und gelobt werden, ist ohne Wert für Ihn. Wenn unsere Handlungen dereinst in dem Licht des Richterstuhls offenbart werden, so wird es sich allein um die Frage handeln, ob sie für Christus geschehen sind, und ob die Liebe zu Ihm unser Beweggrund war. Der Maßstab, der dort angelegt wird, ist ein ganz anderer, wie derjenige, dessen wir uns hier gewöhnlich bedienen. Wie manches Werk, das hier groß geschienen hat, wird dort nur geringe oder vielleicht gar keine Belohnung finden, weil wir uns selbst darin gesucht haben! Und wie manche unscheinbare Arbeit, wie mancher geringe Dienst, der hier unbeachtet geblieben ist, wird dort von dem Herrn anerkannt und belohnt werden, weil die Liebe zu Ihm der einzige Beweggrund dabei war! Diese ernste Erwägung sollte uns sicher antreiben, unser Tun stets in seinem Licht zu prüfen, und daran zu gedenken, dass Er allezeit unsere Gedanken und die Beweggründe unserer Herzen sieht.

In welcher Weise der Herr unseren Dienst beurteilt, wird uns in der oben angeführten Stelle in überaus schöner Weise gezeigt. Der Herr Jesus sitzt am Eingang des Tempels und sieht, wie die Eintretenden ihre Gaben in den Schatzkasten werfen. Diese Gaben waren hauptsächlich für die Unterhaltung des Tempels bestimmt und gaben daher einen Maßstab dafür ab, was ein jeder für Gott und für sein Haus übrighatte. „Viele Reiche warfen viel hinein“, und sie sowohl wie auch alle, die es sahen, haben sicher geglaubt, dass dem Herrn damit ein großer Dienst geschehen sei, den Er anerkennen und reichlich belohnen werde. Doch der Herr urteilt nicht wie der Mensch; Er sieht tiefer. Jeder Einzelne ist vor Ihm, dem Herzenskundiger, völlig offenbar, und sein Urteil richtet sich nicht nach der Größe der Gabe, sondern nach der Bereitwilligkeit des Herzens und nach der Liebe, womit sie gegeben wird.

Unter den vielen Reichen nun kommt auch eine arme Witwe und wirft zwei Scherflein in den Schatzkasten. Was waren zwei Scherflein für die Unterhaltung des Tempels? Was waren sie gegenüber den großen Gaben der Reichen? Nach dem Urteil der Menschen so gut wie nichts. Aber für den Herrn war diese kleine Gabe so wertvoll, ja so köstlich für sein Herz, dass Er seine Jünger herbeiruft, um sie darauf aufmerksam zu machen. „Diese arme Witwe“, so sagt Er, „hat mehr hineingeworfen, als alle; denn alle haben von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese aber hat von ihrem Mangel, alles, was sie hatte, hineingeworfen, ihren ganzen Lebensunterhalt.“ Der Herr kannte ihre Umstände; Er wusste, dass es ihr ganzer Lebensunterhalt war. Sie besaß nichts anderes, und doch gab sie alles hin für den Herrn. Wer würde es ihr haben verargen können, wenn sie gedacht hätte: „Ich kann nichts für den Herrn und seinen Tempel tun; ich habe nur diese zwei Scherflein, die ich nicht entbehren kann; wovon soll ich morgen leben, wenn ich heute alles hingebe? Ich möchte ja gewiss gern etwas in den Schatzkasten werfen, aber ich muss doch warten, bis Er mich dazu in den Stand setzt?“ Ja, wer hätte es ihr verargen können, wenn solche Gedanken in ihrem Herzen gewesen wären? Aber, geliebter Leser, sie waren nicht da. Die Liebe zu ihrem Herrn ließ solche Überlegungen gar nicht aufkommen. Sie machte die arme Witwe bereit, rückhaltlos alles dem Herrn zu opfern, was sie besaß. Auch ist es nicht ohne Bedeutung, dass uns gesagt wird, dass sie zwei Scherflein besaß. Wie natürlich und erklärlich wäre es gewesen, wenn sie gedacht hätte: „Ich will eines davon dem Herrn geben und eines für meinen Unterhalt behalten.“ Und wenn sie es so gemacht hätte, so würde selbst dann ihre Gabe wohl noch weit größer gewesen sein, als diejenigen der Reichen. Aber nein; sie gab sie beide; sie hatte ein ganzes Herz für den Herrn und für sein Haus. Wie schön ist dieses, und wie erquickend muss es für das Herz des Herrn Jesus gewesen sein, in dieser selbstsüchtigen Welt eine so völlige Hingebung zu sehen! Möchten auch wir mehr dieser Witwe gleichen und bei unseren Gaben für den Herrn und für sein Werk ein weites Herz haben, und nicht vergessen, dass wir vor seinem Auge völlig offenbar sind!

Der Grund, weshalb wir mit unseren Gaben oft so karg sind, liegt darin, dass unsere Herzen den Herrn so wenig kennen, dass wir so wenig seine innige Gemeinschaft suchen und unsere Herzen an der Liebe des seinen erwärmen. Aus demselben Grund vermögen wir auch so wenig, unser Leben Ihm völlig zu weihen. Aber der Herr ist nicht mit einer halben Hingebung zufrieden; Er will unser ganzes Herz haben. Er ist nicht zufrieden damit, wenn in unserem äußeren Leben alles in Ordnung ist, und keiner unserer Mitmenschen uns tadeln kann. Er lässt in dem ersten Sendschreiben in der Offenbarung der Versammlung in Ephesus schreiben, dass Er ihre Werke, ihre Arbeit und ihr Ausharren kenne, dass Er wisse, dass sie um seines Namens willen gelitten hätte. Aber obgleich so in dieser Versammlung äußerlich alles in schönster Ordnung war, und wir sicherlich nichts zu tadeln gefunden hätten, sah der Herr doch, dass die Herzen der Gläubigen nicht mehr so warm für Ihn schlugen, wie im Anfang, und darum sagte Er tadelnd: „Aber ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße!“ Der Herr kann nur dann zufrieden sein, wenn Er unsere ganze Liebe besitzt. Und in der Tat, Er hat Anspruch darauf. Er hat sein Leben für uns hingegeben, ja, alles, was Er hatte; Er dachte nicht daran, etwas für sich zu behalten. Wir hatten einen solchen Wert für sein Herz, dass Er um der vor Ihm liegenden Freude willen das Kreuz erduldete und der Schande nicht achtete. Der Herr selbst teilt uns dies in den Gleichnissen von dem Schatz im Acker und von der kostbaren Perle mit. In beiden heißt es, nachdem Er das, was Er suchte, gefunden hatte: „Er ging vor Freude darüber hin und verkaufte alles, was irgend Er hatte“, um jenen Acker oder jene kostbare Perle zu kaufen. Ja, der Herr gab alles hin, um uns zu besitzen. Welch ein wunderbarer Gedanke! Er, der Sohn Gottes, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, Er, der bei Gott und Gott selbst war, entäußert sich seiner ganzen Herrlichkeit und geht auf dieser Erde umher als der Diener aller, um schließlich das schreckliche Gericht Gottes über die Sünde auf sich zu nehmen und sein Leben zu lassen. Und für wen tat Er dies? Für wen bezahlte Er einen so überaus hohen Preis? Nicht für solche, die Ihn liebten und ehrten, sondern für arme, feindselige Sünder, für den Schreiber und Leser dieser Zeilen. Ja, Er hat in Wahrheit Anspruch darauf, dass wir uns Ihm völlig hingeben, unser Leben Ihm völlig weihen. Aber ach! Wie wenig erfüllen die Seinen oft diese seine gerechten Ansprüche! Es mag sein, dass unser Wandel ein ordentlicher ist, dass wir unser Zusammenkommen nicht versäumen, dass wir in unserem häuslichen und geschäftlichen Leben vor den Menschen ein gutes Zeugnis haben, ja, dass wir bereit sind, gelegentlich auch etwas für den Herrn zu tun – aber wie wenig ist Er der einzige köstliche Gegenstand für unser Herz! Wie wenig können wir mit dem Psalmisten sagen: „Wen habe ich im Himmel? Und neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde!“

Ich habe vorhin gesagt, dass die Ursache dieses Mangels an völliger Hingebung darin liegt, dass wir den Herrn so wenig kennen. Der Apostel Paulus kannte Ihn so, dass er alles für Schaden und Dreck achtete, wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, seines Herrn. Es gab nichts Köstlicheres, nichts Höheres mehr für ihn, als Christus mehr und mehr zu erkennen und in Ihm erfunden zu werden; und deshalb finden wir auch in ihm eine Gesinnung, welche derjenigen des Herrn Jesus selbst entspricht. Er schreibt an die Philipper: „Wenn ich aber auch wie ein Trankopfer gesprengt werde über das Opfer und den Dienst eures Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen. Gleicherweise aber freut auch ihr euch und freut euch mit mir!“ (Phil 2,17–18) und an die Korinther: „Ich will aber sehr gern alles verwenden und völlig verwendet werden für eure Seelen, wenn ich auch, je überschwänglicher ich euch liebe, umso weniger geliebt werde.“ Er suchte in Wahrheit nichts mehr für sich selbst, sondern dachte nur an die Verherrlichung des Herrn und an das Wohl der Seinen. Er war bereit, sein Leben hinzugeben, selbst für die, deren Liebe gegen ihn erkaltet war. Welch ein Herz für Christus, welch eine völlige Hingebung! Möchten auch wir den Herrn so kennen, wie er Ihn kannte, damit eine solche Gesinnung auch in uns gefunden würde! Wie viel mehr würde der Herr verherrlicht werden, wie viel glücklicher würde auch unser gegenseitiger Verkehr sein, und wie viel gesegneter unser Zusammenkommen, und namentlich das zusammenkommen am Tisch des Herrn, wenn unsere Herzen mehr mit Liebe zu dem erfüllt wären, der uns zuerst geliebt hat!

An seinem Tisch werden wir in besonderer Weise an seine Liebe zu uns und an seine Hingabe erinnert; dort ist daher auch vor allem der Platz, wo wir Ihm unsere geistlichen Gaben, die Opfer des Lobes, darbringen. Doch wie oft sind unsere Herzen selbst da mit gleichgültigen, irdischen Gedanken beschäftigt, wie oft werden unsere Loblieder nicht von Herzen gesungen, und wie wenig Teilnahme findet sich im Allgemeinen! Kann der Herr daran seine Freude finden, kann es sein Herz befriedigen, wenn wir das Gedächtnismahl seiner Liebe und seines Todes in der richtigen äußeren Form feiern? Sicherlich nicht. Lasst uns nicht vergessen, dass der Herr selbst nach seiner Verheißung gegenwärtig ist, und wie Er damals am Schatzkasten jede Gabe kannte und beurteilte, so ist auch jetzt an seinem Tisch jedes Herz vor Ihm völlig offenbar. Er sieht jeden Gedanken und weiß, ob unsere Tankgebete von Herzen kommen, und ob unsere Loblieder der wahre Ausdruck unserer Gefühle für Ihn sind. Wie ernst ist dieser Gedanke! Wie manche Gabe mag da nicht völlig erfunden werden, weil der Herr nicht der einzige köstliche Gegenstand für das Herz ist! Wie sehr sollte dies uns demütigen und uns antreiben, in seiner Gegenwart unsere Herzen zu prüfen, so oft wir an seinen Tisch kommen!

Doch ist es nötig, dass auch im täglichen Leben ein inniger Umgang mit dem Herrn vorhanden, und dass Er auch da unseren Herzen köstlich sei. Denn wenn dies nicht der Fall ist, wenn unsere Herzen im Lauf der Woche Ihn vergessen und mit weltlichen Gedanken erfüllt sind, so ist es unmöglich, dass wir am Tag des Herrn Ihm wahres Lob und wahre Anbetung darbringen. Wir können nicht am Sonntagmorgen den Zustand unserer Herzen ändern, wie wir für unseren Leib die Alltags– mit den Sonntagskleidern vertauschen. Dem Volk Israel gebot Gott bei der Einsetzung des Passahfestes, dass sie sieben tagelang nichts Gesäuertes essen sollten, und selbst in ihren Häusern durfte während dieser Zeit kein Sauerteig gefunden werden. Dies ist auch für uns sehr beachtenswert in Bezug auf das Abendmahl. Wir sollten nicht nur aus unseren Herzen, sondern auch aus unseren Häusern alles Böse entfernen und eine innige Gemeinschaft mit dem Herrn pflegen. Dann würde am Sonntagmorgen der Herr mit Freude in unserer Mitte weilen können, und unsere Gaben, die wir Ihm an seinem Tisch darbringen, würden für sein Herz so köstlich sein, wie damals die Gabe der armen Witwe.

Und sicher, wenn unsere Herzen so in inniger Gemeinschaft mit dem Herrn stehen und in Liebe für Ihn schlagen, wird auch sein Werk und das Wohl der seinigen uns nicht gleichgültig sein. Wir werden es als ein großes Vorrecht betrachten, die Not unserer Brüder und Schwestern, der Hausgenossen Gottes, nach Kräften zu lindern und den Fortgang seines Werkes, die Ausbreitung seiner Wahrheit, fördern zu helfen. So wie unser Mund überfließen wird von Lob und Dank und Anbetung, wird auch unsere Hand sich gerne öffnen, um sowohl dem Dürftigen darzureichen, als auch das Werk des Herrn zu unterstützen. Wir werden fröhliche Geber sein, und einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Wir werden in der Ermahnung des Apostels: „Durch Ihn nun lasst uns Gott stets das Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Des Wohltuns aber und des Mitteilens vergesst nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“ (Heb 13,15–16), – nicht eine drückende, schwer zu erfüllende Vorschrift finden, sondern mit Dank gegen Gott jede Gelegenheit benutzen, die Er uns gibt, um Ihm solche wohlgefällige Opfer darzubringen. Der Herr hat uns in der Geschichte von der armen Witwe am Schatzkasten ein Beispiel vor Augen gestellt, wie auch der ärmste Bruder, die ärmste Schwester sein Herz erfreuen kann. Er fordert nicht große Summen von dem Armen. Er weiß, was ein jeder besitzt, und „wenn die Geneigtheit da ist, so ist einer annehmlich, nach dem er hat, und nicht, nach dem er nicht hat“ (2. Kor 8,12). Die Gabe wird sich unter allen Umständen nach der Liebe meines Herzens richten; und der Herr sieht das Herz an. Er beurteilt uns nach seiner vollkommenen Weisheit und Einsicht.

Der Herr gebe in seiner Gnade, dass die ernste und doch so liebliche Geschichte von der armen Witwe und ihren beiden Scherflein zu unserem Herzen rede! Möchten auch wir ein ganzes, ungeteiltes Herz für Ihn haben und der Worte des Apostels eingedenk bleiben: „Wer sparsam sät, wird auch sparsam ernten, und wer segensreich sät, wird auch segensreich ernten!“ (2. Kor 9,6)

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