Botschafter des Heils in Christo 1886

Der Tag des Herrn

Der Mensch sowie die ganze Schöpfung muss notwendigerweise in einer von Gott gewollten und von Ihm anerkannten Beziehung zu Ihm selbst stehen; anders ist alles in Unordnung. Dieser Zustand der Unordnung kennzeichnet den gegenwärtigen Zeitlauf seit dem Augenblick, da die ursprüngliche Beziehung des Menschen zu Gott durch die Sünde unterbrochen wurde. Der Tag des Herrn wird diesem Zustand ein Ende machen und alles zu seiner wahren Beziehung zu Gott zurückführen. Das ist der Zweck dieses Tages. Christus, der zweite Mensch, der letzte Adam, wird herrschen; und die ganze Zeitdauer seiner Herrschaft trägt die Bezeichnung: „Tag des Herrn.“

Sehr häufig wird nun die Frage aufgeworfen: „Wann fängt dieser Tag an, und wann endet er?“ Diese Frage in Kürze zu beantworten, ist der Zweck dieser Zeilen.

Wenn die Herrschaft Christi diesen Tag kennzeichnet, und wenn diese Herrschaft den Zweck hat, alle Dinge in den Himmeln und auf der Erde zu ihrer wahren Beziehung zu Gott zurückzuführen, so ist damit der Anfang und das Ende dieses Tages klar bezeichnet. Es steht zunächst außer allem Zweifel, dass Christus seine Herrschaft nicht eher antreten wird, als bis die Heiligen mit Ihm in Herrlichkeit vereinigt sind; denn diese sollen mit Ihm herrschen. „Wisst ihr nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden? ... Wisst ihr nicht, dass wir Engel richten werden?“ (1. Kor 6,2–3) „Wenn wir ausharren, so werden wir auch mitherrschen“ (2. Tim 2,12). „Glückselig und heilig, wer teil hat an der ersten Auferstehung! Über diese hat der zweite Tod keine Gewalt, sondern sie werden Priester Gottes und des Christus sein und mit Ihm herrschen tausend Jahre“ (Off 20,4–6).

Außerdem ist es klar, dass der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht nur über diejenigen kommt, welche sagen: „Friede und Sicherheit!“ nicht aber über die Heiligen, denn diese sind Söhne des Lichtes und Söhne des Tages. „Ihr aber, Brüder, seid nicht in Finsternis, dass euch der Tag wie ein Dieb ergreife; denn ihr alle seid Söhne des Lichtes und Söhne des Tages“ (1. Thes 5,2–5). Die Heiligen werden also vor Anbruch dieses Tages aufgenommen und mit Christus vereinigt werden.

Weiterhin lesen wir, dass der Tag des Herrn nicht kommt, „es sei denn, dass zuerst der Abfall komme und offenbart sei der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens.“ Dieser Abfall der Christenheit wird der Aufnahme der wahren Christen sehr bald folgen. Denn wenn diese aus der Mitte jener hinweggenommen sind, steht der Vollendung des Abfalls und der Offenbarung des Gesetzlosen, aber auch der Ankunft des Tages des Herrn nichts mehr im Weg.

Wir können daher sagen, dass die Aufnahme der Heiligen, oder mit anderen Worten, das Kommen Christi als Morgenstern zur Aufnahme der Kirche, seiner Braut, das erste Anzeichen der unmittelbaren Nähe oder gleichsam das Grauen dieses Tages ist.

Viele beschränken diesen Tag auf die Erscheinung Christi oder „Sein Kommen auf den Wolken des Himmels Macht und großer Herrlichkeit“ (Mt 24,30). Solche verwechseln das persönliche Erscheinen des Herrn mit dem Tag des Herrn. Denn dieser Tag umfasst, wie schon bemerkt, die ganze Zeitdauer der Herrschaft Christi, deren Zweck ist, alles zu seiner wahren Beziehung zu Gott zurückzuführen; und dies ist erst dann erfüllt, wenn Gott „alles in allem“ sein wird. Alsdann, wenn alle Feinde unterworfen sind, wenn der letzte Feind, der Tod, hinweggetan und alles Böse beseitigt ist, bedarf es keiner Herrschaft mehr in diesem Sinn, wie geschrieben steht: „Denn er muss herrschen, bis er alle Feinde gelegt hat unter seine Füße. Der letzte Feind, der weggetan wird, ist der Tod. ‚Denn alles hat er seinen Füßen unterworfen.‘ Wenn er aber sagt, dass alles unterworfen sei, so ist es offenbar, dass der ausgenommen ist, der Ihm alles unterworfen hat. Wenn Ihm aber alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der Ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott alles in allem sei“ (1. Kor 15,25–28).

Der Tag des Herrn beginnt also mit dem Gericht der Lebendigen und dauert fort bis zum Beginn des neuen Himmels und der neuen Erde. Dies geht auch klar aus dem letzten Kapitel des 2. Briefes des Petrus hervor, indem der Apostel dort Ereignisse auf den Tag des Herrn bezieht, die erst am Schluss des tausendjährigen Reiches eintreten werden: „Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb, an welchem die Himmel vergehen werden mit gewaltigem Geräusch, die Elemente aber im Brand aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt werden“ (2. Pet 3,10).

Dieser Tag wird eingeleitet durch die vorlaufenden Gerichte der Vorsehung, wie sie uns in dem 6. bis 19. Kapitel der Offenbarung beschrieben werden, d. h. durch die Ereignisse, welche bestimmt sind, alles für die Erscheinung Jesu Christi borzubereiten. Dann folgt das Gericht der Lebendigen bei der Erscheinung des Herrn auf den Wolken mit Macht und großer Herrlichkeit; dann die Einführung der Segnungen des tausendjährigen Reiches; dann endlich das Gericht der Toten, die Auflösung dieser gegenwärtigen Schöpfung, um einem neuen Himmel und einer neuen Erde Platz zu machen, und das Hinwegtun des letzten Feindes, des Todes. „Der Tod und der Hades wurden geworfen in den Feuersee“ (Off 20,14). Damit ist „das Ende“ gekommen, wo der Sohn „das Reich dem Gott und Vater übergeben wird.“ Alsdann wird in seiner ganzen Tragweite erfüllt sein, was die Menge der himmlischen Heerscharen schon bei dem ersten Kommen des Herrn in Niedrigkeit verkündigte: „Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!“

Diesen ewig glückseligen Zustand einzuführen, war der Zweck des Kommens Jesu, der Zweck der durch Ihn vollbrachten Erlösung, und ist auch der Zweck des glorreichen Tages seiner Regierung in Gerechtigkeit und Gericht. Nichts Geringeres konnte dem Herzen eines Gottes, dessen Natur Licht und Liebe ist, entsprechen und genügen, als ein solch glückseliger Zustand inniger Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen. Wir finden in Offenbarung 21 einen kurzen, aber erhabenen und zugleich rührenden Bericht von diesem Zustand ewiger, unveränderlicher Glückseligkeit: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, herniederkommen aus dem Himmel von Gott, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine starke Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und Er wird abwischen jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu.“

Der Ausdruck: „der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb“, zeigt an, dass er plötzlich und unerwartet hereinbrechen wird. So plötzlich wie die Aufnahme der Heiligen stattfindet, in einem Nu, in einem Augenblick, ebenso plötzlich wird auch der Tag des Herrn kommen. Viele machen das Kommen des Herrn zur Aufnahme der Seinen abhängig von vorhergehenden Ereignissen, indem sie dieses Kommen mit seinem Erscheinen zum Gericht verwechseln. Allerdings gehen dem letzteren große Ereignisse voraus, denn dies hat der Herr selbst zur Genüge angedeutet. Kriege und Kriegsgerüchte, Hungersnot, Seuchen und Erdbeben werden sein; die Juden werden in ihr Land zurückgekehrt sein; der Antichrist wird da sein, und unter seiner Herrschaft wird der jüdische Überrest durch große Drangsale gehen; falsche Christi und falsche Propheten werden aufstehen; es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde große Revolutionen – „Bedrängnis der Nationen in Ratlosigkeit bei brausendem Meer und Wasserwogen“ – und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; und „dann werden sie sehen den Sohn des Menschen, kommend in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit“ (Mt 24; Lk 21). Aber wenn diese Dinge geschehen, ist die Kirche bereits aufgenommen. Es sind dies die vorlaufenden Gerichte, die „Wehen“, die Vorboten von der Erscheinung des Herrn; und der gläubige Überrest der Juden in jener Zeit soll merken auf diese Zeichen und daraus lernen, dass ihre Erlösung, die Erscheinung ihres Erretters, naht (Lk 21,28). Aber uns, den Gläubigen der Jetztzeit, ist kein Zeichen gegeben, woran wir die Nähe des Kommens des Herrn zu unserer Aufnahme oder auch das Herannahen des Tages des Herrn merken sollen, 1 es sei denn an dem überhandnehmenden Unglauben. Vielmehr wird bis zu jenem Augenblick alles seinen gewöhnlichen Lauf verfolgen, wie der Herr sagt: „Gleicherweise auch, wie es geschah in den Tagen Lots: sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten; an dem Tag aber, da Lot aus Sodom herausging, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte alle um. Auf diese Weise wird es sein an dem Tag, da der Sohn des Menschen offenbart wird.“ „Denn wie ein Fallstrick wird er dieser (Tag) kommen über alle, die ansässig sind auf dem ganzen Erdboden“ (Lk 17,26–30; 21,35).

Beachten wir das Wort: „An dem Tag aber, da Lot aus Sodom herausging“ – wie verhängnisvoll war dieses Ausgehen Lots für Sodom! Und von ebenso verhängnisvoller Bedeutung für die Welt wird die Aufnahme der Kirche sein. Wir können nicht wissen, wie nahe die Stunde dieser Aufnahme ist; aber wir wissen, dass der Herr nicht mehr verziehen wird, sobald das letzte Glied seiner Kirche hinzugefügt ist; von dieser Tatsache hängt alles ab. Gleichwie der Engel zu Lot sagte: „Eile, rette dich dahin, denn ich kann nichts tun, bis du dahin gekommen bist“, so unternimmt auch der Herr nichts, bevor seine Kirche in Sicherheit ist; denn Er sagt in Betreff ihrer: „Weil du das Wort meines Ausharrens bewahrt hast, so will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, zu versuchen, die auf der Erde wohnen“ (Off 3,10).

Wir sehen, dass der Herr die Seinen mit Eile sammelt. Tausende und aber Taufende werden bekehrt in unseren Tagen, und jeden Augenblick kann das letzte Glied eingesammelt werden, und somit jenes Ereignis hereinbrechen, welches für die Welt so verhängnisvolle Folgen hat. Wie feierlich und ernst ist dieser Gedanke in Bezug auf die letztere! Wie ermunternd hingegen für diejenigen, welche den Herrn erwarten! Wie bald können sich die Leiden, Schmerzen und Prüfungen der Gläubigen in ewiges Frohlocken und unaussprechliche Freude verwandeln! Und ebenso bald kann die anscheinend friedliche Szene um uns her zu einem Schauplatz des Schreckens, des Entsetzens und der Verzweiflung für die Welt werden.

Wir dürfen überzeugt sein, dass die große Tätigkeit des Herrn zur Errettung verlorener Sünder in unseren Tagen ein letzter, ernster Mahnruf an die Christenheit ist, der sie ohne Entschuldigung lässt für das über sie kommende Gericht der Verstockung und Verblendung, in welchem alle der Wirkung des Irrtums hingegeben werden, welche die Liebe zur Wahrheit nicht annehmen wollen (2. Thes 2,10–12).

Wenn der Herr ein furchtbares Wehe aussprechen musste über die Städte, welche trotz seiner Zeichen und Wunder nicht Buße getan hatten, wie furchtbar wird das Wehe sein für alle, welche die mächtigen Wirkungen des Geistes Gottes in unseren Tagen gesehen und gehört und sich doch nicht in aufrichtiger Buße zum Herrn gewandt haben! Sicherlich wird das Gericht der Sodomer Land erträglicher sein, nicht nur im Vergleich zu Chorazin und Betsaida, sondern vielmehr noch im Vergleich zu der heutigen Christenheit (Mt 11,20–24).

Möchten wir daher wachend erfunden werden und nicht in falscher Sicherheit dahingehen wie die Welt, welche keine Ahnung hat von der ihr bevorstehenden feierlich ernsten Stunde, die jeden Augenblick über sie hereinbrechen kann! Möchten wir eingedenk sein des Zurufs unseres geliebten Herrn: „Ich komme bald; halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme!“ (Off 3,11) „Die Nacht ist weit vorgerückt, der Tag aber ist nahe“ (Röm 13,12).

Fußnoten

  • 1 Wohl mag es Kriege, Seuchen und allerlei große Ereignisse geben, wie dies im Lauf der Zeiten schon oft stattgefunden hat, aber dies hat mit der Ankunft des Herrn für die Seinen nichts zu tun.
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