Botschafter des Heils in Christo 1886

Die Welt vor der Flut - Teil 2/3

Wir haben uns in dem Vorhergehenden mit den Geheimnissen Gottes und mit seinen Ratschlüssen, so wie sie uns in dem wundervollen 3. Kapitel des 1. Buches Mose mitgeteilt werden, beschäftigt; doch es ist nötig, dass wir nicht allein diese kennen lernen, sondern auch den Menschen und seine Wege.

Von Kain wird durch den Geist Gottes in 1. Johannes 3,12 gesagt, dass er „aus dem Bösen“ war. Das Erste, was wir bei ihm sehen, ist seine Religion. Er brachte Gott die Früchte des verfluchten Erdbodens, die Produkte seiner eignen Arbeit, als Opfer dar; und das war Unglaube. Er leugnete dadurch alles das, was seit der Schöpfung geschehen war, und zwar können wir es die religiöse Leugnung desselben nennen. Sein Tun stand in direktem Gegensatz zu der Handlungsweise des Glaubens. Abel betrat den Weg der Verheißung Gottes, des blutigen Sieges des Samens des Weibes, des Todes und der Auferstehung Christi, und opferte ein Lamm von seiner Herde; aber Kam weigerte sich, das Verderben des Menschen und den Heilsweg Gottes zu sehen, indem er Gott die Früchte der sündigen, verfluchten Erde darbrachte. Trotz seines feierlichen Opferdienstes leugnete er die ganze Wahrheit. Sein Herz war weit von Gott entfernt.

Seine nächste Handlung stand in schrecklicher Übereinstimmung hiermit. Kain hasste seinen Bruder, weil er aus dem Bösen war, aus dem, der ein Mörder von Anfang ist (Joh 8,44); und im Laufe der Zeit erschlug er ihn.

Schreckliche Frucht der abtrünnigen und abgewichenen Natur! Er war der Erste jener Klasse von Menschen, die Jesus überlieferten, auf dass Er gekreuzigt würde – selbstgerecht und mörderisch. Die Juden überlieferten Jesus aus Neid, und Kain erschlug Abel, weil seine eignen Werke böse, diejenigen seines Bruders aber gerecht waren. „Wundert euch nicht, Brüder, wenn euch die Welt hasst. Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder, und ihr wisst, dass kein Menschenmörder ewiges Leben in sich bleibend hat“ (1. Joh 3,13–15).

Der Herr ließ sich in seiner unendlichen Gnade mit Kain in eine Unterredung ein; doch Kain verachtete diese Gnade, die sich noch in der letzten Stunde warnend an ihn wandte. „Dies ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse“ (Joh 3,19). Das Licht, welches der Herr Jesus brachte, war das Licht des Lebens oder des Heils (Joh 8,12; Jes 49,6); aber die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht. So auch Kain. Er hasste dieses Licht und stieß es von sich.

Als Jehova–Gott in Gerechtigkeit und Heiligkeit in den Garten trat und rief: „Adam, wo bist du?“ da vermochte Adam nicht in diesem Licht zu stehen; er hatte gesündigt, und deshalb war ihm das Licht unerträglich. Er erreichte jene Herrlichkeit nicht, sondern floh vor ihr. Dann aber offenbarte sich Gott in einem anderen Licht. Er gab die Verheißung, und damit veränderte sich der Charakter der Herrlichkeit. Gott stellte sich in ein Licht, welches der Sünder erreichen kann; und wir sehen dann auch, dass der glaubende Adam jetzt aus seinem Versteck hervorkommt. Dieses Licht, das Licht des Heils und der Verheißung, das Licht, in welchem Gott sich dem Menschen außerhalb des Gartens zeigt, verachtete Kain, und deshalb wurde er verflucht, was mit Adam nicht geschehen war.

Das ist die ernste Geschichte dieses ersten Ungläubigen. Aber die verdorbene Natur, die in ihm war, blieb nicht bei jener ersten schrecklichen Tat, der Ermordung des Bruders, stehen; sie zeigte sich in weiterer Bosheit. In Kain befand sich jene Quelle, welche ein „Übermaß von Schlechtigkeit“ hervorsprudelt. Er log und rechtfertigte sich selbst. Auf die Frage Gottes: „Wo ist Habel, dein Bruder?“ antwortete er: „Ich weiß es nicht; bin ich meines Bruders Hüter?“ Kain wollte die Begierden seines Vaters tun, und wenn der Teufel „die Lüge redet, so redet er aus seinem Eignen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben“ (Joh 8,44).

Doch alles das finden wir nicht nur in Kain, sondern auch in jedem Menschen von Natur. Es war das verdorbene Herz des Menschen, das sich in dem Verhalten Kains offenbarte, und weil es das war, weil es die allgemeine Natur war, die in dieser Weise ans Licht trat, so entzog Gott das Gericht derselben dem Menschen. „Jeglicher, der Kain erschlägt“, sagt Er, „siebenfältig soll es gerächt werden“; denn niemand ist ohne Sünde. „Du bist nicht zu entschuldigen, o Mensch – jeder, der da richtet – denn worin du den Anderen richtest, verdammst du dich selbst“ (Röm 2,1). Alle sind gleich verdammungswürdig; keiner kann den Stein aufheben und ihn auf den Anderen werfen. Und um diesen wichtigen Grundsatz auszudrücken und zu zeigen, dass Gott allein das Recht und die Befugnis hat, mit der Sünde zu handeln, ließ der Herr es nicht zu, dass der Brudermörder von seinen Mitmenschen angetastet wurde.

Als später die Regierung auf der Erde der Zweck der Offenbarung Gottes war, wurde gesagt: „Wer eines Menschen Blut vergießt, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (Kap 9,6). Aber bis dahin war dies nicht so; und um die allgemeine Verderbtheit des Menschen zu lehren, wird keinem Glied der ganzen menschlichen Familie erlaubt, den gottlosen Kam anzutasten. Und auch in der gegenwärtigen Zeit, wo es eine von Gott eingesetzte Regierung gibt, ist es nicht die Sünde als solche, mit welcher dieselbe sich zu beschäftigen hat. Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, oder an einzelnen Personen begangenes Unrecht mögen durch den Menschen gerichtet werden; aber Rache für Sünde, als solche, nehmen zu wollen, würde heißen, sich eine persönliche Schuldlosigkeit anzumaßen. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie“ (Joh 8,7). Gott allein hat mit der Sünde zu handeln.

Doch gehen wir in dieser schrecklichen Geschichte weiter. Der Mensch offenbart sich nicht immer in dieser abschreckenden Gestalt; er erscheint nicht stets als ein Lügner und Mörder. Es gibt da gewisse Schranken, wie z. B. die Zügelung und Veredlung mittelst der Erziehung, die zurückhaltende Hand Gottes und die Furcht vor seiner Vorsehung und seinem Gericht, die allgemeine Meinung und das Urteil der menschlichen Gesellschaft. Diese und ähnliche Einflüsse bringen eine gewisse Ordnung hervor, wodurch der Schauplatz des menschlichen Lebens und Wirkens nicht nur erträglich, sondern sogar bequem und angenehm wird. Der Schauplatz ist auf diese Weise erneuert worden, nicht aber ist eine neue Schöpfung hervorgerufen. Der Mensch ist Mensch geblieben, dasselbe Geschöpf nach dem Urteil Gottes, obgleich er in dem Charakter eines achtbaren Weltbürgers und nicht mehr als der Mörder seines Bruders erscheinen mag. Kain baut eine Stadt; seine Familie wächst und gedeiht, und durch ihre Geschicklichkeit und Betriebsamkeit bekommt die Welt ein blühendes und gefälliges Aussehen. Der Mörder ist vergessen; der Mensch hört nicht das Schreien des Bruderblutes, sondern den Ton der Laute und Pfeife; seine Erfindungen haben sein Schuldbewusstsein unterdrückt. Kain ist ein ehrbarer Mann geworden, aber von der Gegenwart Gottes ist er noch ebenso weit entfernt, wie damals, als seine Hand sich mit dem Blut seines Bruders besteckte.

Wie ernst ist der Gedanke, dass der Mensch als achtbarer Weltbürger ebenso weit von Gott entfernt ist, wie als Mörder! Die Ruhe und Gleichgültigkeit, mit welcher Kain dem Herrn den Rücken kehren und seines Bruders Blut vergessen konnte, ist schrecklich. Er erhielt die Zusicherung des Schutzes von Seiten Gottes, und das war alles, was er begehrte. Schnell füllt sich die Erde unter seiner Hand mit aller Art von Bequemlichkeit und Vergnügungen. Wie entsetzlich, nicht wahr? Und doch ist es nichts anderes als der Lauf der Welt. War es nicht der Mensch, der Jesus tötete? Und doch geht er mit der Ruhe und Gleichgültigkeit Kains in diesem höchsten Zustand der Schuld einher. Die Erde hat das Kreuz Christi getragen; und der Mensch beschäftigt sich damit, sie zu schmücken und zu zieren und das Leben auf ihr bequem und angenehm zu machen. Das ist genau das Verhalten Kains, wenn wir es in dem vollen göttlichen Licht betrachten. Kain wurde ein achtbarer Bürger der Welt, aber er vergaß in herzloser Weise die Leiden Abels. Seine Ruhe und Achtbarkeit bilden, wenn wir so sagen dürfen, das schwärzeste Blatt in seiner Geschichte. Er ging weg, sobald er die Zusicherung des göttlichen Schutzes erhalten hatte; und anstatt durch dieses Versprechen erweicht und durch das Bewusstsein alles dessen, was sich ereignet hatte, zu Boden gedrückt zu werden, betrachtet er die Zusicherung Gottes als eine gute Gelegenheit, sich selbst zu befriedigen und zu verherrlichen.

Wir lesen in dem Neuen Testament von dem „Wege Kains“, und der Apostel Judas sagt uns, dass er auch von anderen betreten wird. Doch welch ein schrecklicher Weg ist es! Kain war ein Ungläubiger oder ein Mann seiner eignen Religion; er war nicht im Glauben der Offenbarung Gottes gehorsam. Er tat die Werte des Lügners und Mörders von Anfang, und hasste das Licht. Er widerstand der gnädigen und warnenden Stimme Gottes. Er kümmerte sich nicht um die Gegenwart Gottes, die er durch seine Sünde verloren, noch um die Leiden seines Bruders, den seine Hand erschlagen hatte; und bei alledem konnte er sich da, wo alles gegen ihn zeugte, wo das Blut seines Bruders gegen ihn schrie, noch Mühe geben, sich selbst glücklich und geachtet zu machen. Das ist „der Weg Kains“, und der Mensch ist, wie gesagt, heute noch ebenso; er hat sich nicht verändert. Die Natur bleibt dieselbe trotz aller Schranken und Veredlungen; denn gerade am Ende der Geschichte der Christenheit wird von einer Generation gesagt: „Sie sind den Weg Kains gegangen.“ Das ist sehr ernst, geliebter Leser! Möchten unsere Herzen es tief fühlen!

Doch es gibt auch ein errettetes, abgesondertes Volk. Die Familie Sets ist von einer ganz anderen Art, als Kain und sein Geschlecht. Sie wird nicht in Städten gesehen, die mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen geschmückt sind, fern von der Gegenwart des Herrn, sondern erscheint vor unseren Augen als die Familie Gottes, getrennt von der Welt, die in dem Bösen liegt, und zur Verherrlichung seines Namens.

Die Stellung und das Zeugnis der Familie Sets enthält, wie ich glaube, manche Unterweisungen für unsere Seelen. Wie bei allem übrigen in diesen Kapiteln, finden wir allerdings nur kurze Notizen über sie. Aber diese sind inhaltsreich, und man kann im Allgemeinen über diese Familie sagen: Sie bildet das gerade Gegenteil von dem Weg Kains und versteht den Weg Gottes. Ihr Glaube ist derselbe, dem wir in Adam, Eva und Abel begegnet sind; wir haben uns bereits mit demselben beschäftigt. Ich möchte jetzt ihre Stellung und ihr Zeugnis in der Welt etwas näher betrachten. Wie wir gesehen haben, hatte Gott ein Zeichen an Kain gemacht, „auf dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.“ Die Familie Sets beachtete dieses, und kein Versuch wurde von den Gliedern derselben gemacht, das Schreien des unschuldigen Blutes zu beantworten. Die Rache war nicht ihre Sache; im Gehorsam gegen das Wort des Herrn hörten sie nicht das Schreien des Blutes, sondern die Stimme Jehovas, der die Rache verboten hatte. Sie ertrugen das an ihrem Bruder geschehene Unrecht und waren so angenehm vor Gott.

Das unschuldige Blut sollte also nicht gerächt werden, wenigstens damals nicht. Das war genug, um jenen Gläubigen ihre Fremdlingschaft hienieden und ihre himmlische Berufung zu zeigen. Denn solange die Erde nicht von Unrecht und Gewalttat gereinigt werden soll, müssen die Auserwählten auf ihr Fremdlinge sein mit einer himmlischen Berufung. Das ist der Weg Gottes, der von jenen Heiligen vielleicht besser begriffen wurde, als von vielen unter uns, die wir bei den völligeren Offenbarungen Gottes in der gegenwärtigen Zeit doch so viel belehrt und unterrichtet worden sind. Aber es handelt sich nicht darum, ob wir den meisten Unterricht empfangen haben, sondern ob wir die Fähigkeit besitzen, ruhig zu lernen. David bedurfte derselben Fähigkeit, als er daran dachte, ein Haus von Zedern, eine feste Wohnung für Jehova zu bauen, während das Land noch mit Blut befleckt war. Der Herr wollte, wenn ich so sagen darf, gleich den vorsintflutlichen Heiligen, ein Fremdling auf Erden sein, ein Zeltbewohner, solange Blut sie besteckte, und deshalb wies Er das Vorhaben des Königs von Israel zurück (1. Chr 17).

Wir können bei einiger Aufmerksamkeit manche Darstellungen dieses Weges Gottes unter verschiedenen Formen finden. So wollte der Herr zum Beispiel keinen Altar in Ägypten, dem unbeschnittenen Land, haben, und ebenso wenig ein Haus in Israel bis zu den Tagen Salomos, wo alles für seine königliche Gegenwart geheiligt war. Später wurde die Herrlichkeit durch die Gräuel, die in dem Tempel geschahen, verscheucht. In demselben Geist hingen die gefangenen Juden ihre Harfen an die Weiden des Euphrat; denn wie konnten sie singen in einem fremden Land, oder die Gesänge Zions in Babylon erschallen lassen? Absonderung war das Verhalten, welches ein göttlich belehrter Sinn vorschrieb, und Absonderung ist Heiligkeit. Hiermit befand sich die Familie Sets, die Haushaltung Gottes in den frühesten Tagen, in völliger Übereinstimmung.

Wir haben stets zu unterscheiden zwischen Gottes Behauptung seiner Rechte auf die Erde, und seiner Berufung eines Volkes von der Erde. Diese beiden Dinge sind im Lauf der Zeiten immer wieder dargestellt worden, und zwar, wie ich glaube, in abwechselnder Reihenfolge. So begann der Herr bei Adam damit, seine Rechte auf die Erde darzulegen und geltend zu machen. Der Mensch im Garten hatte die Oberherrschaft Gottes anzuerkennen, und die Erde war der Ruheplatz und die Freude des Herrn und der Schauplatz seiner Herrlichkeit. Als dann die Sünde kam und alles verunreinigte und diese Verunreinigung nicht beseitigt wurde, berief Gott in Set ein Volk von der Erde zur Erbschaft im Himmel.

In Noah behauptet Gott dann wieder seine Rechte an die Erde und benutzt dieselbe als den Platz, auf welchem seine Auserwählten ihre Heimat finden, und wo seine Gegenwart gekannt ist. Abraham dagegen wird von seiner Verwandtschaft, von seinem Land und von seines Vaters Haus abgesondert, um ein himmlischer Fremdling auf der Erde zu sein, mit einem Altar und einem Zelt, und in der Erwartung einer Stadt stehend, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Sodann wird Israel im Land Kanaan von neuem der Zeuge von Gottes Oberherrschaft; die Bundeslade überschreitet den Jordan als „die Lade des Bundes des Gottes der ganzen Erde.“ Und heute endlich steht die Kirche wieder da als die Zeugin der himmlischen Geheimnisse, und Fremdlingschaft hienieden ist der einzig göttliche Gedanke bis zu unserer Aufnahme, um dem Herrn in der Luft zu begegnen.

Diese wunderbare Darstellung, diese Zeiteinteilungen Gottes, die wie Tag und Nacht miteinander abwechselten, haben auf diese Weise von Anfang an geredet und reden noch. Und bald wird in dem tausendjährigen Reich die herrliche Wirklichkeit all dieser Schatten und Vorbilder ans Licht treten. Indes ist es beachtenswert, dass, so oft Gott in diesem Fortschreiten seiner Pläne aufsteht, um seine Rechte an die Erde geltend zu machen, Er damit beginnt, sie zu richten und zu reinigen. Bei einigem Nachdenken aber werden wir verstehen, dass dies nicht anders sein kann. Denn da der Schauplatz, auf welchem Er seine Herrlichkeit und Gegenwart zu offenbaren im Begriff steht, sich verdorben hat, so muss Er zuerst das Ärgernis wegnehmen, weil seine Gegenwart keine Befleckung ertragen kann. Der Herrschaft Noahs über die Erde ging dementsprechend die Flut voraus, welche die Welt der Gottlosen beseitigte. Israels Besitz, von Kanaan unter Jehova, als dem Gott der ganzen Erde, wurde durch das Gericht der Amoriter und das Schwert Josuas vorbereitet. Und das zukünftige tausendjährige Königreich, während dessen die Erde wiederum den Schauplatz der göttlichen Herrlichkeit bilden wird, muss, wie die ganze Schrift uns lehrt, durch große, schreckliche Gerichte und durch die Erscheinung des Herrn in seiner richterlichen Majestät eingeleitet werden, d. h. durch eine Säuberung der Erde von allem, was Nebels tut und Ungerechtigkeit ausübt.

Die Berufung Gottes hat dagegen einen ganz anderen Charakter. Abraham war der Gegenstand dieser Berufung, und dementsprechend finden die Kanaaniter keinen Nebenbuhler in ihm. Er macht ihnen den Besitz des Landes nicht streitig; er findet sie als Herren desselben, und er lasst sie so. Er begehrt nur für eine Zeitlang in dem verheißenen Land sein Zelt aufzuschlagen und seinen Altar zu errichten, und später seine Gebeine darin niederzulegen.

Ebenso ist es mit der Kirche in der jetzigen Zeit. Sie ist gleichfalls ein Gegenstand der Berufung Gottes, und deshalb werden die Ungläubigen in ihrer Macht durch sie nicht im Geringsten beeinträchtigt. „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten“ (Röm 13,1). Die Heiligen haben ohne Widerrede zu gehorchen, oder geduldig zu leiden, je nachdem die an sie gestellten Forderungen mit ihrer Unterwerfung unter Christus und die Berufung Gottes vereinbar sind, oder nicht. Sie haben nicht zu streiten; Petrus musste sein Schwert einstecken, und Pilatus musste lernen, dass das Reich Jesu nicht von dieser Welt war und deshalb auch seine Diener nicht dafür kämpften. Ihr Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut; in demselben Augenblick, da sie diesen Kampf beginnen, sind sie verloren. Die Berufung Gottes hat seine Scharen den Fürstentümern und Gewalten in der Höhe gegenübergestellt, und der Kampf ist dort; sie verbindet uns nicht mit der Erde. Wir bedürfen der Frucht des Bodens und der Arbeit der Hände, um das für unseren Leib Nötige zu beschaffen; unsere Bedürfnisse verbinden uns also mit der Erde, aber unsere Berufung trennt uns von ihr. Josua betrat das Besitztum der Heiden, um es durch sein Schwert zum Besitztum des Herrn zu machen; Paulus dagegen ging zu den Heiden, um aus ihnen ein Volk für Gott zu sammeln, ein Volk, das verbunden ist mit dem verworfenen „Steine“, verachtet und verworfen von den Menschen.

Die Familie Sets stand gleichfalls unter dieser Berufung Gottes. Dies wurde ihnen durch den Befehl, das Blut Abels ungerächt zu lassen, zu verstehen gegeben, und sie verstanden diese Andeutung. Wenn die Erde in ihrer Befleckung gelassen wird, so ist das der Beweis, dass Gott sie nicht für sich begehrt; und deshalb begehrte jene Familie des Glaubens sie auch nicht. Kains Geschlecht war im Besitz der Erde, und Sets Familie ließ sie darin, ohne sie zu bekämpfen. Der Sinn Gottes in ihnen teilte ihnen diese Kenntnis des Weges Gottes mit. Obwohl sie, wie wir schon früher bemerkten, keine Vorschriften besaßen, so waren sie doch im Licht, wie Gott im Licht ist. Und so wie dem Abraham später nicht gesagt zu werden brauchte, dass er einen Altar und ein Zelt haben müsse, so wie er keine Vorschrift des Herrn darüber nötig hatte, in welcher Weise er die Heirat seines Sohnes ordnen, oder wie er dem König von Sodom antworten sollte, so verstanden auch diese Gläubigen in weit früheren Zeiten die Heiligkeit der Berufung Gottes und traten bei der Ankündigung der Befleckung der Erde ihre Reise nach einem himmlischen Land an.

Wie bewunderungswürdig ist die Wirksamkeit des Geistes Gottes in seinen auserwählten Gefäßen! Sie hörten im Geist das Wort, bevor die Stimme des Geistes es aussprach: „Macht euch auf und zieht hin, denn dieses Land ist der Ruheort nicht!“ (Mi 2,10) – „Sie riefen den Namen Jehovas an.“ Der Name des Herrn ist die Offenbarung, die Er über sich gibt, und den Namen Jehovas anrufen, deutet die Stellung des Heiligen und seinen geistlichen Dienst oder seine Anbetung Gottes an. „Und es wird geschehen, ein jeglicher, der den Namen Jehovas anrufen wird, wird errettet werden“ (Joel 2,32; Röm 10,13). „Dir will ich opfern Opfer des Dankes und anrufen den Namen Jehovas“ (Ps 116,17). Das war der Dienst jener ersten Gläubigen, ein Dienst in Glaube und Hoffnung, eine Anbetung im Geist; sie verehrten Gott, getrennt von der Welt, und warteten in Hoffnung. Kein Tempel, kein prunkvoller, fleischlicher Dienst, keine menschlichen Einrichtungen und Verordnungen waren vorhanden. In ihren Wegen und Gewohnheiten erscheinen sie als ein Volk, welches auf der Erde wandelt, bis ihre Leiber entweder in dieselbe gelegt, oder, wie bei Henoch, verwandelt und zum Himmel aufgenommen werden. Sie suchen keine Besitzungen und Städte; nichts wird uns gesagt von ihren Wohnorten und Beschäftigungen. Sie waren ohne Ort und Namen, die Erde kannte sie nicht. Sie sind die frühesten Zeugen einer himmlischen Fremdlingschaft.

Später ist ein solches Leben in anderen Heiligen, und zwar mehr in seinen schönen Einzelheiten, dargestellt worden, wie zum Beispiel in Isaak. Obwohl die Welt gegen ihn war, so stritt er doch nicht mit ihr, weder in der Tat, noch mit Worten; er antwortete nichts und setzte sich nicht zur Wehr. Die Philister fordern ihn auf, von ihnen zu gehen, und er geht auf ihr Geheiß. Sie verderben seine Arbeiten, und er lässt sie gewähren und trägt es in Geduld (1. Mo 26). So auch sein Vater Abraham. Nur ist es sehr betrübend zu sehen, dass es in diesem Fall ein Bruder ist, der den Platz der Welt einnimmt. Lot wählte, wie die Welt es getan haben würde, die wasserreiche Ebene. Abraham erträgt es geduldig, obgleich die undankbare und selbstsüchtige Handlungsweise eines Mannes, der mehr Einsicht hätte haben sollen und der Abraham alles verdankte, weit kränkender und verletzender war, als das Unrecht von Seiten eines Philisters (1. Mo 13).

Auch Israel nimmt in späteren Tagen die Beleidigung Edoms in demselben Geist hin. Sie beanspruchen den Durchzug durch das Land Edoms auf Grund ihrer Verwandtschaft, sie stellen ihnen ihre mannigfachen Beschwerden und Leiden vor, sowie ihre gegenwärtige Not als müde Pilger in einem wüsten Land. Aber Edom verachtet sie und droht ihnen. Sie bitten von neuem, aber wieder werden sie beleidigt, und sie erdulden es und schlagen einen anderen Weg ein (4. Mo 20). Und gerade so machte es der Herr in den Tagen seiner Pilgerschaft; Er ging nach einem anderen Dorf, als die Samariter sich weigerten, Ihn aufzunehmen (Lk 9). Wie köstlich ist es, den Herrn immer an der Spitze von allem Vortrefflichen zu sehen! Isaak leidet Unrecht von der Welt, Abraham von einem, der ihm alles verdankte; Israel leidet gleicherweise von seinen Verwandten, aber Jesus von solchen, denen Er diente, und die Er segnete, obgleich es Ihn alles kostete, von der Welt, die Er geschaffen, und von dem Volk, das Er erwählt hatte; und bei alledem setzt Er seine Pilgerreise in Liebe und unermüdlichem Dienst fort.

In demselben Geist verfolgte die Familie Sets in den Tagen vor der Flut ihren Pilgerpfad. Sie überließen die Welt Kain. Wir finden nicht das mindeste Anzeichen eines Streites, noch hören wir irgendwelchen Laut der Klage. In ihren Lebensgewohnheiten und den Grundsätzen ihrer Handlungsweise sind sie so verschieden von ihrem ungerechten Bruder, als ob sie von einem anderen Stamme oder in einer anderen Welt wären. Kains Familie macht gleichsam die ganze Weltgeschichte: sie bauen Städte, sie befördern die Künste, sie treiben Handel, sie erfinden Vergnügungen und Zeitvertreib. Aber in diesem allen wird die Familie Sets nicht gesehen. Die Einen nennen ihre Städte nach ihren eignen Namen, die Anderen nennen sich selbst nach dem Namen Gottes. Die Einen tun alles Mögliche, die Welt zu ihrem und nicht zu des Herrn Eigentum zu machen, die Anderen geben sich selbst dem Herrn hin. Kain schreibt seinen eignen Namen auf die Erde, Set schreibt des Herrn Namen auf sich selbst.

Wir haben alle Ursache, dem Herrn dankbar zu sein für diese Schilderung einer himmlischen Fremdlingschaft hienieden und Ihn um die Gnade zu bitten, etwas von ihrer lebendigen Kraft in unseren Seelen zu verspüren. Wohl uns, wenn die Triebe unseres erneuerten Sinnes uns auf demselben himmlischen Pfad mit der gleichen Sicherheit und Klarheit leiten! Die Berufung Gottes stellt uns auf diesen Pfad, und alle seine Unterweisungen fordern ihn von uns. Die Zerstreuungen und Vergnügungen der Kinder Kains waren nichts für solche Pilger; die Erde gewährte ihnen keine Befriedigung. Sie begehrten das sie umgebende Land nicht, sondern suchten ein besseres, das ist ein himmlisches. 1 Es kann deshalb mit allem Recht von ihnen gesagt werden, dass sie das gerade Gegenteil von dem Weg Kains bildeten, und dass sie den Weg Gottes verstanden.

So möchte der Herr auch uns haben, Geliebte – in der Welt, aber nicht von ihr; vom Himmel, obgleich bis jetzt noch nicht in ihm. Paulus wünschte die Gläubigen als solche zu sehen, „deren Wandel in den Himmeln ist“, Petrus als „Fremdlinge und ohne Bürgerschaft, sich enthaltend von den fleischlichen Lüsten, die wider die Seele streiten“; Jakobus sagt uns, dass „die Freundschaft der Welt Feindschaft ist gegen Gott“, und Johannes, dass „wir aus Gott sind und die ganze Welt in dem Bösen liegt.“

Sicher geziemt es sich für die Kirche, in dieser Absonderung zu wandeln. Nichts anders als das entspricht der Berufung Gottes, und ist den himmlischen Hoffnungen angemessen. Wir atmen allerdings nur schwach und leuchten nur matt im Vergleich mit jenen treuen Zeugen. Welch einem Zustand der Seele begegnen wir z. B. in einem Kapitel, wie Philipper 4! Welche Tiefe, welch eine innige, feurige Hingebung! Welch eine außerordentliche Erhabenheit in allen Lagen und inmitten aller Umstände und Schwierigkeiten! Ach, leider sind die Worte des Apostels für uns fast dasselbe, als wenn wir die Sprache eines anderen Landes hörten, oder als wenn Reisende uns von der Glut und Pracht eines anderen Himmels und Klimas erzählten.

Möge der Herr uns mehr und mehr trennen von der Welt und von allem, was in ihr ist, und uns Gnade schenken, als solche dazustehen, deren Wandel in den Himmeln ist! Möchten wir in Wahrheit singen können: Dank dir, o Herr, dass Gold und Schätze

Und Pracht und Schönheit dieser Welt,

Dass kein Ding je mich kann ergötzen,

Das mir die Welt vor Augen stellt! Mein Jesus, du bist meine Freude,

Mein Gold, mein Schatz, mein schönstes Bild;

Nu du bist meine Lust und Weide,

Und was mein Herz für ewig stillt (Schluss folgt).

Fußnoten

  • 1 Ich betrachte hier die Familie Sets nur nach dem, was wir in 1. Mose 5 von ihr hören. Ohne Zweifel haben sich auch hier, wie bei jeder anderen Probe des Menschen, Mängel und Verderben gezeigt; aber ich rede nur von ihrer Stellung und ihrem Zeugnis, wie wir es hier finden. Söhne und Töchter wurden ihnen geboren, ein Geschlecht folgte dem anderen, und ich zweifle nicht, dass auch unter ihnen der Same des Abfalls gesät wurde und Früchte hervorbrachte; aber dies beeinträchtigt keineswegs die Unterweisung, die uns dieses Kapitel gibt.
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